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VwGH vom 19.05.2011, 2008/21/0619

VwGH vom 19.05.2011, 2008/21/0619

Beachte

Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung

verbunden):

2008/21/0620

2008/21/0622

2008/21/0621

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Novak und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Senft, über die Beschwerden von 1. L, 2. F, 3. M und 4. D, alle vertreten durch Mag. Thomas di Vora, Rechtsanwalt in 9020 Klagenfurt, Lendgasse 3, gegen die Bescheide der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Kärnten je vom , Zlen. 2Fr-170-1/07 (ad 1.), 2Fr-169- 1/07 (ad 2.), 2Fr-168-1/07 (ad 3.) und 2Fr-167-1/07 (ad 4.), jeweils betreffend Ausweisung, zu Recht erkannt:

Spruch

Die angefochtenen Bescheide werden wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat den Beschwerdeführern Aufwendungen in der Höhe von EUR 2.069,44 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Die Erstbeschwerdeführerin, der Zweitbeschwerdeführer und die Drittbeschwerdeführerin (im Folgenden: Kinder) sind die Kinder der Viertbeschwerdeführerin (im Folgenden: Mutter) und des mit ihr verheirateten N. Die Familie stammt aus dem Kosovo. N. reiste am in das Bundesgebiet ein und beantragte am gleichen Tag die Gewährung von Asyl. Dieser Antrag wurde zwar zunächst negativ beschieden, mit Erkenntnis vom , Zl. 99/01/0017, hob der Verwaltungsgerichtshof den Berufungsbescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom jedoch wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften auf. Die sodann wieder unerledigte asylrechtliche Berufung zog N. am zurück. Vorangegangen war dem ein Antrag auf Erteilung einer Erstniederlassungsbewilligung "aus humanitären Gründen" gemäß den §§ 10 Abs. 4, 14 Abs. 2 und 19 Abs. 2 Z 6 des Fremdengesetzes 1997, der jedoch letztlich mit Bescheid der Bundesministerin für Inneres vom abgewiesen wurde (vgl. dazu das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2006/21/0073).

Die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer reisten gemeinsam mit ihrer Mutter, der Viertbeschwerdeführerin, am nach Österreich ein und stellten, bezogen auf N., einen Asylerstreckungsantrag. Dieser wurde abgewiesen. Nach Ergehen des zuvor genannten Erkenntnisses Zl. 99/01/0017 stellten die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer neuerlich Asylerstreckungsanträge, mittlerweile hatte auch die am in Österreich geborene Drittbeschwerdeführerin einen derartigen Antrag gestellt. Alle diese Anträge wurden letztlich mit im Instanzenzug ergangenen Bescheiden des unabhängigen Bundesasylsenates vom abgewiesen.

In der Folge wies die Bezirkshauptmannschaft Wolfsberg die Beschwerdeführer gemäß § 53 Abs. 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 - FPG aus dem Bundesgebiet aus. In den dagegen erhobenen Berufungen wurde insbesondere auf den Schulbesuch der Kinder hingewiesen und vorgebracht, dass alle Beschwerdeführer in Österreich vollkommen integriert und "der österreichischen Sprache" mächtig seien und dass sie ihren Lebensmittelpunkt in Österreich hätten. Außerdem wurde vorgebracht, dass der Vater bzw. Ehemann N. bereits seit erstmaliger Erteilung einer Arbeitserlaubnis bei einem näher genannten Unternehmen beschäftigt sei, dabei ein Einkommen zwischen EUR 1.250,-- und EUR 1.500,-- ins Verdienen bringe und über einen am ausgestellten Befreiungsschein mit fünfjähriger Gültigkeitsdauer verfüge. Zudem wurde auf die geordneten Wohnverhältnisse der Beschwerdeführer hingewiesen.

Mit den nunmehr angefochtenen Bescheiden je vom gab die Sicherheitsdirektion für das Bundesland Kärnten (die belangte Behörde) diesen Berufungen keine Folge. Das begründete die belangte Behörde im Wesentlichen gleichlautend damit, dass sich, jeweils nach Abschluss ihrer Asylverfahren, die Kinder seit und die Mutter seit unrechtmäßig im Bundesgebiet aufhielten, weshalb die erstinstanzliche Ausweisung zu Recht ergangen sei. Auch gegen N. sei am ein Ausweisungsverfahren eingeleitet worden. Das von den Beschwerdeführern vorgebrachte Interesse an einem Verbleib im Bundesgebiet sei zwar durchaus gewichtig, es sei aber keineswegs so stark ausgeprägt, dass das maßgebliche gegenläufige Interesse in den Hintergrund zu treten hätte. Die öffentliche Ordnung werde nämlich schwerwiegend beeinträchtigt, wenn einwanderungswillige Fremde, ohne das betreffende Verfahren abzuwarten, sich unerlaubt nach Österreich begäben bzw. in Österreich aufhielten, um damit die österreichischen Behörden vor vollendete Tatsachen zu stellen. Die Ausweisung sei in solchen Fällen erforderlich, um jenen Zustand herzustellen, der bestünde, wenn sich der Fremde gesetzestreu verhalten hätte. Die Ausweisung der Beschwerdeführer sei daher gemäß § 66 Abs. 1 FPG zur Erreichung der in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten. Es liefe dem öffentlichen Interesse an der Aufrechterhaltung eines geordneten Fremdenwesens grob entgegen, wenn ein Fremder bloß auf Grund von Tatsachen, die von ihm geschaffen worden seien, während er rechtens nicht mit einem längeren Aufenthalt in Österreich hätte rechnen dürfen, den tatsächlichen, jedoch unrechtmäßigen Aufenthalt im Bundesgebiet auf Dauer erzwingen könnte. Was "die Schutzbestimmungen" betreffe - so die belangte Behörde weiter -, sei auszuführen, dass auf Grund des langjährigen, aber lediglich vorläufigen bzw. geduldeten Aufenthaltes in Österreich zwar eine hohe Integration der Beschwerdeführer bestehe und "sicherlich" in ihr Privat- und Familienleben eingegriffen werde; dieser Eingriff werde jedoch dadurch relativiert, dass die gesamte Familie Österreich verlassen müsse. Trotz des erwähnten Eingriffs müssten die privaten Interessen der Beschwerdeführer hinter den hoch zu veranschlagenden öffentlichen Interessen zurückstehen. An ihrem unrechtmäßigen Aufenthalt im Bundesgebiet könne (nämlich) "keine Behörde vorübersehen" und es bestehe auch keine Möglichkeit, einen unberechtigten Aufenthalt vom Inland aus zu legalisieren.

Die Beschwerdeführer erhoben Beschwerden an den Verfassungsgerichtshof. Dieser lehnte mit Beschluss vom , B 1357-1360/07-8, deren Behandlung ab und trat sie dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung ab. Der Verwaltungsgerichtshof hat über die sodann ergänzten Beschwerden nach Aktenvorlage durch die belangte Behörde erwogen:

Die Beschwerdeführer halten sich unstrittig unrechtmäßig in Österreich auf. Der Ausweisungstatbestand des § 53 Abs. 1 FPG ist daher erfüllt.

Würde durch eine Ausweisung in das Privat- oder Familienleben eines Fremden eingegriffen, so ist sie gemäß § 66 Abs. 1 FPG aber nur dann zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist. Bei Beurteilung dieser Frage ist eine gewichtende Gegenüberstellung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit dem persönlichen Interesse des Fremden an einem weiteren Verbleib in Österreich vorzunehmen. Dieses Interesse nimmt grundsätzlich mit der Dauer des bisherigen Aufenthalts des Fremden zu. Die bloße Aufenthaltsdauer ist freilich nicht allein maßgeblich, sondern es ist anhand der jeweiligen Umstände des Einzelfalles vor allem zu prüfen, inwieweit der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit dazu genützt hat, sich sozial und beruflich zu integrieren. Bei der Einschätzung des besagten persönlichen Interesses ist aber auch auf die Auswirkungen, die eine Ausweisung auf die familiären oder sonstigen Bindungen des Fremden hätte, Bedacht zu nehmen. Diese, in § 66 Abs. 2 FPG (in der hier maßgeblichen Fassung vor der Novelle BGBl. I Nr. 29/2009) genannten Gesichtspunkte sind nämlich auch bei der Beurteilung nach Abs. 1 zu beachten (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2007/21/0074).

In seinen Erkenntnissen vom , B 328/07 und B 1150/07, VfSlg. 18.223 und 18.224, hat der Verfassungsgerichtshof vom EGMR in seiner Judikatur entwickelte, bei Beurteilung der Zulässigkeit von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen unter dem Gesichtspunkt des dadurch bewirkten Eingriffs in das Privat- und Familienleben maßgebliche Kriterien für die Interessenabwägung dargestellt. Es sind dies die Aufenthaltsdauer, das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens und dessen Intensität, die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, der Grad der Integration des Fremden, der sich in intensiven Bindungen zu Verwandten und Freunden, der Selbsterhaltungsfähigkeit, der Schulausbildung, der Berufsausbildung, der Teilnahme am sozialen Leben, der Beschäftigung und ähnlichen Umständen manifestiert, die Bindungen zum Heimatstaat, die strafrechtliche Unbescholtenheit und Verstöße gegen das Einwanderungsrecht und Erfordernisse der öffentlichen Ordnung sowie die Frage, ob das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren. Diese Umstände, die in der Neufassung des § 66 Abs. 2 FPG durch die schon erwähnte Novelle BGBl. I Nr. 29/2009 weitgehend Niederschlag gefunden haben, sind im gegebenen Kontext auch vom Verwaltungsgerichtshof stets für maßgeblich erachtet worden (vgl. zum Ganzen etwa das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2009/21/0348, insbesondere Punkt 2.3.2. der Entscheidungsgründe).

In den hier bekämpften Bescheiden wird, was die persönlichen Interessen der Beschwerdeführer an einem weiteren Verbleib in Österreich anlangt, entgegen den eben dargestellten Anforderungen lediglich deren "hohe Integration" angesprochen und eingeräumt, dass mit der Ausweisung ein Eingriff in ihr Privat- und Familienleben erfolge. Die erforderliche einzelfallbezogene Auseinandersetzung mit den konkreten Verhältnissen der Beschwerdeführer kann darin nicht erblickt werden. Es ist somit nicht nachvollziehbar, ob die für einen Verbleib der Beschwerdeführer im Bundesgebiet sprechenden Gesichtspunkte die gebotene Gewichtung erfahren haben. Dass es hier derartige Gesichtspunkte gibt, denen jedenfalls massive Bedeutung zukommt, kann nicht zweifelhaft sein. Dabei ist zunächst, insbesondere aus dem Blickwinkel der Kinder, der Umstand zu erwähnen, dass sie den Großteil ihres Lebens in Österreich verbracht haben bzw. sogar - im Fall der Drittbeschwerdeführerin - hier geboren wurden. Ein Schulbesuch, der sich bei der Erstbeschwerdeführerin immerhin bereits über sechs Jahre erstreckt, erfolgte ausschließlich im Inland, was auf eine nicht unbeträchtliche Verankerung und gute Deutschkenntnisse schließen lässt. In diesem Sinn werden in der Beschwerde - alle - Beschwerdeführer als "deutschsprachig" bezeichnet und wird ausgeführt, dass sie zum Heimatstaat keinerlei Bindungen mehr hätten. Das stellt auch bezüglich der Viertbeschwerdeführerin (der Mutter) keine Neuerung dar, hatte sie doch - wie dargestellt - in der Berufung gegen den erstinstanzlichen Bescheid auf ihre Sprachkenntnisse, ihre vollständige Integration und ihren Lebensmittelpunkt in Österreich verwiesen.

Weiters fallen maßgeblich ins Gewicht die gleichfalls schon im Verwaltungsverfahren vorgebrachten, von der belangten Behörde nicht in Abrede gestellten geordneten Wohn- und Lebensverhältnisse der Beschwerdeführer. Besondere Bedeutung käme dabei dem Umstand zu, dass ihr Ehemann bzw. Vater N., wie behauptet, schon seit Jahren einer Beschäftigung nachgeht, damit den Lebensunterhalt der Beschwerdeführer sicherstellt und über einen im August 2004 ausgestellten Befreiungsschein mit fünfjähriger Gültigkeitsdauer verfügt.

Ohne Anspruch auf Vollständigkeit wäre dann aber - aus der Sicht des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung - auch noch mitzuberücksichtigen gewesen, dass der Asylantrag von N., nach rd. siebenjähriger Bearbeitungsdauer, letztlich erst dadurch eine endgültig Erledigung erfahren hat, dass die damals offene Berufung - offenkundig im Zusammenhang mit dem angestrengten Niederlassungsverfahren - im Mai 2005 zurückgezogen wurde. Dabei ist anzumerken, dass die vorangegangene negative Entscheidung des unabhängigen Bundesasylsenates aus dem September 1998 vom Verwaltungsgerichtshof aufgehoben worden war (siehe abermals das schon genannte Erkenntnis vom ), sodass der vorliegende Fall - die Beschwerdeführer hatten stets nur Asylerstreckungsanträge in Bezug auf den Antrag ihres Ehemannes/Vaters gestellt, weshalb ihre asylrechtliche Position vom Erfolg seines Antrages abhängig war - von daher jenem ähnelt, den der Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom , B 950-954/10-8, zu beurteilen hatte. Es sei daher insoweit ergänzend auf die Begründung dieses Erkenntnisses (insbesondere Punkte 2.4. und 2.5. der Entscheidungsgründe), mit dem - nach negativer Erledigung der gestellten Asylanträge ergangene - Ausweisungsbescheide gegen eine fünfköpfige türkische Familie aufgehoben wurden, verwiesen.

Angesichts der aufgezeigten Begründungsmängel waren die bekämpften Bescheide gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben (vgl. insgesamt zu einem ähnlich gelagerten Fall auch das hg. Erkenntnis vom , Zlen. 2008/21/0455 bis 0459). Das eingangs erwähnte, den Niederlassungsantrag des N. betreffende hg. Erkenntnis vom , Zl. 2006/21/0073, steht dazu schon deswegen nicht in Widerspruch, weil dort die Verhältnisse zu einem wesentlich früheren Zeitpunkt (Oktober 2005) zu beurteilen waren.

Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich - im Rahmen des gestellten Begehrens - auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

Wien, am

Fundstelle(n):
TAAAE-83612