VwGH vom 26.06.2012, 2010/22/0164
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Bernegger, die Hofräte Dr. Robl und Mag. Eder, die Hofrätin Mag. Dr. Maurer-Kober und den Hofrat Mag. Straßegger als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Perauer, über die Beschwerde der E, vertreten durch Dr. Werner Zach, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Spiegelgasse 19, gegen den Bescheid der Bundesministerin für Inneres vom , Zl. 147.706/4-III/4/10, betreffend Aufenthaltstitel, zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid wies die belangte Behörde den am eingebrachten Antrag der Beschwerdeführerin, einer nigerianischen Staatsangehörigen, auf Erteilung eines Aufenthaltstitels "Familienangehöriger" gemäß § 21 Abs. 1 iVm § 21 Abs. 3 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) ab.
Zur Begründung führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, die Beschwerdeführerin sei am illegal nach Österreich eingereist und habe noch am selben Tag einen Asylantrag eingebracht. Über diesen Antrag sei mit rechtskräftig "negativ" iVm einer Ausweisung entschieden worden. Am habe die Beschwerdeführerin einen österreichischen Staatsbürger geheiratet. Bereits am habe sie die Erteilung eines Aufenthaltstitels "Familienangehöriger" beantragt, der wegen des noch anhängigen Asylverfahrens rechtskräftig zurückgewiesen worden sei.
Am habe sie die Erteilung einer Daueraufenthaltskarte beantragt und dazu ausgeführt, dass ihr Ehemann sein Recht auf Freizügigkeit in Anspruch genommen hätte. Dieser Antrag sei mit Bescheid vom abgewiesen worden.
Den gegenständlichen Antrag habe die Beschwerdeführerin am gestellt und einen Antrag gemäß § 21 Abs. 3 NAG auf Zulässigkeit der Inlandsantragstellung eingebracht.
Die Beschwerdeführerin sei zwischenzeitig in Spanien aufhältig gewesen und im März 2009 mit einem spanischen Aufenthaltstitel eingereist. Sie hätte gemäß § 21 Abs. 1 NAG den Antrag bei der örtlich zuständigen Berufsvertretungsbehörde im Ausland einbringen und die Entscheidung über den Antrag im Ausland abwarten müssen. Somit stehe § 21 Abs. 1 NAG einer Bewilligung des gegenständlichen Antrages entgegen.
Gemäß § 21 Abs. 3 NAG könne die Behörde auf begründeten Antrag die Antragstellung im Inland unter anderem dann zulassen, wenn die Ausreise des Fremden aus dem Bundesgebiet zum Zweck der Antragstellung nachweislich zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinn des Art. 8 EMRK nicht möglich oder nicht zumutbar ist. Im entsprechenden Antrag habe die Beschwerdeführerin angegeben, dass sie seit 2005 in Österreich aufhältig wäre. Von Jänner bis März 2009 hätte sie mit ihrem Ehemann in Spanien gelebt.
Durch den Aufenthalt des Ehemannes in Österreich - so die weitere Bescheidbegründung - bestünden zwar unbestritten private und auch familiäre Interessen. Das Familienleben eines Fremden genieße aber nur dann einen erhöhten Schutz, wenn die familiären Beziehungen zu einem Zeitpunkt begründet worden seien, als der Fremde rechtmäßig im Bundesgebiet niedergelassen gewesen sei und mit der Erteilung weiterer Bewilligungen habe rechnen dürfen. Das Privat- und Familienleben der Beschwerdeführerin sei jedoch in einem Zeitpunkt entstanden, in dem sie sich ihres unsicheren Aufenthaltsstatus zweifelsfrei bewusst gewesen sei. Aus diesem Grund sei das Interesse an der Wahrung eines geordneten Fremdenwesens höher zu bewerten als die privaten Interessen der Beschwerdeführerin.
Diese habe bereits einen Antrag auf Erteilung einer Daueraufenthaltskarte eingebracht und dabei ausgeführt, dass ihr Ehemann vom 7. Jänner bis in Spanien gewesen wäre, dort seinen in Madrid lebenden Bruder besucht hätte und keiner beruflichen Tätigkeit nachgegangen wäre. Die Beschwerdeführerin selbst habe auf Grund der Ehe mit einem Österreicher einen spanischen Aufenthaltstitel erhalten. Sie habe nicht dargetan, dass ihr Ehemann das gemeinschaftsrechtliche Aufenthaltsrecht in Anspruch genommen hätte.
Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde nach Aktenvorlage samt Gegenschrift durch die belangte Behörde erwogen:
Die Abweisung des gegenständlichen Antrages wurde damit begründet, dass die Beschwerdeführerin entgegen § 21 Abs. 1 NAG den Antrag im Inland gestellt habe.
Die Richtigkeit dieser Ansicht ist einer Überprüfung allerdings noch nicht zugänglich. Gemäß § 21 Abs. 2 Z 1 NAG sind nämlich Familienangehörige von Österreichern, auch wenn diese ihr unionsrechtliches Freizügigkeitsrecht nicht in Anspruch genommen haben, während ihres rechtmäßigen Aufenthalts zur Antragstellung im Inland (und zum Abwarten der Entscheidung im Inland) berechtigt. Rechtmäßig ist ihr Aufenthalt (soweit hier relevant) gemäß § 31 Abs. 1 Z 3 FPG idF BGBl. I Nr. 122/2009 dann, wenn sie Inhaber eines von einem Vertragsstaat ausgestellten Aufenthaltstitels sind (sofern sie während ihres Aufenthaltes im Bundesgebiet keiner unerlaubten Erwerbstätigkeit nachgehen). Die belangte Behörde spricht zwar in der Bescheidbegründung von der Einreise der Beschwerdeführerin mit einem spanischen "Aufenthaltstitel", unterlässt aber nähere Feststellungen, ob es sich tatsächlich um einen Aufenthaltstitel und nicht (bloß) um eine Dokumentation (Aufenthaltskarte) handelt und über die Geltungsdauer dieses Titels insbesondere im Blick auf den Zeitpunkt der Bescheiderlassung.
Hindert nicht schon die genannte Ausnahmebestimmung die Anwendung des § 21 Abs. 1 NAG, kommt der Frage Bedeutung zu, ob die Ansicht der belangten Behörde zutrifft, dass die Beschwerdeführerin mangels Ausübung des unionsrechtlichen Freizügigkeitsrechts nach der Richtlinie 2004/38/EG (im Folgenden: RL) durch ihren österreichischen Ehemann keine Rechte aus der RL geltend machen kann. Wäre dies doch der Fall, hätte der Antrag nicht wegen unzulässiger Inlandsantragstellung abgewiesen werden dürfen (vgl. das hg. Erkenntnis vom , 2008/22/0439).
Die belangte Behörde hat auf die Aussage der Beschwerdeführerin vom verwiesen, in der diese ausgeführt hat, dass sie von Jänner bis März 2009 mit ihrem Ehemann zusammen in Spanien gelebt habe. Im Verwaltungsakt erliegt eine am eingelangte Stellungnahme des Ehemannes, der zufolge er sich vom 7. Jänner bis in Spanien aufgehalten habe, keiner beruflichen Tätigkeit nachgegangen sei und seinen in Madrid wohnhaften Bruder besucht habe.
Zunächst ist zum Fragenkreis der Inanspruchnahme der unionsrechtlichen Freizügigkeit gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG auf die Entscheidungsgründe des hg. Erkenntnisses vom , 2010/22/0011, zu verweisen. Aus der Stellungnahme des Ehemannes der Beschwerdeführerin folgt, dass sich dieser - ohne Berufstätigkeit - mehr als drei Monate in Spanien aufgehalten habe. Somit war er nicht Arbeitnehmer oder Selbständiger im Aufnahmemitgliedstaat gemäß Art. 7 Abs. 1 lit. a RL, wohl aber könnte eine Inanspruchnahme des Rechts auf Aufenthalt für einen Zeitraum von über drei Monaten gemäß Art. 7 Abs. 1 lit. b RL zum Tragen kommen. Demzufolge besteht das Recht auf Aufenthalt für einen Zeitraum von über drei Monaten, wenn der Unionsbürger für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel und einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügt. Beide Fragen wurden von der belangten Behörde nicht geprüft, obwohl nicht auszuschließen ist, dass der Ehemann der Beschwerdeführerin ein Recht nach Art. 7 RL tatsächlich ausgeübt hat. Dies hätte jedenfalls die bereits angesprochene Folge, dass die Antragstellung im Inland nicht als Grund für die Abweisung des Antrages hätte herangezogen werden dürfen.
Die belangte Behörde hat aber auch die Interessenabwägung nach § 21 Abs. 3 NAG nicht ordnungsgemäß vorgenommen. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes kommt nämlich der Bindung eines Fremden an einen österreichischen Ehepartner im Rahmen der Abwägung nach Art. 8 EMRK große Bedeutung zu (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom , 2009/22/0272). In einem solchen Fall müssen nähere Feststellungen zu den Lebensverhältnissen des Fremden und seines Ehepartners sowie zu den Bindungen zum Heimatstaat getroffen werden. Dies hat die belangte Behörde hier unterlassen, sondern lediglich in rechtsirriger Weise ausgeführt, dass das Familienleben eines Fremden "nur dann" einen erhöhten Schutz genießen würde, wenn die familiären Beziehungen zu einem Zeitpunkt des rechtmäßigen Aufenthaltes im Bundesgebiet begründet worden seien. Es stimmt zwar, dass die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Drittstaatsangehörigen in einem Zeitpunkt entstanden ist, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren, bei der Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK zu berücksichtigen ist (vgl. § 11 Abs. 3 Z 8 NAG), allerdings trifft es nicht zu, dass das Familienleben eines Fremden nur dann einen erhöhten Schutz genießt, wenn kein unsicherer Aufenthaltsstatus vorliegt.
Letztlich gleicht der Beschwerdefall vor dem Hintergrund der Ausführungen des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH) im Urteil vom , C-256/11, "Dereci u.a.", darin, dass die belangte Behörde in Verkennung der durch den EuGH nunmehr klargestellten Rechtslage nicht an Hand des unionsrechtlich vorgegebenen Maßstabes geprüft hat, ob der vorliegende Fall einen solchen Ausnahmefall, wonach es das Unionsrecht gebietet, dem Drittstaatsangehörigen den Aufenthalt zu gewähren, darstellt, jenem Fall, der dem hg. Erkenntnis vom , 2011/22/0309, zu Grunde lag. Gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG wird sohin insoweit auch auf die Entscheidungsgründe dieses Erkenntnisses verwiesen.
Auch im vorliegenden Fall wird die belangte Behörde dazu allenfalls im fortzusetzenden Verfahren nach Einräumung von Parteiengehör - diese Frage ist nicht mit der Beurteilung nach Art. 8 EMRK gleichzusetzen und war bisher nicht Gegenstand des behördlichen Verfahrens - entsprechende Feststellungen zu treffen haben.
Der angefochtene Bescheid war sohin insgesamt wegen vorrangig wahrzunehmender inhaltlicher Rechtswidrigkeit gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.
Wien, am
Fundstelle(n):
NAAAE-82227