VwGH vom 19.11.2010, 2008/19/0603
Beachte
Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung
verbunden):
2008/19/0604
2008/19/0606
2008/19/0605
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Händschke, den Hofrat Mag. Nedwed, die Hofrätin Mag. Rehak, sowie die Hofräte Dr. Fasching und Mag. Feiel als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. S. Giendl, über die Beschwerden der beschwerdeführenden Parteien 1. Z 2. N, 3. M und 4. J, alle vertreten durch Mag. Gerald Hegenbart, Rechtsanwalt in 2500 Baden, Kaiser-Franz-Ring 13, gegen die Bescheide des unabhängigen Bundesasylsenates jeweils vom , 1.) Zl. 317.268-1/2E-XI/38/08 (protokolliert zu hg. Zl. 2006/19/0603),
2.) Zl. 317.271-1/2E-XI/38/08 (protokolliert zu hg. Zl. 2006/19/0604), 3.) Zl. 317.269-1/2E-XI/38/08 (protokolliert zu hg. Zl. 2006/19/0605), und 4.) Zl. 317.270-1/2E-XI/38/08 (protokolliert zu hg. Zl. 2006/19/0606), betreffend §§ 5, 10 Asylgesetz 2005 (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:
Spruch
Die angefochtenen Bescheide werden wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat den beschwerdeführenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von jeweils EUR 1.106,40, insgesamt somit EUR 4.425,60, binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Die beschwerdeführenden Parteien sind Mitglieder einer Familie (die Zweit- und der Viertbeschwerdeführer sind Ehegatten, die Erst- und Drittbeschwerdeführerinnen sind ihre minderjährigen Töchter) und afghanische Staatsangehörige. Sie reisten gemeinsam im September 2007 über die türkisch-griechische Grenze in das Gebiet der Mitgliedstaaten der Europäischen Union ein. Ohne in Griechenland um Asyl anzusuchen gelangten sie in weiterer Folge in das Bundesgebiet und beantragten am internationalen Schutz.
Mit den angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheiden wies die belangte Behörde diese Anträge gemäß § 5 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) als unzulässig zurück. Für ihre Prüfung erklärte sie gemäß Art. 10 Abs. 1 iVm Art. 18 Abs. 7 Dublin-Verordnung Griechenland für zuständig und sie wies die beschwerdeführenden Parteien gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 dorthin aus. Demzufolge sei die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung der beschwerdeführenden Parteien nach Griechenland gemäß § 10 Abs. 4 AsylG 2005 zulässig.
Begründend führte die belangte Behörde aus, es sei unbestritten, dass die beschwerdeführenden Parteien über Griechenland in das Gebiet der Mitgliedstaaten eingereist seien. Demnach sei gemäß Art. 10 Abs. 1 Dublin-Verordnung von der Zuständigkeit Griechenlands zur Prüfung der Asylanträge auszugehen. Eine solche ergebe sich auch auf Grundlage von Art. 18 Abs. 7 Dublin-Verordnung. Gründe für die Ausübung des Selbsteintrittsrechts durch die österreichischen Behörden lägen nicht vor. Es könne nicht angenommen werden, dass die beschwerdeführenden Parteien trotz Berechtigung ihrer Schutzbegehren in Griechenland keinen Abschiebeschutz erhalten würden. Soweit die beschwerdeführenden Parteien in ihren Berufungen auf einen Bericht des UNHCR vom Juli 2007 über die schwierige Lage von Asylsuchenden in Griechenland verwiesen, sei darauf hinzuweisen, dass dieser Bericht nur solche Personen betreffe, die in Griechenland bereits Asylanträge gestellt hätten. Derartige Fälle lägen bei den beschwerdeführenden Parteien aber nicht vor. Was das Vorbringen des Viertbeschwerdeführers betreffe, er sei in Griechenland im Flüchtlingslager einmal geschlagen worden, so stehe dieses im Widerspruch zu den Angaben der Zweitbeschwerdeführerin, die davon nichts erwähnt habe. Soweit die Familie behaupte, in Griechenland schlecht behandelt worden zu sein, werde mit diesem Vorbringen noch keine ausreichend intensive und die Schwelle des Art. 3 EMRK überschreitende Schlechtbehandlung dargetan. Die Zweitbeschwerdeführerin behaupte im Übrigen eine Herzerkrankung, für die es jedoch keine Bestätigung gebe. Im Übrigen wäre eine solche in Griechenland behandelbar. Dasselbe gelte für eine in erster Instanz festgestellte belastungsabhängige krankheitswertige psychische Störung der Zweitbeschwerdeführerin.
Gegen diese Bescheide richten sich die vorliegenden, wegen des persönlichen und sachlichen Zusammenhangs zur gemeinsamen Entscheidung verbundenen Beschwerden mit dem Antrag, sie wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes und wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
Die belangte Behörde legte die Verwaltungsakten vor und beantragte, die Beschwerden kostenpflichtig abzuweisen.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
1. Die Beschwerden machen geltend, die belangte Behörde sei auf das umfangreiche Vorbringen in den Berufungen, wonach für die beschwerdeführenden Parteien in Griechenland kein ordnungsgemäßes Verfahren bzw. keine "ordnungsgemäße Behandlung im Sinne der EMRK" gewährleistet sei, nicht eingegangen. Dabei seien insbesondere gesundheitliche Probleme der Zweitbeschwerdeführerin nicht berücksichtigt worden.
2. Mit diesem Vorbringen zeigen die Beschwerden - zumindest im Ergebnis - eine unrichtige rechtliche Beurteilung auf.
2.1. Gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 (in der im vorliegenden Fall noch maßgeblichen Fassung BGBl. I Nr. 100/2005) ist ein nicht gemäß § 4 erledigter Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig zurückzuweisen, wenn ein anderer Staat vertraglich oder auf Grund der Dublin-Verordnung zur Prüfung des Asylantrages oder des Antrages auf internationalen Schutz zuständig ist. Mit dem Zurückweisungsbescheid hat die Behörde auch festzustellen, welcher Staat zuständig ist.
Sofern nicht besondere Gründe, die in der Person des Asylwerbers gelegen sind, glaubhaft gemacht werden oder bei der Behörde offenkundig sind, die für die reale Gefahr des fehlenden Schutzes vor Verfolgung sprechen, ist gemäß § 5 Abs. 3 AsylG 2005 davon auszugehen, dass der Asylwerber in einem Staat nach Abs. 1 Schutz vor Verfolgung findet.
2.2. Im vorliegenden Fall ist nicht strittig, dass die griechischen Asylbehörden nach den Zuständigkeitskriterien der Dublin-Verordnung das Asylverfahren der beschwerdeführenden Parteien führen müssten. Zu klären bleibt lediglich, ob Österreich auf Grund einer den beschwerdeführenden Parteien bei Überstellung nach Griechenland drohenden Verletzung des Art. 3 EMRK von seinem Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung Gebrauch hätte machen müssen.
2.3. Eine Verletzung der durch Art. 3 EMRK garantierten Rechte könnte einem Asylwerber dadurch drohen, dass er bei Überstellung nach Griechenland trotz Berechtigung seines Schutzbegehrens der Gefahr einer - direkten oder indirekten - Abschiebung in den Herkunftsstaat ausgesetzt wäre (Kettenabschiebung; vgl. etwa Punkt 2.2. der Entscheidungsgründe des hg. Erkenntnisses vom , Zl. 2006/19/0673, mwN), dass er dort (schutzlos) körperlichen Misshandlungen insbesondere durch Sicherheitskräfte ausgesetzt wäre (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2005/01/0317) oder dass ihm Unterkunft und Versorgung nicht (rechtzeitig) zur Verfügung gestellt würde und er deshalb keine Lebensgrundlage vorfindet (vgl. dazu allgemein etwa das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2008/19/0174, und im Besonderen zur Lage in Griechenland jüngst das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom , U 694/10).
3. Bei der Zweitbeschwerdeführerin wurde anlässlich einer von Amts wegen veranlassten medizinischen Untersuchung am eine belastungsabhängige krankheitswertige psychische Störung festgestellt. Nach Einschätzung der untersuchenden Ärztin stehe diese einer Überstellung nach Griechenland nicht entgegen, zumal ihre Behandlung in jedem Land der EU möglich sein sollte. Dies sei jedoch - so die Ärztin in ihrer Stellungnahme - von der Behörde zu klären.
Die beschwerdeführenden Parteien führten sowohl in ihren erstinstanzlichen Einvernahmen als auch in den Berufungen die ihrer Ansicht nach menschenrechtswidrige Behandlung von Fremden bzw. Asylsuchenden in Griechenland als Grund ihrer Weiterreise nach Österreich an. Im Rechtsmittelverfahren traten sie auch der Einschätzung des Bundesasylamtes, die Unterbringung und Versorgung sei in Griechenland gesichert, unter Hinweis auf einen gegenteiligen Bericht von "Pro Asyl" vom Oktober 2007 entgegen. Sie verwiesen überdies auf Ungereimtheiten in den erstinstanzlichen Länderfeststellungen, zumal dort auch ein Bericht des US Department of State vom März 2007 zitiert worden sei, wonach unzureichend ausgestattete Aufnahmelager und das mangelhaft entwickelte System der Flüchtlingsversorgung und Wohlfahrt kritisiert würden.
4. Bei dieser Sachlage reichen die Erhebungen der Asylbehörden nicht aus, um eine abschließende Beurteilung der Beschwerdefälle zu ermöglichen.
§ 5 Abs. 3 AsylG 2005 enthält zwar eine Beweisregel, die es - im Hinblick auf die vom Rat der Europäischen Union vorgenommene normative Vergewisserung - grundsätzlich nicht notwendig macht, die Sicherheit des Asylwerbers vor "Verfolgung" in dem nach der Dublin-Verordnung zuständigen Mitgliedstaat (insbesondere gemeint im Sinne der Achtung der Grundsätze des Non-Refoulements durch diesen Staat) von Amts wegen in Zweifel zu ziehen. Die damit aufgestellte Sicherheitsvermutung ist jedoch widerlegt, wenn besondere Gründe, die in der Person des Asylwerbers gelegen sind, glaubhaft gemacht werden oder bei der Behörde offenkundig sind, die für die reale Gefahr des fehlenden Schutzes vor Verfolgung in diesem Mitgliedstaat sprechen (vgl. dazu grundlegend bereits das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2006/01/0949, und zu Griechenland im Besonderen das hg. Erkenntnis vom heutigen Tag, Zl. 2008/19/0593, mwN).
Angesichts der Bedenken, die seit vielen Jahren wiederholt und von namhaften internationalen Stellen (wie etwa dem UNHCR) an der griechischen Asylpraxis geäußert werden, und in Kenntnis um die allgemeine Situation von
Asylsuchenden in Griechenland, durfte die belangte Behörde jedenfalls in einem Fall wie dem vorliegenden, in dem sie die Rückkehrsituation einer Familie mit einer psychisch erkrankten Frau und zwei minderjährigen Kindern (sie waren bei Bescheiderlassung fünf und sechs Jahre alt) zu beurteilen hatte, nicht von der zuvor beschriebenen Sicherheitsvermutung ausgehen. Vielmehr wären ergänzende Erhebungen durch das Bundesasylamt zu veranlassen gewesen, insbesondere um sicher sein zu können, dass die beschwerdeführenden Parteien im Falle ihrer Rücküberstellung nach Griechenland durch eine mangelnde Versorgung nicht in ihren nach Art. 3 EMRK garantierten Rechten verletzt werden. In diesem Sinn hat auch der Verfassungsgerichtshof erkannt, dass es bei Rücküberstellung schutzwürdiger Personen nach Griechenland zur Durchführung der Asylverfahren einer fallbezogenen individuellen Zusicherung der zuständigen griechischen Behörden (im Hinblick auf die Versorgung der betreffenden Asylwerber) bedarf, um eine Verletzung von Art. 3 EMRK ausschließen zu können (vgl. das bereits zitierte Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom , U 694/10). Eine solche individuelle Versorgungszusicherung seitens der griechischen Behörden lag der belangten Behörde nach der Aktenlage nicht vor.
Da die belangte Behörde weitere Erhebungen auch ausgehend von ihrer unzutreffenden Annahme, den Erfordernissen des § 5 Abs. 3 AsylG 2005 in ausreichendem Maße entsprochen zu haben, nicht vornahm, hat sie die angefochtenen Bescheide mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet.
Sie waren deshalb gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufzuheben.
Der Kostenausspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. II Nr. 455.
Wien, am
Fundstelle(n):
RAAAE-82282