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VwGH vom 23.09.2020, Ra 2019/14/0586

VwGH vom 23.09.2020, Ra 2019/14/0586

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Blaschek, den Hofrat Mag. Eder, die Hofrätinnen Mag. Rossmeisel und Mag. Schindler sowie den Hofrat Dr. Himberger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, über die Revision des A B in X, geboren am , vertreten durch Mag. Nadja Lorenz, Rechtsanwältin in 1070 Wien, Burggasse 116, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom , W137 1433022-2/6E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005). Ihm wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts (BVwG) vom der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt und eine befristete Aufenthaltsberechtigung mit Gültigkeit bis zum erteilt.

2Jeweils über Antrag des Revisionswerbers verlängerte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) die Gültigkeit der Aufenthaltsberechtigung mit Bescheid vom bis zum und mit Bescheid vom bis zum .

3Mit Bescheid vom erkannte das BFA dem Revisionswerber den Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 ab, entzog ihm die befristete Aufenthaltsberechtigung und erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen. Es erließ gegen den Revisionswerber eine Rückkehrentscheidung, stellte die Zulässigkeit seiner Abschiebung nach Afghanistan fest und bestimmte die Frist für die freiwillige Ausreise mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung.

4Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das BVwG die vom Revisionswerber dagegen erhobene Beschwerde - ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung - als unbegründet ab und erklärte die Revision für nicht zulässig.

5Darin stellte es - soweit für das Revisionsverfahren relevant - fest, dass die Familie des Revisionswerbers „zur Zeit der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten“ vorübergehend bei einem Bruder in Kabul gelebt habe. Der Revisionswerber habe „zu diesem Zeitpunkt“ keinen Kontakt mit seiner Familie gehabt. Dieser habe erst zu einem späteren Zeitpunkt wiederhergestellt werden können. Nunmehr lebten die neun Brüder des Revisionswerbers in einem neuen Haus in Kabul. Die finanzielle Situation der Familie des Revisionswerbers sei sehr gut, diese besitze mehrere Grundstücke in Afghanistan. Die Familie habe unter dem Aspekt der Sicherheit „keine Probleme“ in Kabul. Die Brüder des Revisionswerbers seien in der Lage, diesen im Falle der Rückkehr nach Afghanistan finanziell zu erhalten oder zumindest substanziell zu unterstützen. An einem „entsprechenden Willen“ bestehe keinerlei Zweifel. Der Revisionswerber stehe mit seiner Mutter und seinen Brüdern „seit einigen Jahren“ wieder in regelmäßigem Kontakt. Er habe keine Familienangehörigen in Österreich, verfügte über „das Deutschzertifikat B1“ und spreche sehr gut Deutsch. Er habe in Österreich einen Pflichtschulabschluss erworben und sei zuletzt auch berufstätig gewesen. Er sei gesund und arbeitsfähig. Der Revisionswerber sei ledig und habe keine Kinder. Er sei mit Urteil des Landesgerichts Linz vom wegen des Verbrechens des Suchtgifthandels gemäß § 28a Abs. 1 SMG zu einer Freiheitsstrafe im Ausmaß von 16 Monaten verurteilt worden, aus welcher er am Tag der Urteilsverkündung unter Anrechnung der Untersuchungshaft bedingt entlassen worden sei.

6In rechtlicher Hinsicht führte das BVwG aus, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht mehr vorlägen und die Aberkennung gemäß § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 zu Recht erfolgt sei, weil sich die persönlichen Verhältnisse des Beschwerdeführers in seinem Heimatland deutlich verbessert hätten. Auch wenn die wirtschaftliche Situation seiner Familie bereits im Erstverfahren nicht als schlecht angesehen worden sei, habe sich bis zum nunmehrigen Entscheidungszeitpunkt die Wahrscheinlichkeit, dass der Revisionswerber von seinen nahen Angehörigen bei einer Rückkehr unterstützt werden könne, nachhaltig und substanziell verbessert. Entscheidend dafür sei insbesondere, dass der Revisionswerber zum Zeitpunkt der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten angegeben habe, keinen Kontakt zu seinen in Kabul lebenden Brüdern und seiner Mutter zu haben, sich „heute“ aber in ständigem Kontakt mit seinen Brüdern befinde. Eine Rückführung des Beschwerdeführers nach Afghanistan stehe zudem - näher begründet - nicht in Widerspruch zu § 8 Abs. 1 AsylG 2005.

7Zur im Rahmen der Rückkehrentscheidung durchgeführten Interessenabwägung nach § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) hielt das BVwG fest, dass der Revisionswerber zum Aufenthalt in Österreich nur aufgrund eines Antrages auf internationalen Schutz und daher einer befristeten Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter berechtigt gewesen sei. Er habe sich daher „grundsätzlich“ die ganze Zeit seines Aufenthaltes dessen Vorläufigkeit bewusst sein müssen. Im Hinblick auf die Zeitspanne, seit der sich der Revisionswerber in Österreich aufhalte (März 2012), könne selbst unter Einbeziehung integrativer Merkmale - wie guter Deutschkenntnisse - eine von Art. 8 EMRK geschützte „Aufenthaltsverfestigung“ noch nicht angenommen werden. Im Übrigen bewirke der Umstand, dass der Revisionswerber in Österreich „massiv straffällig“ geworden sei, eine deutliche Reduktion des Gewichtes seiner persönlichen Interessen an einem Aufenthalt in Österreich. Es seien keine Hinweise auf eine außergewöhnliche Integration - etwa auf beruflicher Ebene - hervorgekommen. Dem maßgeblichen öffentlichen Interesse an der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Vorschriften, denen aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung ein hoher Stellenwert zukomme, sei daher der Vorzug zu geben.

8Die Abhaltung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung habe unterbleiben können, weil der Sachverhalt auf Grund der Aktenlage und des Inhaltes der Beschwerde geklärt gewesen sei und Widersprüchlichkeiten in Bezug auf die für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltselemente nicht vorgelegen seien. Die Beschwerde habe nicht einen falsch oder mangelhaft festgestellten (entscheidungsrelevanten) Sachverhalt behauptet, sondern ausschließlich von mangelhafter Begründung, unrichtiger rechtlicher Beurteilung oder mangelhafter Interessenabwägung gesprochen. Dabei handle es sich ausschließlich um Rechtsfragen, deren Erläuterung im Rahmen einer mündlichen Verhandlung nicht erforderlich sei.

9Gegen dieses Erkenntnis erhob der Revisionswerber Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der mit Beschluss vom , E 3097/2019-11, deren Behandlung ablehnte und sie über nachträglichen Antrag mit Beschluss vom , E 3097/2019-13, dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat.

10In der Folge wurde die gegenständliche Revision eingebracht. Zu ihrer Zulässigkeit macht der Revisionswerber zusammengefasst geltend, das BVwG sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Verhandlungspflicht, zu den Anforderungen an die Interessenabwägung im Rahmen der Erlassung einer Rückkehrentscheidung und zur Begründungspflicht abgewichen.

11Eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

12Die Revision ist aus den darin angeführten Gründen entgegen dem Ausspruch des BVwG zulässig und im Ergebnis auch begründet.

13Nach § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 ist einem Fremden der Status eines subsidiär Schutzberechtigten von Amts wegen mit Bescheid abzuerkennen, wenn die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (§ 8 Abs. 1 AsylG 2005) nicht oder nicht mehr vorliegen.

14§ 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 enthält zwei unterschiedliche Aberkennungstatbestände. Der erste Fall erfasst die Konstellation, in der der Fremde schon im Zeitpunkt der Zuerkennung von subsidiärem Schutz die dafür notwendigen Voraussetzungen nicht erfüllt hat. § 9 Abs. 1 Z 1 zweiter Fall AsylG 2005 betrifft hingegen jene Konstellationen, in denen die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nachträglich weggefallen sind (). Das BVwG hat die Aberkennung - wie schon das BFA - erkennbar auf den zweiten Fall des § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005, also den nachträglichen Wegfall der Voraussetzungen, gestützt.

15Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits erkannt, dass es unter Berücksichtigung der Rechtskraftwirkungen von Bescheiden nicht zulässig ist, die Aberkennung (im dort entschiedenen Fall: gemäß § 9 Abs. 2 Z 2 AsylG 2005) auszusprechen, obwohl sich der Sachverhalt seit der Zuerkennung des subsidiären Schutzes bzw. der erfolgten Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung nach § 8 Abs. 4 AsylG 2005 (die nur im Falle des weiteren Vorliegens der Voraussetzungen für die Zuerkennung erteilt werden darf) nicht geändert hat (). Diese Überlegungen hat der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom , Ra 2019/14/0153, auch auf Fälle übertragen, in denen - wie im gegenständlichen Fall - die Aberkennung auf § 9 Abs. 1 Z 1 zweiter Fall AsylG 2005 gestützt wird. Demnach bringt die Behörde durch die Entscheidung, die befristete Aufenthaltsberechtigung zu verlängern, vor dem Hintergrund der dafür nach dem Gesetz vorgesehenen Voraussetzungen zum Ausdruck, dass sie davon ausgeht, es seien im Zeitpunkt ihrer Entscheidung, mit der sie die Verlängerung bewilligt, weiterhin jene Umstände gegeben, die für Zuerkennung von subsidiärem Schutz maßgeblich seien. Vor dem unionsrechtlichen Hintergrund darf jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass dem Gesetz nicht unterstellt werden kann, es hätte im Fall jedes Antrages auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung nach § 8 Abs. 4 AsylG 2005 neuerlich ein die ursprünglichen Gründe umfassend prüfendes Verfahren stattzufinden. Insoweit dürfen die Ermittlungspflichten der Behörde nicht überspannt werden. Hat die Behörde keine konkreten Hinweise dafür, dass im Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung die für dessen Bewilligung notwendigen Voraussetzungen nicht mehr bestehen könnten, also die diesbezüglich maßgeblichen Umstände sich nicht im Sinn der unionsrechtlichen Vorgaben in hinreichend bedeutsamer und endgültiger Weise geändert haben, werden insoweit weitere Ermittlungen unterbleiben können.

16Das BVwG hat für die Prüfung, ob sich der relevante Sachverhalt für die Zuerkennung der Status eines subsidiär Schutzberechtigten geändert hat, ausschließlich auf den Zeitpunkt der (erstmaligen) Zuerkennung dieses Status abgestellt, ohne zu berücksichtigen, dass die befristete Aufenthaltsberechtigung seither zwei Mal verlängert worden war. Schon damit hat es sein Erkenntnis mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet (vgl. ; , Ra 2019/18/0367) und es ausgehend von dieser unrichtigen Rechtsansicht unterlassen, klare Feststellungen dazu zu treffen, die die Beurteilung ermöglicht hätten, ob seit der zuletzt erfolgten Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung Sachverhaltsänderungen eingetreten sind.

17Das angefochtene Erkenntnis war sohin - weil die rechtlich vom Ausspruch über die Aberkennung des subsidiären Schutzes abhängenden Spruchpunkte ihre Grundlage verlieren, zur Gänze - wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

18Von der Durchführung der beantragten Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 und 5 VwGG abgesehen werden.

19Der Ausspruch über den Kostenersatz gründet sich auf die § 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am

Zusatzinformationen


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ECLI:
ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019140586.L01

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