VwGH vom 14.03.2013, 2010/22/0170
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Bernegger, die Hofräte Dr. Robl und Mag. Eder, die Hofrätin Mag. Dr. Maurer-Kober sowie den Hofrat Mag. Straßegger als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Perauer, über die Beschwerde des E, vertreten durch MMag. Salih Sunar, Rechtsanwalt in 6020 Innsbruck, Salurnerstraße 14/1. Stock, gegen den Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Tirol vom , Zl. E1/14352/10, betreffend Erlassung eines unbefristeten Aufenthaltsverbotes, zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.326,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.
Begründung
Mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid erließ die belangte Behörde gegen den Beschwerdeführer, einen türkischen Staatsangehörigen, ein auf § 60 Abs. 1 und Abs. 2 Z. 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 - FPG gestütztes, unbefristetes Aufenthaltsverbot.
Begründend führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, der Beschwerdeführer habe im Jahr 2002 in der Türkei eine Österreicherin geheiratet und sei 2003 behördlich erlaubt zu ihr nach Österreich gekommen. Ab Jänner 2004 sei der Beschwerdeführer als Hilfsarbeiter bei einem näher genannten Unternehmen erwerbstätig gewesen. Mit Beschluss vom sei die Ehe des Beschwerdeführers gemäß § 55a Ehegesetz im Einvernehmen geschieden worden. Seit Jänner 2008 sei der Beschwerdeführer in Österreich selbständig als Transportunternehmer tätig. Vom bis sei er in Haft gewesen und suche seither eine Arbeitsstelle.
Der Beschwerdeführer sei drei Mal strafgerichtlich verurteilt worden, und zwar zunächst am wegen des Vergehens der Körperverletzung zu einer Geldstrafe, weil er seiner damaligen Freundin am eine Ohrfeige versetzt habe, wodurch diese eine Gesichtsprellung erlitten habe. Mit einem weiteren Urteil vom sei der Beschwerdeführer wegen der Vergehen der Veruntreuung nach § 133 Abs. 1 StGB und der Urkundenfälschung nach § 223 Abs. 1 StGB zu einer Geldstrafe verurteilt worden, weil er am im Zuge seiner Tätigkeit als Paketzusteller eine Sendung im Wert von EUR 10,-- sich oder einem Dritten mit Bereicherungsvorsatz zugeeignet habe, indem er das Paket nicht an die Empfängerin übergeben und auf dem Zustellnachweis eine falsche Unterschrift angefertigt habe. Schließlich sei der Beschwerdeführer mit Urteil des Landesgerichtes Innsbruck vom wegen des Verbrechens des Suchtgifthandels nach § 28a Abs. 1 fünfter Deliktsfall SMG sowie wegen des Vergehens des unerlaubten Umganges mit Suchtgiften nach § 27 Abs. 1 Z. 1 erster und zweiter Deliktsfall und Abs. 2 SMG zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von 21 Monaten verurteilt worden. Dem sei zu Grunde gelegen, dass der Beschwerdeführer vom bis in einer die Grenzmenge (§ 28b SMG) übersteigenden Gesamtmenge im Verlauf unzähliger Teilgeschäfte Cannabisprodukte und Kokain gewinnorientiert verkauft und wiederholt solche Suchtgifte zum persönlichen Gebrauch erworben und besessen habe. Dieses Gesamtfehlverhalten beurteilte die belangte Behörde dahingehend, dass es deutlich die negative Einstellung des Beschwerdeführers zeige und er nicht gewillt sei, die Rechtsordnung entsprechend zu achten, woraus sich die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und der Gesundheit anderer ergebe. Die zuletzt genannte Verurteilung wegen des Verbrechens des Suchtgifthandels zu einer unbedingten Freiheitsstrafe in der Dauer von 21 Monaten erfülle den Tatbestand des § 60 Abs. 2 Z. 1 erster Fall FPG.
Es liege ein relevanter Eingriff in das Privat- oder Familienleben des Beschwerdeführers im Sinn des § 66 FPG vor, der jedoch im Hinblick auf die sich im Gesamtfehlverhalten manifestierende Neigung des Beschwerdeführers, sich über die Rechtsordnung hinwegzusetzen, zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele der Verhinderung (weiterer) strafbarer Handlungen, des Schutzes der Rechte anderer (auf Gesundheit) dringend geboten sei. Der Beschwerdeführer halte sich seit sieben Jahren rechtmäßig in Österreich auf und sei nach seinen Angaben in der Berufung in Österreich sozial, gesellschaftlich und auch am Arbeitsmarkt sehr gut integriert und spreche auch sehr gut deutsch. Er sei geschieden und für niemanden sorgepflichtig. Von seinem Heimatstaat sei er noch nicht so lange weg, dass er sich mit den dortigen Gegebenheiten wie der Sprache und der Kultur nicht mehr zurechtfinden könne. Die soziale Komponente seiner Integration werde durch die schweren Drogendelikte über einen Zeitraum von über zwei Jahren erheblich beeinträchtigt und in ihrem Gewicht gemindert. Der Verhinderung des Drogenhandels komme ein sehr großes öffentliches Gewicht zu. Die privaten und familiären Interessen des Beschwerdeführers am Verbleib im Bundesgebiet wögen nicht so schwer, wie die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von der Erlassung eines Aufenthaltsverbotes, weshalb dessen Erlassung auch zulässig sei und der Beschwerdeführer die für ihn entstehenden Unannehmlichkeiten in Kauf nehmen müsse. Angesichts der Vorstrafen und der zu Grunde liegenden Sachverhalte in der relativ kurzen Zeit des Aufenthaltes des Beschwerdeführers im Bundesgebiet könne zum jetzigen Zeitpunkt nicht vorhergesehen werden, wann seine Gefährlichkeit für die öffentliche Sicherheit und Gesundheit weggefallen sein werde, weshalb das Aufenthaltsverbot unbefristet erlassen werde.
Im Weiteren legte die belangte Behörde noch dar, dass von der Erlassung eines Aufenthaltsverbotes auch nicht im Rahmen des von der Behörde zu übenden Ermessens Abstand genommen werden könne.
Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde nach Vorlage der Verwaltungsakten und Erstattung einer Gegenschrift durch die belangte Behörde erwogen:
Eingangs ist festzuhalten, dass sich die Beurteilung des gegenständlichen Falles im Hinblick auf den Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides () nach den Bestimmungen des FPG in der Fassung des BGBl. I Nr. 135/2009 richtet.
Der Beschwerdeführer bringt u.a. vor, er falle in den Anwendungsbereich des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei über die Entwicklung der Assoziation vom (im Folgenden: ARB 1/80). Dieses Vorbringen verhilft der Beschwerde zum Erfolg.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes haben über Berufungen gegen Entscheidungen nach dem FPG, wenn es sich bei dem Fremden um einen türkischen Staatsangehörigen, dem die Rechtsstellung nach Art. 6 oder Art. 7 ARB 1/80 zukommt, die unabhängigen Verwaltungssenate zu entscheiden (vgl. das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2008/18/0710, mwN).
Die belangte Behörde ging im angefochtenen Bescheid offensichtlich vom Vorbringen des Beschwerdeführers, er sei am Arbeitsmarkt sehr gut integriert, aus und stellte fest, dass der Beschwerdeführer im Jahr 2003 behördlich erlaubt zu seiner österreichischen Ehefrau in das Bundesgebiet gekommen sei und ab Jänner 2004 behördlich erlaubt als Hilfsarbeiter bei einem genannten Unternehmen gearbeitet habe. Ab Jänner 2008 sei er in Österreich selbständig als Transportunternehmer tätig, von bis in Haft und danach auf der Suche nach einer Arbeitsstelle gewesen.
Gemäß Art. 6 Abs. 1 dritter Spiegelstrich ARB 1/80 hat ein türkischer Arbeitnehmer, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaates angehört, in diesem Mitgliedstaat nach vier Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis. Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hat im Urteil vom , Rechtssache C-383/03 "Dogan", Rn 14 - 23, ausgesprochen, dass die Erfüllung dieser Bestimmung dem türkischen Arbeitnehmer nicht nur ein uneingeschränktes Beschäftigungsrecht verleiht, sondern außerdem zwangsläufig die Existenz eines entsprechenden Aufenthaltsrechtes voraussetzt. Ab dem Zeitpunkt, zu dem der türkische Arbeitnehmer die Voraussetzungen der genannten Bestimmung erfüllt, sind die in Art. 6 Abs. 2 ARB 1/80 geregelten Fälle der Unterbrechung nicht mehr anwendbar. Ihm ist das Recht eingeräumt, sein Arbeitsverhältnis vorübergehend zu unterbrechen, etwa die bisherige Erwerbstätigkeit aufzugeben, um eine andere zu suchen, sofern er tatsächlich eine neue Arbeit sucht und der Arbeitsverwaltung zur Verfügung steht. Dies gilt unabhängig davon, welchen Grund die Abwesenheit des Betroffenen vom Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaates hat, sofern die Abwesenheit vorübergehender Natur ist. So bleibt selbst eine - auch langfristige - Inhaftierung des Betroffenen unbeachtlich, wenn sie nicht seine weitere Teilnahme am Erwerbsleben ausschließt. Anderes gilt, wenn der türkische Arbeitnehmer dem regulären Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaates endgültig nicht mehr angehört, weil er objektiv keine Möglichkeit mehr hat, sich in den Arbeitsmarkt wieder einzugliedern, oder wenn er den Zeitraum überschritten hat, der angemessen ist, um nach dem Ende seiner Inhaftierung eine neue Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis zu finden (vgl. dazu auch das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2011/23/0454).
Aus diesen Grundsätzen folgt für den gegenständlichen Fall, dass nach den Feststellungen im angefochtenen Bescheid nicht ausgeschlossen werden kann, dass der Beschwerdeführer ein Beschäftigungs- und Aufenthaltsrecht nach Art. 6 Abs. 1 dritter Spiegelstrich ARB 1/80 erworben hat. Da der Beschwerdeführer zuletzt wieder auf der Suche nach einer Arbeitsstelle war, wäre seine Berechtigung nach dem ARB 1/80 durch die Haftzeit nicht verloren gegangen. Für den Grund und den Umfang der selbständigen Tätigkeit des Beschwerdeführers, und ob diese schon von Beginn an vorübergehender Natur war, sowie die Frage, ob der Beschwerdeführer während dieser Tätigkeit dem Arbeitsmarkt zur Verfügung gestanden ist, fehlt allerdings ein hinreichend konstatierter Sachverhalt im angefochtenen Bescheid, um verlässlich beurteilen zu können, ob der Beschwerdeführer die Rechtsstellung nach Art. 6 Abs. 1 dritter Spiegelstrich ARB 1/80 erlangt hat, und ob die Abwesenheit des Beschwerdeführers vom Arbeitsmarkt endgültig oder nur vorübergehend war. Derartige Feststellungen können auch nicht durch die Ausführungen der belangten Behörde in der Gegenschrift über ein dauerhaftes Ausscheiden des Beschwerdeführers aus dem unselbständigen Arbeitsmarkt ersetzt werden (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2008/18/0710).
Sohin war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG wegen - vorrangig wahrzunehmender - Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008. Das den Pauschalsatz übersteigende Mehrbegehren war abzuweisen.
Wien, am