VwGH vom 02.09.2010, 2008/19/1090
Beachte
Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung
verbunden):
2008/19/1091
2008/19/1094
2008/19/1093
2008/19/1092
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Händschke sowie den Hofrat Mag. Nedwed und die Hofrätin Mag. Rehak als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Becker, über die Beschwerden der beschwerdeführenden Parteien 1. SK, geboren am ,
2. SK, geboren am , 3. SK, geboren am , 4. IK, geboren am , und 5. MH alias C, geboren am , alle in Fieberbrunn und vertreten durch Dr. Lennart Binder, Rechtsanwalt in 1030 Wien, Rochusgasse 2, gegen die Bescheide des unabhängigen Bundesasylsenates jeweils vom , Zlen. 253.323/0/12E-VII/43/04 (ad 1.), 253.326/0/8E-VII/43/04 (ad 2.), 253.327/0/9E-VII/43/04 (ad 3.), 253.325/0/8E-VII/43/04 (ad 4.) und 253.324/0/13E-VII/43/04 (ad 5.), betreffend §§ 7, 8 Abs. 1 Asylgesetz 1997 (ad 1.) sowie §§ 10, 11 Asylgesetz 1997 (ad 2. bis 5.; weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:
Spruch
Der erstangefochtene Bescheid wird im Umfang seiner Anfechtung in seinen Spruchpunkten I. und II. wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Die zweit- bis fünftangefochtenen Bescheide werden wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat den beschwerdeführenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von EUR 900,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Die beschwerdeführenden Parteien sind Mitglieder einer Familie (der Erstbeschwerdeführer ist der Ehemann der Fünftbeschwerdeführerin; die zweit- bis viertbeschwerdeführenden Parteien sind ihre minderjährigen Kinder) und Staatsangehörige der Russischen Föderation tschetschenischer Volksgruppenzugehörigkeit. Die erst- bis drittbeschwerdeführenden Parteien sowie die Fünftbeschwerdeführerin gelangten gemeinsam im Mai 2003 in das Bundesgebiet. Am beantragte der Erstbeschwerdeführer Asyl, für den im September 2003 geborenen Viertbeschwerdeführer beantragte die Fünftbeschwerdeführerin am die Erstreckung des dem Erstbeschwerdeführer zu gewährenden Asyls; am stellten die zweit-, dritt- und fünftbeschwerdeführenden Parteien die gegenständlichen Asylerstreckungsanträge.
Zu seinen Fluchtgründen gab der Erstbeschwerdeführer in seinen Einvernahmen vor dem Bundesasylamt im Wesentlichen an, er sei in seiner Heimat zweimal von russischen Soldaten angehalten, verhört und misshandelt worden. Das erste Mal sei er im Jahr 2001 für vier Tage angehalten und anschließend gegen Bezahlung von Lösegeld freigelassen worden. Die zweite Anhaltung sei im Jahr 2002 für die Dauer von 15 Tagen erfolgt; dann sei ihm die Flucht gelungen. Danach habe er sich in Inguschetien versteckt gehalten und anschließend die Russische Föderation verlassen.
Das Bundesasylamt wies den Asylantrag des Erstbeschwerdeführers mit Bescheid vom gemäß § 7 Asylgesetz 1997 (AsylG) ab, stellte gemäß § 8 Abs. 1 AsylG fest, dass dessen Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die Russische Föderation zulässig sei und wies ihn gemäß § 8 Abs. 2 AsylG dorthin aus. Die Asylerstreckungsanträge der zweitbis fünftbeschwerdeführenden Parteien wies das Bundesasylamt mit Bescheiden jeweils vom gemäß § 10 iVm § 11 Abs. 1 AsylG ab.
Die Abweisung des Asylantrags begründete das Bundesasylamt im Wesentlichen damit, dass das Fluchtvorbringen des Erstbeschwerdeführers nicht glaubwürdig sei. Im Hinblick auf die Abweisung des Asylantrags des Erstbeschwerdeführers seien auch die Asylerstreckungsanträge der zweit- bis fünftbeschwerdeführenden Parteien abzuweisen gewesen.
Mit dem erstangefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde die Berufung des Erstbeschwerdeführers gegen den ihn betreffenden Bescheid nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß § 7 AsylG ab (Spruchpunkt I.), stellte fest, dass dessen Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die Russische Föderation zulässig sei (Spruchpunkt II.) und behob die im erstinstanzlichen Bescheid ausgesprochene Ausweisung des Erstbeschwerdeführers ersatzlos (Spruchpunkt III.). In der Begründung dieses Bescheides stellte die belangte Behörde fest, dass der Erstbeschwerdeführer 2001 und 2002 von russischen Söldnern verschleppt worden sei. Das Motiv hinter der Entführung sei der Versuch der Zeitsoldaten gewesen, möglichst rasch an möglichst viel Geld zu kommen. Im Rahmen der zweiten Anhaltung des Erstbeschwerdeführers sei dieser auch gezwungen worden, ein Massengrab auszuheben, ihm sei jedoch die Flucht gelungen. Aus diesem Grund sei der Heimatstaat verlassen worden. Beweiswürdigend führte die belangte Behörde aus, dass die zur Person getroffenen Feststellungen auf den glaubwürdigen Angaben des Erstbeschwerdeführers beruhten. Die Angaben des Erstbeschwerdeführers in der Berufungsverhandlung seien in sich stimmig und wiesen keine gravierenden Widersprüche auf; seine hohe emotionale Anteilnahme während der Verhandlung habe den Eindruck seiner Glaubwürdigkeit verstärkt. Rechtlich folgerte die belangte Behörde, dass beide vom Erstbeschwerdeführer glaubhaft gemachten Vorfälle von Angehörigen der Söldnermiliz (Zeitsoldaten) verübt worden seien, um an Geld zu gelangen. Derartige Übergriffe seien jedoch rückläufig. Eine über diese Vorfälle hinausgehende Begründung für seine Flucht habe der Erstbeschwerdeführer nicht dargetan, sodass aktuell keine Verfolgungsgefahr mehr festgestellt werden könne.
Mit den zweit- bis fünftangefochtenen Bescheiden wies die belangte Behörde die Berufungen der zweit- bis fünftbeschwerdeführenden Parteien gegen die sie betreffenden Bescheide des Bundesasylamtes gemäß §§ 10, 11 AsylG ab. Begründend führte die belangte Behörde aus, dass die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Asylerstreckung nicht vorlägen, weil dem Erstbeschwerdeführer (auf dessen Asylantrag sich die Erstreckungsanträge bezogen hätten) kein Asyl gewährt worden sei.
Gegen diese Bescheide richtet sich die vorliegende gemeinsame Beschwerde aller beschwerdeführenden Parteien, die sich in Bezug auf den Erstbeschwerdeführer erkennbar nur gegen die Spruchpunkte I. und II. des angefochtenen Bescheides richtet, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Verwaltungsakten durch die belangte Behörde in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:
Die Beschwerde macht geltend, die belangte Behörde habe das Vorbringen des Erstbeschwerdeführers betreffend seine Kontakte zu einem Journalisten nicht ausreichend beleuchtet, obwohl dieser Kontakt schon prima vista als "gefährlich" einzustufen wäre. Es sei notorisch, dass die Leute in Tschetschenien, insbesondere bei Unterstützung der Rebellen, nicht zur Ruhe kommen und nachhaltig verfolgt würden. Mit diesem Vorbringen spricht die Beschwerde im Ergebnis einen relevanten Verfahrensmangel an.
Die belangte Behörde legte ihren Feststellungen das von ihr als glaubwürdig erachtete Vorbringen des Erstbeschwerdeführers in der Berufungsverhandlung zugrunde. In dieser Verhandlung hatte der Erstbeschwerdeführer zwar angegeben, die Soldaten hätten sich mit seiner ersten Festnahme im Jahr 2001 Geld besorgen wollen, "um Alkohol zu kaufen". Zu seiner zweiten Festnahme (im Mai 2002) meinte der Erstbeschwerdeführer allerdings, es sei kein Geld gefordert worden, sondern man habe ihn (u.a.) nach Hilfestellung für "Tschetschenen" befragt. Er glaube, dass die Verfolger damals "nicht nur allgemein an der Festnahme von Tschetschenen interessiert" gewesen seien, sondern dass sie auch speziell an ihm Interesse gezeigt hätten, weil sie " Informationen" über ihn gehabt hätten. In diesem Zusammenhang verwies der Erstbeschwerdeführer darauf, man habe ihm vorgeworfen, einen (deutschen) Journalisten im Jahr 1996 beherbergt und (u.a.) mit tschetschenischen Kommandanten sowie mit Gefangenen des Lagers "Guasch" zu Zwecken von Interviews in Kontakt gebracht zu haben.
Diesem Vorbringen lässt sich nicht entnehmen, dass die Soldaten den Erstbeschwerdeführer im Jahr 2002 deshalb verschleppt hätten, um an Geld zu gelangen. Damit erweist sich die von der belangte Behörde getroffene Feststellung, wonach das Motiv für die Entführung des Erstbeschwerdeführers im Versuch der russischen Söldner, möglichst rasch an möglichst viel Geld zu kommen, liege, in Bezug auf die vom Erstbeschwerdeführer geschilderte zweite Anhaltung als aktenwidrig. Die Relevanz dieses Verfahrensmangels ist schon deshalb nicht auszuschließen, weil sich bei Zugrundelegung des von der belangten Behörde als glaubwürdig erachteten Vorbringens des Erstbeschwerdeführers noch nicht abschließend beurteilen lässt, ob dieser in der Vergangenheit nicht bereits in solcher Weise in das Blickfeld der Sicherheitsbehörden seines Herkunftsstaates geraten ist, dass ihm auch im Fall seiner Rückkehr noch Gefahr drohen könnte.
Der erstangefochtene Bescheid war daher im Umfang seiner Spruchpunkte I. und II. wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. a VwGG aufzuheben.
Die rückwirkende Behebung des erstangefochtenen Bescheides im spruchgemäßen Umfang belastet aus den im hg. Erkenntnis vom , Zl. 98/01/0402, dargestellten Gründen, auf die gemäß § 43 Abs. 2 VwGG verwiesen wird, auch die hinsichtlich der zweit- bis fünftbeschwerdeführenden Parteien (Asylerstreckungswerber) ergangenen Berufungsbescheide mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit. Die zweit- bis fünftangefochtenen Bescheide waren daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich im Rahmen des gestellten Begehrens auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. II Nr. 455.
Wien, am
Fundstelle(n):
XAAAE-82348