VwGH vom 20.05.2015, 2013/11/0200

VwGH vom 20.05.2015, 2013/11/0200

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Waldstätten und die Hofräte Dr. Schick und Mag. Samm als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Krawarik, über die Beschwerde des W S in L, vertreten durch Dr. Guido Lepeska, Rechtsanwalt in 5020 Salzburg, Sterneckstraße 37, gegen den Bescheid der Bundesberufungskommission für Sozialentschädigungs- und Behindertenangelegenheiten beim Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz vom , Zl. 41.550/108- 9/13, betreffend Zugehörigkeit zum Kreis der begünstigten Behinderten, zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf Feststellung seiner Zugehörigkeit zum Personenkreis der begünstigten Behinderten gemäß §§ 2 Abs. 1, 3, 14 Abs. 1 und 2 des Behinderteneinstellungsgesetzes (BEinstG) ab.

In der Begründung legte die belangte Behörde dar, dass in dem von ihr eingeholten ärztlichen Sachverständigengutachten des Dr. S (Facharzt für Orthopädie- und orthopädische Chirurgie) vom folgende Gesundheitsschädigungen des Beschwerdeführers festgestellt worden seien:


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"Lfd.Nr.
Art der Gesundheitsschädigung
Position in den Richtsätzen
Grad der Behinderung
1.
Lendenwirbelsäulenbeschwerden bei degenerativen Veränderungen, kleiner Bandscheibenvorfall L5/S1, gute Funktion, geringer Reizzustand, kein motorisches Defizit Oberer Rahmensatz, da gering ausgeprägte degenerative Veränderungen der Lendenwirbelsäule mit einem geringen Reizzustand und guter Funktion bestehen.
20 vH
2.
belastungsabhängige Handgelenks- schmerzen rechts bei Knorpelschäden im Sinne einer beginnenden Arthrose, gute Beweglichkeit, geringer Reizzustand Fixe Position. Es besteht eine geringfügige Funktionseinschränkung des rechten Handgelenkes im Sinne einer Minderbelastbarkeit bei bekannten Knorpelschäden.
20 vH
Gesamt
30 vH"

Der Gesamtgrad der Behinderung betrage 30 vH. Das führende Leiden unter Punkt 1 werde durch die Gesundheitsschädigung unter Punkt 2 wegen gegenseitiger negativer Beeinflussung um eine Stufe gesteigert.

Der Sachverständige hätte weiter ausgeführt, dass die angegebenen Beschwerden beider Kniegelenke (normale klinische Funktion ohne objektivierbare Reizzeichen) keinen Krankheitswert hätten bzw. keine sechs Monate überschreitende Behinderung bedingten.

Dem Beschwerdeführer sei dieses Gutachten im Rahmen des Parteiengehörs zur Kenntnis gebracht worden; er habe daraufhin in seiner Stellungnahme (vom ) eingewendet, dass bei ihm ein Meniskusschaden am linken Knie festgestellt und eine Operation für den vereinbart worden sei; deren Ausgang möge abgewartet werden. Er habe zwei neue Befunde nachgereicht.

Dazu habe der medizinische Sachverständige Dr. L in seiner Stellungnahme vom Folgendes ausgeführt:

"Der Befundbericht des KH W vom berichtet von einer komplikationslos verlaufenden Meniskusoperation des linken Kniegelenkes - daher bedingt dieser Befund keine Änderung oder Erweiterung der bisherigen Beurteilung - im Befund wird ein freies Bewegungsausmaß beschrieben.

Der Befund Dr. W vom beschreibt keine separat einzuschätzenden neuropsychiatrischen Gesundheitsschädigungen. Die Schmerzen im Stütz- und Bewegungsapparat sind in der Beurteilung des Sachverständigengutachtens von Dr. Sch unter den Punkten 1 und 2 mitberücksichtigt."

Nach einer Darlegung der maßgebenden Bestimmungen des BEinstG führte die belangte Behörde aus, das von ihr eingeholte ärztliche Sachverständigengutachten vom und die medizinische Stellungnahme vom seien schlüssig, nachvollziehbar und widerspruchsfrei. Es sei darin auf die Art der Leiden und deren Ausmaß ausführlich eingegangen worden und entsprächen die getroffenen Einschätzungen, basierend auf dem im Rahmen persönlicher Untersuchungen erhobenen klinischen Befund, den festgestellten Funktionseinschränkungen. Die im Rahmen des Parteiengehörs vorgelegten Befunde stünden nicht im Widerspruch zu den getroffenen Feststellungen; die erhobenen Einwände seien nicht geeignet, das Ergebnis der Beweisaufnahme zu entkräften oder "eine Erweiterung der Beweisaufnahme herbeizuführen". Die Angaben des Berufungswerbers hätten "nicht über den erstellten Befund hinaus objektiviert" werden können.

Da lediglich ein Grad der Behinderung von 30 vH festgestellt worden sei und somit die Voraussetzungen des § 2 Abs. 1 BEinstG nicht vorlägen, sei der Antrag abzuweisen gewesen.

Über die gegen diesen Bescheid gerichtete Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Akten des Verwaltungsverfahrens und

Erstattung einer Gegenschrift durch die belangte Behörde in dem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

1. Da die vorliegende Beschwerde mit Ablauf des beim Verwaltungsgerichtshof bereits anhängig war, sind gemäß § 79 Abs. 11 letzter Satz VwGG darauf die bis zum Ablauf des geltenden Bestimmungen weiter anzuwenden.

2. Hinsichtlich der maßgebenden Rechtslage und der Anforderungen an die Begründung einer Entscheidung über die Feststellung des Gesamtgrades der Behinderung wird gemäß § 43 Abs. 2 VwGG auf die hg. Erkenntnisse vom , Zl. 2010/11/0163, und vom , Zl. 2012/11/0009, jeweils mwN, verwiesen.

Daraus ist hervorzuheben, dass die Gesamteinschätzung mehrerer Leidenszustände nicht im Wege der Addition der auf den Richtsatzpositionen sich ergebenden Hundertsätze zu erfolgen hat, vielmehr ist bei Zusammentreffen mehrerer Leiden zunächst von der Gesundheitsschädigung auszugehen, die die höchste Minderung der Erwerbsfähigkeit verursacht, und dann zu prüfen, ob und inwieweit durch das Zusammenwirken aller zu berücksichtigenden Gesundheitsschädigungen eine höhere Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit gerechtfertigt ist, wobei die Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigung auf die Erwerbsfähigkeit im Vordergrund zu stehen haben. Bei dieser Beurteilung hat sich die Behörde eines oder mehrerer Sachverständige zu bedienen (§ 14 Abs. 2 BEinstG), wobei es dem Antragsteller freisteht, zu versuchen, das im Auftrag der Behörde erstellte Gutachten durch die Beibringung eines Gegengutachtens eines Sachverständigen seiner Wahl zu entkräften; dies setzt freilich voraus, dass ihm die Behörde dazu Gelegenheit gibt, ihm also das Gutachten - in Wahrung des Parteiengehörs - zustellt und die Möglichkeit zur Stellungnahme einräumt.

3. Die Beschwerde rügt im Wesentlichen, dass die belangte Behörde es unterlassen habe, dem Beschwerdeführer die Stellungnahme Dris. L vom zur Kenntnis zu bringen und ihm Gelegenheit zu geben, dazu eine Äußerung abzugeben. Bei Vermeidung dieses Verfahrensmangels hätte der Beschwerdeführer darlegen können, dass Dr. L die vom Beschwerdeführer ergänzend vorgelegten Befunde, insbesondere den Befund des Dr. W vom , nicht vollständig und abschließend beurteilt habe. Der genannte Befund Dris. W enthalte nämlich eine Zusammenstellung sämtlicher beim Beschwerdeführer vorliegender Gesundheitsbeeinträchtigungen, die bei Beurteilung des Grades der Behinderung zu berücksichtigen seien; der Beschwerdeführer weise demnach (abgesehen von den von der belangten Behörde bereits festgestellten) folgende Beeinträchtigungen auf:

"Riss des Legamentes zwischen Kahnbein und Mondbein rechte Hand; chronischer Tinnitus links bei Zustand nach Hörsturz links 2007; Zustand nach einer peripheren Facialisparese rechts; rezidivierende Gastritis; Restless-leg Syndrom; Zustand nach Rippenfraktur Mai 2013; vegetativ affektives Reizsyndrom samt rezidivierenden depressiven Verstimmungszuständen".

Der Beschwerdeführer hätte, wäre ihm das erforderliche Parteiengehör eingeräumt worden, weiter darauf hinweisen können, dass er nunmehr auch an erheblichen Beschwerden im rechten Kniegelenk leide, und dass auch dort eine (neuerliche) Operation anstehe. Weiters hätte er darlegen können, dass es sich bei dem bei ihm vorliegenden Restless-leg Syndrom um eine - ebenfalls bislang nicht berücksichtigte - neurologische Erkrankung handle. Bei Berücksichtigung dieser weiteren Faktoren wäre die belangte Behörde zum Ergebnis gelangt, dass ein Grad der Behinderung von mehr als 50 % vorliege und der Beschwerdeführer dem Kreis der begünstigt Behinderten angehöre.

4. Dieses Vorbringen ist im Ergebnis zielführend.

4.1. Auch bei der Stellungnahme Dris. L vom handelt es sich um ein Sachverständigengutachten, das - zumal es von der belangten Behörde ihrer Entscheidung zugrunde gelegt wurde - dem Parteiengehör zu unterziehen gewesen wäre (vgl. das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2009/11/0111). Daran ändert nichts, dass diese Stellungnahme nach Auffassung der belangten Behörde das zuvor eingeholte Sachverständigengutachten Dris. S bloß bestätigt habe.

4.2. Das genannte Gutachten Dris. W vom nennt in der Anamnese (ua) einen stationären Aufenthalt des Beschwerdeführers an der HNO Abteilung des Krankenhauses Wels vom 22. Juni bis wegen "Tinnitus li, Zustand nach Knalltrauma li", weiters einen stationären Aufenthalt im Oktober 2012 nach der Diagnose "periphere Facialisparese re." und ein "Restless-legs Syndrom". In der "Zusammenfassung und Beurteilung" wird (ua) "ein chron. Tinnitus li. bei Zustand n. Hörsturz li. 2007", ein "Zustand n. einer peripheren Facialis Parese re.", ein "veg. affekt. Reizsyndrom", "rez. depr. Verstimmungszustände", eine "rez. Gastritis", eine "Restless-legs Symptomatik" und ein "Zustand nach Rippenfraktur Mai 2013" beschrieben.

5. Vor diesem Hintergrund kann nicht ausgeschlossen werden, dass die belangte Behörde bei Vermeidung des dargestellten Verfahrensmangels zu einem anderen, für den Beschwerdeführer günstigeren Ergebnis gelangt wäre.

Im fortgesetzten Verfahren wird also - tunlichst im Rahmen einer mündlichen Verhandlung (vgl. das hg. Erkenntnis vom , Zl. Ra 2015/11/0004) - eine Ergänzung der Sachverständigengutachten vorzunehmen sein.

Der angefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandsersatzverordnung 2008.

Wien, am