VwGH vom 26.06.2012, 2010/22/0114
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Bernegger und die Hofräte Dr. Robl und Mag. Eder als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Perauer, über die Beschwerde der J, vertreten durch Dr. Michael Drexler, Rechtsanwalt in 1090 Wien, Hörlgasse 4/5, gegen den Bescheid der Bundesministerin für Inneres vom , Zl. 319.940/2-III/4/10, betreffend Aufenthaltstitel, zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.326,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.
Begründung
Mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid wies die belangte Behörde den Antrag der Beschwerdeführerin, einer bosnischen Staatsangehörigen, vom auf Erteilung eines Aufenthaltstitels "Familienangehöriger" gemäß § 11 Abs. 2 Z 4 und § 11 Abs. 5 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) ab.
Dies begründete sie im Wesentlichen damit, dass die Beschwerdeführerin die Familienzusammenführung mit ihrem die österreichische Staatsbürgerschaft besitzenden Ehemann begehre. Der Ehemann sei cerebral minderbegabt. Da er auf Grund seiner geistigen Behinderung nicht im Stande sei, seine Angelegenheiten ohne Gefahr eines Nachteils für sich zu besorgen, sei seine Mutter als Sachwalterin bestellt worden.
Der Ehemann der Beschwerdeführerin beziehe im Rahmen der Beschäftigungstherapie Taschengeld von EUR 22,-- bis 60,-- monatlich, weiters Pflegegeld der Stufe 2 (EUR 224,30) und Einkünfte aus Sozialhilfe (EUR 733,01). Das Einkommen des Ehemannes liege unter den Richtsätzen des § 293 ASVG, weshalb die Unterhaltsmittel nicht gedeckt seien.
Im Zuge der erforderlichen Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK sei zu berücksichtigen, dass zwar durch den Aufenthalt des Ehemannes familiäre Bindungen in Österreich bestünden, jedoch die Sicherung des Lebensunterhaltes eine wichtige Grundvoraussetzung für die Erteilung eines Aufenthaltstitels darstelle. Die Behauptung, dass die Beschwerdeführerin schwanger sei, werde durch keinerlei Beweismittel belegt. Das öffentliche Interesse an der Einhaltung einschlägiger Zuwanderungsbestimmungen überwiege das persönliche Interesse der Beschwerdeführerin an einer Neuzuwanderung. Dem geordneten Zuwanderungswesen komme eine hohe Bedeutung zu, weshalb es von besonderer Wichtigkeit sei, dass die diesbezüglichen Rechtsnormen eingehalten werden.
Die Beschwerdeführerin könne letztlich kein Recht auf Freizügigkeit gemäß den gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften in Anspruch nehmen. Es sei nämlich nicht ersichtlich, dass ihr Ehemann sein Recht auf die gemeinschaftsrechtliche Freizügigkeit in Anspruch genommen hätte.
Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde nach Aktenvorlage durch die belangte Behörde in einem nach § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
Eingangs ist festzuhalten, dass selbst unter Hinzurechnung aller Einkünfte des Ehemannes der Beschwerdeführerin der "Haushaltsrichtsatz" des § 293 ASVG (in der hier maßgeblichen Fassung BGBl. I Nr. 135/2009) von EUR 1.175,45 nicht erreicht wird. Da eine gesetzliche Verpflichtung von dessen Eltern zu einer weiteren Unterhaltsleistung nicht erkennbar ist, ist die Ansicht der belangten Behörde nicht zu beanstanden, dass die allgemeine Erteilungsvoraussetzung ausreichender Unterhaltsmittel nicht erfüllt ist.
Dennoch ist der angefochtene Bescheid mit Rechtswidrigkeit behaftet.
Bei der hier gebotenen Anwendung des § 11 Abs. 3 NAG hatte die belangte Behörde eine Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK vorzunehmen. In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, dass der Bindung eines Fremden an einen österreichischen Ehepartner im Rahmen dieser Abwägung große Bedeutung zukommt. In einem solchen Fall müssen nähere Feststellungen zu den Lebensverhältnissen des Fremden und seines Ehepartners und auch zur Möglichkeit und Zumutbarkeit der Führung eines Familienlebens außerhalb Österreichs getroffen werden (vgl. das hg. Erkenntnis vom , 2009/22/0211). Diesen Anforderungen wird der angefochtene Bescheid nicht gerecht. Die belangte Behörde hat sich damit begnügt, auf die Sicherung des Lebensunterhaltes in Österreich zu verweisen und diesem Gebot lediglich den Aufenthalt des Ehemannes in Österreich gegenüberzustellen. Zu den Lebensverhältnissen und fallbezogen zu einer allfälligen Betreuungsbedürftigkeit des Ehemannes hat die belangte Behörde keine Feststellungen getroffen.
Schließlich verneinte die belangte Behörde zwar zu Recht das Vorliegen eines Freizügigkeitssachverhaltes im Sinn der Richtlinie 2004/38/EG, zumal eine Inanspruchnahme des Rechts auf Freizügigkeit durch den Ehemann der Beschwerdeführerin nicht behauptet wurde. Dem Urteil des Gerichtshofes der Europäischen Union vom , C-256/11, "Dereci u.a.", zufolge darf jedoch ein Aufenthaltstitel (auch) dann nicht verweigert werden, wenn dies dazu führte, dass der die Unionsbürgerschaft besitzende Angehörige sich de facto gezwungen sähe, das Gebiet der Europäischen Union zu verlassen, womit ihm die Inanspruchnahme des Kernbestandes der durch den Unionsbürgerstatus verliehenen Rechte verwehrt wäre.
Zu dieser Frage, die bisher nicht Gegenstand des behördlichen Verfahrens war, wird die belangte Behörde nach Einräumung von Parteiengehör allenfalls Feststellungen zu treffen und eine Beurteilung, die nicht mit der Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK gleichzusetzen ist, vorzunehmen haben.
Der angefochtene Bescheid war daher wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008. Das Mehrbegehren war abzuweisen, weil die Umsatzsteuer im Pauschalbetrag bereits enthalten ist.
Wien, am
Fundstelle(n):
VAAAE-82100