VwGH vom 04.11.2008, 2008/22/0044
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Heinzl und die Hofräte Dr. Robl und Mag. Eder, die Hofrätin Mag. Merl und den Hofrat Dr. Lukasser als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Perauer, über die Beschwerde des MB in W, geboren am , vertreten durch Dr. Peter Zawodsky, Rechtsanwalt in 1060 Wien, Gumpendorfer Straße 71/10, gegen den Bescheid der Bundesministerin für Inneres vom , Zl. 143.895/3-III/4/06, betreffend Niederlassungsbewilligung, zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.171,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid wurde der Antrag des Beschwerdeführers, eines türkischen Staatsangehörigen, auf Erteilung einer Erstniederlassungsbewilligung gemäß § 21 Abs. 1 und Abs. 2 Niederlassungs-und Aufenthaltsgesetz - NAG abgewiesen.
Begründend führte die belangte Behörde aus, der Beschwerdeführer sei am "auf illegaler Basis" in das Bundesgebiet eingereist. Er habe am einen Asylantrag gestellt. In der Zeit vom bis sei er im Besitz einer vorläufigen Aufenthaltsberechtigung "gemäß Asylgesetz" gewesen. Am habe er seinen Asylantrag zurückgezogen.
Ein am gestellter Antrag auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung für den Zweck der unselbständigen Erwerbstätigkeit sei mit Bescheid vom gemäß § 28 Abs. 5 Fremdengesetz 1997 (FrG) abgewiesen worden.
Am habe er mit der österreichischen Staatsbürgerin Cornelia J die Ehe geschlossen und daraufhin am einen Antrag auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung gestellt. Die Ehe sei allerdings bereits mit Beschluss vom , rechtskräftig seit , geschieden worden. Auf Grund der Angaben des Beschwerdeführers, wonach er im Besitz eines arbeitsmarktrechtlichen Dokumentes sei und einer unselbständigen Tätigkeit nachgehe, sei sein Antrag nunmehr als solcher auf Erteilung "für den Aufenthaltstitel 'Niederlassungsbewilligung - Schlüsselkraft' zu werten" gewesen.
Zwar sei der Beschwerdeführer auf Grund seiner Ehe mit einer österreichischen Staatsbürgerin dazumal berechtigt gewesen, den Antrag im Inland zu stellen, jedoch hätte er die Entscheidung über diesen Antrag ab dem Zeitpunkt der Rechtskraft der Ehescheidung () nicht im Bundesgebiet abwarten dürfen. Er sei aber weiterhin in Österreich verblieben.
Eine Beurteilung im Sinne des § 72 NAG über das Vorliegen humanitärer Gründe sei durchgeführt worden. Die "Asylgründe bzw. ihre Begründung betreffend möglicher Verfolgung in ihrem Heimatland" seien von der Asylbehörde bereits umfassend geprüft und als nicht ausreichend beurteilt worden. Eine weitere Überprüfung sei im gegenständlichen Verfahren nicht erforderlich gewesen, zumal der Beschwerdeführer seinen Asylantrag am nach Behebung des zuletzt ergangenen Asylbescheides durch den Verwaltungsgerichtshof "aus eigenem Willen" zurückgezogen habe. Ein humanitärer Grund könne auch nicht im langjährigen Aufenthalt "im Status eines Asylwerbers vom bis " erblickt werden. Darin liege weder eine "bereits erfolgte Niederlassung noch eine tatsächliche Integration". Das Fehlen von Anknüpfungspunkten im Heimatland und die Integration in Österreich seien von vornherein nicht geeignet, einen Grund im Sinne des § 72 NAG aufzuzeigen. Zu seinen in Österreich lebenden Geschwistern habe der Beschwerdeführer "den Verwandtschaftsgrad mit namentlich angeführten Verwandten nicht dokumentiert". Zudem seien diese Verwandten nicht zur Kernfamilie zu rechnen, weshalb durch die Anwesenheit der Geschwister im Inland auch "kein tatsächlich familiärer oder sozialer besonders berücksichtigungswürdiger humanitärer Grund" vorliege. Der bloße Besitz eines arbeitsmarktrechtlichen Dokuments und infolge dessen auch die tatsächliche Berufstätigkeit stelle für sich alleine keinen humanitären Aspekt dar. Die Inlandsantragstellung werde gemäß § 74 NAG nicht zugelassen, weshalb der Beschwerdeführer den Abschluss des Verfahrens im Ausland hätte abwarten müssen.
Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde nach Vorlage der Akten durch die belangte Behörde erwogen:
Gemäß § 81 Abs. 1 NAG sind Verfahren auf Erteilung von Aufenthalts- und Niederlassungsberechtigungen, die bei Inkrafttreten dieses Bundesgesetzes () anhängig sind, nach den Bestimmungen dieses Bundesgesetzes zu Ende zu führen.
§ 21 Abs. 1 NAG sieht vor, dass Erstanträge vor der Einreise in das Bundesgebiet bei der örtlich zuständigen Berufsvertretungsbehörde im Ausland einzubringen sind. Die Entscheidung ist im Ausland abzuwarten.
Unbestritten ist im gegenständlichen Fall, dass es sich beim vom Beschwerdeführer gestellten Antrag um einen Erstantrag auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung handelt, er diesen (noch während der Geltung des am außer Kraft getretenen FrG) im Inland eingebracht und die Erledigung des Antrages im Inland abgewartet hat.
Der Beschwerdeführer stellt auch nicht in Abrede, dass die Entscheidung über seinen Antrag - im Hinblick auf den Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides - nach den Bestimmungen des NAG vorzunehmen war (§ 81 Abs. 1 NAG).
Der Beschwerdeführer bringt allerdings vor, er sei berechtigt gewesen, die Entscheidung über seinen Antrag im Inland abzuwarten, weil er wegen seiner damaligen Ehe mit einer österreichischen Staatsbürgerin "zur Gruppe gemäß § 21 Abs. 2 Z 1 NAG von 'Familienangehörigen von Österreichern', die zur Antragstellung im Inland berechtigt sind" gehöre.
Gemäß § 21 Abs. 2 Z 1 NAG sind abweichend von § 21 Abs. 1 NAG Familienangehörige von Österreichern, EWR-Bürgern und Schweizer Bürgern, die in Österreich dauernd wohnhaft sind und denen das Recht auf Freizügigkeit nicht zukommt, nach rechtmäßiger Einreise und während ihres rechtmäßigen Aufenthalts zur Antragstellung im Inland berechtigt. Eine Antragstellung nach § 21 Abs. 2 Z 1 NAG schafft allerdings kein über den erlaubten sichtvermerksfreien Aufenthalt hinausgehendes Bleiberecht (§ 21 Abs. 4 NAG). Im gegenständlichen Fall kann nun dahingestellt bleiben, ob der Antrag des Beschwerdeführers zulässigerweise im Inland eingebracht wurde. Die belangte Behörde warf ihm nämlich lediglich vor, nach Rechtskraft der Ehescheidung nicht ausgereist zu sein und entgegen § 21 Abs. 1 letzter Satz NAG die Entscheidung im Inland abgewartet zu haben. Diese Beurteilung begegnet - im Hinblick auf den im Entscheidungszeitpunkt unrechtmäßigen Aufenthalt des Beschwerdeführers - keinen Bedenken.
Das Recht, die Entscheidung über den gegenständlichen Antrag im Inland abwarten zu dürfen, kommt daher im vorliegenden Fall nur gemäß § 74 NAG in Betracht. Liegen die Voraussetzungen des § 72 NAG vor, ist ungeachtet des Wortlautes des Gesetzes ("kann") die in § 74 NAG ausnahmsweise vorgesehene Antragstellung im Inland zuzulassen, wobei diese Zulassung im Rechtsweg erzwungen werden kann (vgl. das hg. Erkenntnis vom , 2008/22/0264, mH auf das Erkenntnis des ua.).
§ 72 NAG stellt auf mit besonderen Gefährdungen bzw. Notlagen verbundene Lebensumstände eines Fremden ab, die dazu Anlass geben, diesem aus humanitären Gründen eine Aufenthaltserlaubnis zukommen zu lassen. Weiters liegen besonders berücksichtigungswürdige Fälle im Sinn dieser Bestimmung dann vor, wenn - ausnahmsweise - ein aus Art. 8 EMRK direkt abzuleitender Anspruch besteht (vgl. neuerlich das bereits erwähnte hg. Erkenntnis vom ).
Der Beschwerdeführer bringt dazu - mit Blick auf Art. 3 EMRK -
vor, er habe asylrelevante Verfolgung geltend gemacht. Ihm ist darin Recht zu geben, dass sich die belangte Behörde bei ihrer Prüfung mangels Vorliegens einer rechtskräftigen Entscheidung im Asylverfahren nicht auf die Ergebnisse des Asylverfahrens im ersten Rechtsgang zurückziehen hätte dürfen. Im Ergebnis kann daraus aber keine relevante Rechtsverletzung resultieren, weil der Beschwerdeführer im Verwaltungsverfahren (und auch in seiner an den Verwaltungsgerichtshof gerichteten Beschwerde) nicht darlegte, aus welchen Gründen er in seinem Heimatland Verfolgung zu befürchten hätte, die die Erteilung einer Niederlassungsbewilligung aus humanitären Gründen rechtfertigen würde. Infolge Fehlens jeglicher Konkretisierung jener Umstände, aus denen der Beschwerdeführer seine Gefährdung oder Bedrohung ableitet, kann letztlich die Ansicht der belangten Behörde, eine solche könne nicht festgestellt werden, nicht als rechtswidrig erkannt werden. Die Ausführungen des Beschwerdeführers, seine Verfolgung sei notorisch, vermag der Verwaltungsgerichtshof nicht nachzuvollziehen.
Zu Recht rügt allerdings der Beschwerdeführer, dass ihm von der belangten Behörde eine "tatsächliche Integration" abgesprochen und deren Relevanz verneint worden sei.
Die EMRK garantiert Ausländern grundsätzlich kein Recht auf Einreise, Einbürgerung und Aufenthalt in einem bestimmten Staat. Unter dem Gesichtspunkt einer effektiven Achtung des Familien- und Privatlebens können die Mitgliedstaaten allerdings dazu verpflichtet sein, Einschränkungen in ihrer Gestaltungsfreiheit in der Regelung des Einwanderungs- und Aufenthaltsrechts hinzunehmen und eine Einreise oder einen Aufenthalt zu gewähren. Zur Bestimmung des Umfangs der staatlichen Verpflichtung ist eine Betrachtung der Umstände des Einzelfalls erforderlich (vgl. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention3, S 214). Der Begriff der Familie im Sinne des Art. 8 EMRK umfasst grundsätzlich auch Beziehungen zumindest zwischen nahen Verwandten, z.B. die Beziehung von Erwachsenen zu ihren Eltern oder den Geschwistern, Beziehungen zwischen Großeltern und Enkeln oder Onkeln und Neffen. Hier kann es allerdings erforderlich sein, die tatsächlich bestehenden Bindungen daraufhin zu untersuchen, ob sie hinreichend intensiv für die Annahme einer familiären Beziehung im Sinne von Art. 8 EMRK sind. So verlangt der EGMR diesbezüglich das Vorliegen besonderer Elemente der Abhängigkeit, die über die übliche emotionale Bindung hinausgeht (Grabenwarter, aaO, S 199). In seinem Urteil vom , Üner gg. Niederlande (NL 2006, S 251), hielt der EGMR darüber hinaus fest, dass nicht alle Einwanderer ein Familienleben genießen würden, jedoch müsse anerkannt werden, dass die Gesamtheit der sozialen Bindungen zwischen niedergelassenen Fremden und der Gemeinschaft in der sie leben, Teil des Konzepts des Privatlebens im Sinne von Art. 8 EMRK sind.
Die belangte Behörde prüfte zwar im Sinne des Vorgesagten das Bestehen eines aus Art. 8 EMRK ableitbaren Anspruches. Jedoch bewertete sie in Verkennung der Rechtslage jeden vom Beschwerdeführer geltend gemachten Umstand für sich allein, um anschließend im Rahmen dieser isolierten Betrachtung das Vorliegen besonderer Berücksichtigungswürdigkeit iSd § 72 Abs. 1 NAG zu verneinen. Bei der Abwägung der zu Gunsten und zu Lasten eines betroffenen Fremden sprechenden Umstände ist aber eine Gesamtbetrachtung erforderlich (vgl. dazu die - Ausweisungen betreffende, aber auch für die hier vorzunehmende Interessenabwägung relevante - Zusammenfassung der Judikatur des EGMR in den Erkenntnissen des Verfassungsgerichtshofes vom , B 328/07, sowie B 1150/07).
Der Verwaltungsgerichtshof vermag sich nun der Beurteilung der belangten Behörde im Rahmen der Gesamtbetrachtung aller vom Beschwerdeführer geltend gemachter (von der belangten Behörde nicht bestrittener) sozialer Bindungen nicht anzuschließen, jener könne keinen aus Art. 8 EMRK ableitbaren Anspruch auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung geltend machen. Der Beschwerdeführer war im Zeitpunkt der Entscheidung der belangten Behörde seit mehr als zehn Jahren im Bundesgebiet aufhältig. Er stand die längste Zeit seines Aufenthalts in aufrechter Beschäftigung, wobei diesbezüglich auch arbeitsmarktrechtliche Dokumente vorlagen. Zuletzt wurde ihm ein Befreiungsschein ausgestellt. Darüber hinaus leben Geschwister des Beschwerdeführers im Bundesgebiet. Die Intensität der Beziehungen wurde von der belangten Behörde, offenbar weil sie davon ausging, diese würde nicht relevant sein, zwar nicht festgestellt, das Bestehen familiärer Bande aber auch nicht verneint. Diesen zugunsten des Beschwerdeführers zu wertenden Umständen steht im vorliegenden Fall lediglich der über lange Zeit auf die Anhängigkeit eines Asylverfahrens gegründete - unsichere - Aufenthaltsstatus des Beschwerdeführers gegenüber, dem aber bei der gebotenen Gesamtbetrachtung keine ausschlaggebende Bedeutung, die bei der Abwägung zu einem anderen Ergebnis führen könnte, mehr zuzumessen ist.
Vor diesem Hintergrund kann fallbezogen nicht davon ausgegangen werden, besondere Berücksichtigungswürdigkeit im Sinne des § 72 Abs. 1 NAG sei nicht gegeben. Dann aber wäre die Inlandsantragstellung gemäß § 74 NAG von Amts wegen zuzulassen, weshalb die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers nicht nach § 21 Abs. 1 und Abs. 2 NAG hätte abweisen dürfen.
Sohin war der angefochtene Bescheid wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003.
Wien, am