VwGH vom 29.04.2010, 2008/21/0044
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Novak und die Hofräte Dr. Pelant und Dr. Sulzbacher als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Henk, über die Beschwerde des G, vertreten durch Dr. Paul Delazer, Rechtsanwalt in 6020 Innsbruck, Maximilianstraße 2/1, gegen den Bescheid des Bundesministers für Inneres vom , Zl. 148.851/2-III/4/07, in der Fassung des Berichtigungsbescheides vom , Zl. 148.851/10-III/4/08, betreffend Aufenthaltstitel, zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.286,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Der 1980 in Österreich geborene und seither hier aufhältige Beschwerdeführer, ein türkischer Staatsangehöriger, verfügte zuletzt über eine Niederlassungsbewilligung "jeglicher Aufenthaltszweck, § 13 Abs. 2 FrG", gültig bis .
Mit von seinem rechtsfreundlichen Vertreter verfasster Eingabe vom beantragte der Beschwerdeführer die Erteilung "einer weiteren Niederlassungsbewilligung, wobei auf Grund der vorliegenden Voraussetzungen ein 'Daueraufenthalt - EG' in Frage kommt".
Die Bürgermeisterin der Landeshauptstadt Innsbruck wies diesen Antrag namens des Landeshauptmannes von Tirol mit Bescheid vom gemäß § 24 Abs. 1 und 2 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz - NAG ab. Der dagegen erhobenen Berufung gab die belangte Behörde (der Bundesminister für Inneres) mit Bescheid vom (hinsichtlich eines Schreibfehlers bei Bezeichnung des Bescheidadressaten berichtigt durch Bescheid vom ) gemäß § 66 Abs. 2 AVG unter Behebung des erstinstanzlichen Bescheides statt. Das begründete die belangte Behörde im Wesentlichen damit, dass der zufolge § 24 Abs. 1 und 2 NAG als Erstantrag zu wertende Antrag des Beschwerdeführers gemäß § 21 Abs. 1 NAG vor der Einreise nach Österreich vom Ausland aus zu stellen gewesen wäre. Es werde aber festgestellt, dass besonders berücksichtigungswürdige Gründe vorlägen, weshalb gemäß § 74 NAG "eine Inlandsantragstellung zuzulassen wäre und auch der Verfahrensmangel der nicht persönlichen Antragstellung zu heilen wäre". Die belangte Behörde führt dann weiter wörtlich aus wie folgt:
"Ist der erhobene Sachverhalt der Bescheid erlassenden erstinstanzlichen Behörde mangelhaft, kann die Berufungsbehörde gemäß § 66 Abs. 2 AVG den Bescheid beheben und an die Bescheid erlassende Behörde zurück verweisen.
Aus den vorgelegten Unterlagen ist nicht ersichtlich, inwieweit in Ihrem konkreten Fall die materiellen Voraussetzungen (§ 11 NAG), insbesondere was Lebensunterhalt, Unterkunft, Krankenversicherung, etc. betrifft, gegeben sind.
Aufgrund des mangelhaft durchgeführten Ermittlungsverfahrens, ist ein neues Ermittlungsverfahren hinsichtlich dieser Gesichtspunkte durchzuführen, insbesondere da die vorliegenden Sachverhaltselemente zum Teil veraltet erscheinen.
Es war daher spruchgemäß zu entscheiden."
Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der deren Behandlung mit Beschluss vom , B 1991/07, ablehnte und sie in der Folge gemäß Art. 144 Abs. 3 B-VG dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat. Dieser hat über die ergänzte Beschwerde nach Aktenvorlage und Erstattung einer Gegenschrift
seitens der belangten Behörde - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat - erwogen:
Zunächst ist klarzustellen, dass ein Berufungsbescheid, mit dem der erstinstanzliche Bescheid wie hier gemäß § 66 Abs. 2 AVG behoben wurde, u.a. dann eine Rechtsverletzung bewirken kann, wenn die Berufungsbehörde mangels Vorliegens der gesetzlichen Voraussetzungen von der Regelung des § 66 Abs. 2 AVG zu Unrecht Gebrauch gemacht und keine Sachentscheidung im Sinn des § 66 Abs. 4 AVG erlassen hat (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2007/18/0664; vgl. auch die bei Hengstschläger/Leeb , AVG § 66, Rz 29, zitierte hg. Judikatur). Gegebenenfalls ist der Berufungswerber in dem - gegenständlich geltend gemachten - Recht auf Sachentscheidung durch die Berufungsbehörde verletzt ( Hengstschläger/Leeb , aaO., Rz 22; in diesem Sinn etwa der hg. Beschluss vom , Zl. 2005/18/0545). Die von der belangten Behörde in ihrer Gegenschrift vertretene Ansicht, der Beschwerdeführer sei durch den seiner Berufung stattgebenden angefochtenen Bescheid nicht beschwert, trifft daher nicht zu.
Gemäß § 66 Abs. 2 AVG kann die Berufungsbehörde den bei ihr angefochtenen Bescheid beheben und die Angelegenheit zur neuerlichen Verhandlung und Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde erster Instanz zurückverweisen, wenn der ihr vorliegende Sachverhalt so mangelhaft ist, dass die Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung - worunter nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes auch eine Vernehmung zu verstehen ist (vgl. dazu etwa das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2000/20/0084) - unvermeidlich erscheint. Außer diesem Fall hat die Berufungsbehörde gemäß § 66 Abs. 4 AVG, sofern die Berufung nicht als unzulässig oder verspätet zurückzuweisen ist, immer in der Sache selbst zu entscheiden. Die Mangelhaftigkeit des erstinstanzlichen Verfahrens berechtigt die Berufungsbehörde somit nur dann zur Aufhebung des angefochtenen Bescheides nach § 66 Abs. 2 AVG, wenn sich dieser Mangel nicht anders als mit der Durchführung einer mündlichen Verhandlung beheben lässt. In allen anderen Fällen hat die Berufungsbehörde immer in der Sache selbst zu entscheiden und die dafür notwendigen Ergänzungen des Ermittlungsverfahrens unter Heranziehung der Behörde erster Instanz oder selbst vorzunehmen (vgl. mit weiteren Nachweisen das schon zitierte hg. Erkenntnis vom ).
Gegenständlich ist nicht zu sehen, dass die Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung unvermeidlich erscheinen konnte, um den der Berufungsbehörde vorgelegenen Sachverhalt zu ergänzen. Die belangte Behörde hat sich auch gar nicht auf das Vorliegen dieser für ein Vorgehen nach § 66 Abs. 2 AVG erforderlichen Voraussetzung gestützt, sondern in offenkundiger Verkennung der Rechtslage nur einen Mangel des erstinstanzlichen Ermittlungsverfahrens festgestellt. Ihre in der Gegenschrift geäußerte Auffassung, eine Verpflichtung zur Sachentscheidung höhle "§ 66 Abs. 2 AVG bis zur Bedeutungslosigkeit aus", übersieht den "Ausnahmecharakter" dieser Vorschrift ( Hengstschläger/Leeb , aaO., Rz 12).
Der angefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.
Wien, am
Fundstelle(n):
GAAAE-82491