VwGH vom 20.10.2011, 2008/21/0191

VwGH vom 20.10.2011, 2008/21/0191

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Novak und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Senft, über die Beschwerde des L, vertreten durch Mag. Barbara Kirchner, Rechtsanwältin in 1030 Wien, Untere Viaduktgasse 47-49/13, gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates Wien vom , Zl. UVS-01//49/9696/2007-12, betreffend Schubhaft (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein aus Tschetschenien stammender russischer Staatsangehöriger, reiste nach seinen eigenen Angaben am um 2:00 Uhr Früh illegal in das Bundesgebiet ein. Am Nachmittag desselben Tages wurde er, nachdem er bei dem (von ihm bestrittenen) Versuch einer Entwendung in einem Kaufhaus betreten worden war, festgenommen (nach der Aktenlage gemäß § 39 Abs. 1 Z 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 - FPG) und in das Polizeianhaltezentrum Hernals überstellt. Eine Eurodac-Abfrage ergab zunächst keinen Treffer. Bei seiner Einvernahme gab der Beschwerdeführer an, dass er über Polen eingereist sei, wo sein Asylantrag abgelehnt worden sei, und stellte einen Antrag auf internationalen Schutz. Er erklärte, den Antrag nicht schon früher gestellt zu haben, weil ihn ein in Österreich lebender Bekannter, den er aber noch nicht erreicht habe, zur Asylbehörde bringen habe wollen.

Eine neuerliche Eurodac-Abfrage ergab, dass der Beschwerdeführer seinen Angaben entsprechend in Polen einen Asylantrag gestellt hatte.

Mit Bescheid vom , der noch am selben Tag zugestellt und in Vollzug gesetzt wurde, wurde über den Beschwerdeführer von der Bundespolizeidirektion Wien "gemäß § 76 Abs. 2" FPG die Schubhaft zur Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer Ausweisung und der Abschiebung angeordnet. Begründend wurde ausgeführt, dass auf Grund des Ergebnisses der Befragung, der Durchsuchung und der erkennungsdienstlichen Behandlung anzunehmen sei, dass der Antrag auf internationalen Schutz mangels Zuständigkeit Österreichs zur Prüfung zurückgewiesen werde, weil ein Fingerabdruckvergleich einen EURODAC-Treffer in Polen ergeben habe. Die Verhängung der Schubhaft unter Abstandnahme von der Anwendung gelinderer Mittel sei notwendig gewesen, weil der Beschwerdeführer ohne Unterstand, bargeldlos und "undokumentiert" im Bundesgebiet aufhältig sei; es bestünden auch keinerlei "Bindungen zum Bundesgebiet". Die Anordnung eines gelinderen Mittels sei nicht in Betracht gekommen, weil kein Grund zur Annahme bestehe, dass der Zweck der Schubhaft auch dadurch erreicht werden könne; der Beschwerdeführer wolle nicht nach Polen zurückkehren, und es bestehe die Gefahr, dass er sich dem Asylverfahren entziehen und seinen illegalen Aufenthalt im Verborgenen fortsetzen werde.

Am erhob der Beschwerdeführer gegen die Schubhaftverhängung und die Anhaltung in Schubhaft Beschwerde gemäß § 82 FPG. Er bestritt sowohl die Erfüllung eines der Tatbestände des § 76 Abs. 2 FPG als auch das Vorliegen eines Sicherungsbedarfs. Weiters bemängelte er, dass er bereits am , also noch vor Erlassung des Schubhaftbescheides, in Schubhaft genommen worden sei.

Die belangte Behörde wies diese Beschwerde mit dem angefochtenen Bescheid nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung gemäß § 83 FPG ab und stellte unter einem gemäß § 83 Abs. 4 erster Satz FPG fest, dass die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorlägen.

Begründend führte sie nach wörtlicher Wiedergabe der von der Bundespolizeidirektion Wien erstellten Niederschriften, der im Verwaltungsverfahren erstatteten Schriftsätze, des Verhandlungsprotokolls und der die Schubhaft betreffenden Bestimmungen des FPG sowie nach Bejahung ihrer Zuständigkeit aus, die "Voraussetzungen für die weitere Anhaltung des Beschwerdeführers in Schubhaft (im Übrigen wegen des Schubhaftgrundes des § 76 Abs. 2 Z 4 FPG: im Hinblick auf seine eigenen Angaben in der mit ihm am abgefassten Niederschrift ist im vorliegenden Fall nicht bloß von der möglichen Unzuständigkeit auf Grund eines so genannten Eurodac-Treffers, sondern von sehr gewichtigen Anhaltspunkten auszugehen, die die Annahme der Unzuständigkeit Österreichs stützen)" lägen vor. Der Aktenlage nach sei der Beschwerdeführer nahezu mittellos und verfüge auch nicht über ausreichende soziale Bindungen in Österreich (wird näher ausgeführt). Auf Grund dieser persönlichen Verhältnisse sei zu befürchten, dass er seinen Lebensunterhalt (zumindest teilweise) durch die Begehung von Delikten gegen fremdes Vermögen bestreiten werde. Im Übrigen sei "das öffentliche Interesse am Schutz der Allgemeinheit weitaus höher zu bewerten, als das Interesse einer einzelnen, sich rechtswidrig im Bundesgebiet aufhaltenden Person". Unverständlich bleibe, warum der Beschwerdeführer nicht unmittelbar nach seiner Einreise in das Bundesgebiet mit den österreichischen Behörden in Kontakt getreten sei. Es liege die Vermutung nahe, dass er einen solchen Kontakt nicht unverzüglich gesucht hätte, wenn er nicht festgenommen worden wäre. Daher erschienen auch gelindere Mittel nicht geeignet, den Zweck der Schubhaft zu erreichen.

Über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Erstattung einer Gegenschrift durch die belangte Behörde erwogen:

Der belangten Behörde ist zunächst vorzuwerfen, dass sie die Administrativbeschwerde zur Gänze abgewiesen hat, in der Begründung des angefochtenen Bescheides aber, wie oben wiedergegeben, nur die Voraussetzungen für die weitere Anhaltung des Beschwerdeführers in Schubhaft geprüft hat, ohne sich mit der Rechtmäßigkeit des Schubhaftbescheides und der bisherigen Anhaltung des Beschwerdeführers zu befassen. Da sich die Administrativbeschwerde erkennbar auf den gesamten Zeitraum der Anhaltung ab dem bezogen hat, hätte es zudem auch einer Auseinandersetzung mit der Rechtmäßigkeit der offenkundig auf § 39 FPG gestützten Anhaltung vor Erlassung des Schubhaftbescheides bedurft, die in der Administrativbeschwerde in Unkenntnis des Festnahmegrundes - eine Unterrichtung des Beschwerdeführers nach § 40 FPG ist nach der Aktenlage "mangels Sprachkenntnissen" nicht erfolgt - ebenfalls als "Schubhaft" bezeichnet wurde.

Aber auch die Begründung des Fortsetzungsausspruchs erweist sich als verfehlt:

Dieser wurde - ohne Auseinandersetzung mit dem weiteren Fortgang des Asylverfahrens des Beschwerdeführers - auf § 76 Abs. 2 Z 4 FPG gestützt. Dabei hat die belangte Behörde nicht ausreichend berücksichtigt, dass die Anhaltung eines Asylwerbers in Schubhaft nach dieser Bestimmung nur dann gerechtfertigt sein kann, wenn besondere Umstände vorliegen, die (schon) in diesem Asylverfahrensstadium ein Untertauchen des betreffenden Fremden befürchten lassen (vgl. ausführlich das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2007/21/0043).

Für den demnach zu prüfenden Sicherungsbedarf hat die belangte Behörde einerseits das Fehlen sozialer Bindungen und andererseits die Mittellosigkeit des Beschwerdeführers ins Treffen geführt. Beiden Gesichtspunkten kommt aber primär im Anwendungsbereich des § 76 Abs. 1 FPG Bedeutung zu; in Bezug auf (wie der Beschwerdeführer noch nicht lange in Österreich aufhältige) Asylwerber stellen sie keine tragfähigen Gründe für das Bestehen eines Sicherungsbedarfs dar (vgl. zB das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2007/21/0233, mwN). Wenn die belangte Behörde aber meint, auf Grund seiner Mittellosigkeit bestehe die Gefahr, der Beschwerdeführer werde seinen Lebensunterhalt (zumindest teilweise) durch die Begehung von Delikten gegen fremdes Vermögen bestreiten, so ist darauf hinzuweisen, dass die Verhinderung von Straftaten keinen zulässigen Schubhaftzweck darstellt (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2007/21/0542, mwN).

Dafür, dass der Beschwerdeführer nicht unmittelbar nach seiner Einreise in das Bundesgebiet mit den österreichischen Behörden in Kontakt getreten ist - was im Rahmen des § 76 Abs. 2 FPG grundsätzlich für die Annahme eines Sicherungsbedarfs Bedeutung haben kann -, hat er bei seiner ersten Einvernahme und in der Verhandlung Gründe angeführt, mit denen sich die belangte Behörde hätte auseinandersetzen müssen. Im Übrigen wäre zugunsten des Beschwerdeführers zu berücksichtigen gewesen, dass er von Anfang an wahrheitsgemäße Angaben über seinen Fluchtweg und die in Polen erfolgte Asylantragstellung gemacht hat.

In späteren Stadien des Asylverfahrens (die im Verlauf der Anhaltung des Beschwerdeführers - allerdings ohne dass die belangte Behörde das ihrem Bescheid zugrunde gelegt hätte - eingetreten sind), insbesondere nach Vorliegen einer durchsetzbaren Ausweisung, können zwar schon weniger ausgeprägte Hinweise auf eine Vereitelung oder Erschwerung der Aufenthaltsbeendigung die Annahme eines Sicherungsbedarfs rechtfertigen (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2007/21/0432, mwN). In jedem Fall ist es aber verfehlt, das öffentliche Interesse generell - ohne Einzelfallabwägung - höher zu bewerten als das Interesse des Fremden, mag es sich auch um eine "einzelne, sich rechtswidrig im Bundesgebiet aufhaltende Person" handeln. Im Rahmen der vorzunehmenden Verhältnismäßigkeitsprüfung hätte die belangte Behörde im Übrigen auch auf die vom Beschwerdeführer bereits im Verwaltungsverfahren angesprochene Erkrankung an Hepatitis C eingehen müssen (vgl. zur Bedeutung einer Beeinträchtigung des Gesundheitszustandes, auch wenn daraus noch keine Haftunfähigkeit resultiert, für die Verhältnismäßigkeit der Schubhaft etwa das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2008/21/0196, mwN).

Aus den dargelegten Gründen hat die belangte Behörde den angefochtenen Bescheid mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet, weshalb er gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben war.

Die Kostenentscheidung stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

Wien, am