VwGH vom 26.06.2012, 2010/22/0123

VwGH vom 26.06.2012, 2010/22/0123

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Bernegger und die Hofräte Dr. Robl und Mag. Eder als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Perauer, über die Beschwerde der B, vertreten durch Dr. Max Pichler, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Rathausstraße 21, gegen den Bescheid der Bundesministerin für Inneres vom , Zl. 152.178/2-III/4/08, betreffend Aufenthaltstitel, zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.326,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid wies die belangte Behörde den Antrag der Beschwerdeführerin, einer brasilianischen Staatsangehörigen, vom auf Erteilung eines Aufenthaltstitels "Familienangehöriger" gemäß § 11 Abs. 2 Z 2 und § 11 Abs. 2 Z 4 iVm Abs. 5 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) ab.

Zur Begründung führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, dass die Beschwerdeführerin am einen österreichischen Staatsbürger geheiratet habe. Am sei der gemeinsame Sohn geboren worden, der die brasilianische und österreichische Staatsbürgerschaft besitze. Am sei die Beschwerdeführerin in Österreich eingereist.

Die Beschwerdeführerin selbst verfüge über kein eigenes Einkommen. Die L-GmbH, an der die Beschwerdeführerin beteiligt sei, erwirtschafte nur Verluste. Gemäß § 293 Abs. 1 ASVG benötigten die Beschwerdeführerin, ihr Ehemann und der gemeinsame Sohn ein durchschnittliches monatliches Nettoeinkommen von zumindest EUR 1.239,03. Der Ehemann der Beschwerdeführerin wäre angeblich seit bis jetzt bei der M-GmbH erwerbstätig, wo er "scheinbar" monatlich durchschnittlich netto EUR 2.157,43 verdiene. Dies sei aber trotz ausdrücklicher behördlicher Aufforderung vom nicht nachgewiesen worden. Es sei keine Abwicklung über ein Gehaltskonto nachgewiesen worden.

Weiters sei der Ehemann der Beschwerdeführerin mit einem Darlehen von EUR 35.368,-- verschuldet. Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom sei er nach § 159 Abs. 1 Z 1, § 156 Abs. 1 und 2 StGB und § 36 Abs. 1 Z 1 Waffengesetz zu einer Freiheitsstrafe von 24 Monaten, davon 18 Monate bedingt nachgesehen, rechtskräftig verurteilt worden.

Die Aktenlage zeige, dass sich der Ehemann weiter im selben personellen Bezugsfeld bewege wie vor seiner Verurteilung und seinem vorangegangenen zwölfjährigen Auslandsaufenthalt, und er weiterhin versuche, die Behörde über tatsächliche Gegebenheiten zu täuschen. So handle es sich bei der Unterkunftgeberin RS in Wahrheit um seine vieljährige Lebensgefährtin, mit der er als faktischer Eigentümer die L-GmbH, ein Animierlokal, betreibe oder jedenfalls bis vor kurzem betrieben habe. Bei den drei Personen, die eidesstattlich die angebliche Ausreise der Beschwerdeführerin am aus dem österreichischen Bundesgebiet bestätigt hätten, handle es sich um solche, die sich laut Gerichtsakt bereits früher als Lebensgefährtin und Mitverdächtige bzw. Mittäter im Umfeld des Ehemannes bewegt hätten. Auch EM habe eidesstattlich bestätigt, dass die Beschwerdeführerin Österreich ordnungsgemäß verlassen hätte. Dabei sei von einer "Gefälligkeitsbezeugung" auszugehen. Wenn daher EM als geschäftsführende Gesellschafterin der M-GmbH bestätige, dass der Ehemann der Beschwerdeführerin dort als Baustellenleiter auf Provisionsbasis und anschließend als Angestellter aufgenommen worden sei, so sei dies beispielsweise (zumindest hinsichtlich der Gehaltshöhe) nur eingeschränkt glaubwürdig. EM sei mittlerweile nur mehr Angestellte in diesem Unternehmen. Wenn ferner ein zwischen dem Ehemann und einer GU BaugesmbH am angeblich abgeschlossener arbeitsrechtlicher Vorvertrag als Einkommensnachweis vorgelegt werde, während JM dort Angestellter gewesen sei, ein Dienstverhältnis jedoch weiter nicht zustande gekommen sei, so sei auch dies als Täuschungsversuch der erkennenden Behörde gegenüber zu werten. Analoges gelte für das der Behörde vorgelegte und vom Geschäftsführer der M-GmbH, CP, scheinbar gefertigte Schreiben vom an den Ehemann der Beschwerdeführerin, das in unüblicher Weise von diesem mit unterfertigt worden sei und mit dem bestätigt werde, dass der monatliche Nettolohn bar ausbezahlt würde. Aufgrund der Namensgleichheit sei davon auszugehen, dass CP in einem persönlichen Naheverhältnis zu FP stehe, der schon früher vom Ehemann der Beschwerdeführerin als formal verantwortlich haftender "Strohmann" im Zuge seiner Straftaten benutzt worden sei. Demnach sei davon auszugehen, dass den vorgelegten Unterlagen wenig Beweiskraft zukomme. Dem Ehemann der Beschwerdeführerin sei es nicht gelungen, eine unbedenkliche Erwerbstätigkeit aufzunehmen. Somit dürfe gemäß § 11 Abs. 2 Z 4 iVm Abs. 5 NAG kein Aufenthaltstitel erteilt werden.

Weiters sei kein Rechtsanspruch auf eine ortsübliche Wohnung nachgewiesen worden. Es handle sich um eine Kleinwohnung im Ausmaß von 48,57 m2 Nutzfläche. Die Beschwerdeführerin lebe mit dem Ehemann und dem Sohn derzeit wieder zusammen in Wien, dies - nach meldeamtlichen Angaben - gemeinsam mit zwei erwachsenen weiblichen Personen. Die dauernde Nutzung dieser Unterkunft durch vier bis fünf Personen sei auf Grund der zu geringen Wohnungsgröße als nicht ortsüblich anzusehen.

Es sei auch die Erteilung des Aufenthaltstitels nicht zur Aufrechterhaltung des Privat- oder Familienlebens im Sinn des Art. 8 EMRK geboten. Durch den Aufenthalt des Ehemannes bestünden "nur scheinbar familiäre Bindungen" in Österreich. Der Ehemann sei auf Grund eines Haftbefehls am festgenommen worden. Nach der Aktenlage hätte die Beschwerdeführerin mit ihrem Ehemann von Juli 1996 bis in Brasilien gelebt. In Österreich hätte sie demgegenüber nur im Jahr 2009 einmal während eines sichtvermerksfreien Aufenthaltes ca. drei Monate mit ihrem Ehemann zusammengelebt und lebe gegenwärtig erst seit angeblich wieder gemeinsam mit ihm in Wien. Der Sohn lebe nach ihren Angaben in Brasilien bei seinen Großeltern. Die Beschwerdeführerin lebe daher seit ihrer Eheschließung zusammen mit ihrem Sohn im Herkunftsstaat, jedenfalls aber außerhalb des österreichischen Bundesgebietes. Da im vorliegenden Fall erst seit bis dato ein Familienleben in Österreich geführt werde, könne auch nicht von einem Erfordernis einer Aufrechterhaltung des Privat- oder Familienlebens gesprochen werden. Die Berufung sei daher jedenfalls abzuweisen, weil die Gesichertheit des Lebensunterhaltes samt Unterkunft nach dem Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz wichtige Grundvoraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels darstellten.

Letztlich erfülle die Beschwerdeführerin nicht die Voraussetzungen der Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38/EG.

Der Verwaltungsgerichtshof hat - nach Ablehnung der an den Verfassungsgerichtshof gerichteten Beschwerde mit Beschluss vom , B 1480/09-8, und Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof - über die ergänzte Beschwerde nach Aktenvorlage durch die belangte Behörde erwogen:

Zunächst wirft die Beschwerde der belangten Behörde zu Recht Verfahrensfehler vor.

Die erstinstanzliche Behörde hat im Bescheid vom im Wesentlichen zum Ausdruck gebracht, dass der Ehemann der Beschwerdeführerin derzeit eine Haftstrafe verbüße und die Beschwerdeführerin selbst lediglich einen monatlichen Gewinn von EUR 800,-- als Gesellschafterin entnehme. Somit sei der Nachweis der gesicherten Lebensgrundlage auf Grund der Richtsätze des § 293 ASVG nicht erfüllt.

In der Berufung hat die Beschwerdeführerin bereits darauf verwiesen, dass ihr Ehemann in Österreich als Bautechniker zu arbeiten begonnen habe und damit über ein ausreichendes Einkommen von EUR 1.395,-- verfüge. Der (auch) die österreichische Staatsbürgerschaft besitzende Sohn könne in Österreich nicht leben, es sei denn, er würde dies ohne seine Mutter tun. Die andere Alternative wäre, dass er in Brasilien lebe, dafür aber ohne seinen Vater. Die Versagung eines Aufenthaltstitels würde ungerechtfertigter Weise zu Lasten des Rechts auf ein Familienleben der Beschwerdeführerin gehen.

Im zweitinstanzlichen Verfahren hat die belangte Behörde mehrfach, zuletzt am , von der Beschwerdeführerin Unterlagen angefordert. Die Beschwerdeführerin hat mehrfach, zuletzt mit Schriftsatz vom , Unterlagen vorgelegt. Bereits dem Schriftsatz vom waren Lohnzettel der Monate Februar bis April 2009 über ein Einkommen des Ehemannes der Beschwerdeführerin netto von EUR 1.849,23, EUR 1.849,23 und EUR 2.067,99 angeschlossen.

Zutreffend wirft nun die Beschwerdeführerin der belangten Behörde vor, dass diese weder zur Frage der Ortsüblichkeit der Unterkunft noch zur angenommenen Unrichtigkeit der Einkommensbestätigung Parteiengehör gewährt hat. Aus diesem Grund hat sie den angefochtenen Bescheid mit einem relevanten Verfahrensmangel belastet.

Weiters hat die belangte Behörde zwar eine Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK angesprochen. Sie hat diese Interessenabwägung aber nur unzureichend durchgeführt, obwohl sie in den Feststellungen davon ausgegangen ist, dass die gesamte Familie der Beschwerdeführerin nunmehr in Österreich lebt.

Der Bindung eines Fremden an einen österreichischen Ehepartner kommt nämlich im Rahmen der Abwägung nach Art. 8 EMRK große Bedeutung zu. In einem solchen Fall müssen nähere Feststellungen zu den Lebensverhältnissen des Fremden und seines Ehepartners sowie zu den Bindungen zum Heimatstaat und zur Möglichkeit und Zumutbarkeit der Führung eines Familienlebens außerhalb Österreichs getroffen werden. Auch wenn im vorliegenden Fall anzunehmen ist, dass die Beschwerdeführerin mit ihrer Familie auch in Brasilien leben könnte, entbindet dies die belangte Behörde nicht von ihrer Verpflichtung, Feststellungen zu den Lebensverhältnissen der Beschwerdeführerin und ihrer Familie in Österreich zu treffen. Es reicht nicht aus, auf das Fehlen einer Voraussetzung nach § 11 Abs. 2 NAG zu verweisen, bildet dies doch erst die Grundlage dafür, dass eine Interessenabwägung nach § 11 Abs. 3 NAG vorzunehmen ist.

Entgegen der Beschwerdemeinung hat jedoch die belangte Behörde zutreffend die Anwendung der Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38/EG verneint. Allein die Rückkehr von Brasilien nach Österreich erlaubt es nämlich nicht, die Inanspruchnahme des Rechts auf Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union zu bejahen.

Wohl aber ist auch hier das Urteil des Gerichtshofes der Europäischen Union vom , C-256/11, "Dereci u.a.", zu beachten, demzufolge ein Aufenthaltstitel (auch) dann nicht verweigert werden darf, wenn dies dazu führte, dass der die Unionsbürgerschaft besitzende Angehörige (vorliegend sind dies sowohl der Ehemann der Beschwerdeführerin als auch der minderjährige Sohn) sich de facto gezwungen sähe, das Gebiet der Europäischen Union zu verlassen, womit ihm die Inanspruchnahme des Kernbestandes der durch den Unionsbürgerstatus verliehenen Rechte verwehrt wäre.

Zu dieser Frage, die bisher nicht Gegenstand des behördlichen Verfahrens war, wird die belangte Behörde nach Einräumung von Parteiengehör allenfalls Feststellungen zu treffen und eine Beurteilung, die nicht mit der Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK gleichzusetzen ist, vorzunehmen haben.

Wegen der vorrangig wahrzunehmenden inhaltlichen Rechtswidrigkeit war somit der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG - in einem nach § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat - aufzuheben.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

Wien, am