VwGH vom 17.11.2011, 2010/21/0494
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Novak und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Senft, über die Beschwerde der N, vertreten durch Dr. Vedat Gökdemir, Rechtsanwalt in 6020 Innsbruck, Schmerlingstraße 2/2, gegen den Bescheid der Bundesministerin für Inneres vom , Zl. 156.443/2- III/4/10, betreffend Aufenthaltstitel, zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.326,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Die 1985 geborene Beschwerdeführerin ist türkische Staatsangehörige. Laut einem ärztlichen Attest ist sie geistig stark behindert, was körperliche Funktionsverluste im Ausmaß von 90 % zur Folge habe; ihr IQ wird mit 20 - 34 angegeben.
Im Jänner 2010 beantragte die durch ihre, von einem türkischen Gericht zum Vormund bestellte Mutter vertretene Beschwerdeführerin zum Zweck der Familienzusammenführung die Erteilung einer "Niederlassungsbewilligung - beschränkt". Als Zusammenführender wurde ihr in Österreich lebender Vater angegeben, der über einen Aufenthaltstitel "Daueraufenthalt - EG" verfügt. In einer im Zuge des erstinstanzlichen Verfahrens erstatteten Stellungnahme brachte die Beschwerdeführerin u.a. vor, dass sie im alltäglichen Leben nur die Fähigkeiten eines siebenjährigen Kindes aufweise. Sie sei alleine "überlebensunfähig" und werde von ihrer Tante in der Türkei gepflegt und betreut, die dies nur "aus Mildtätigkeitsgründen" mache. Eine Abweisung des gestellten Antrags wäre sowohl für sie als auch für ihre in Österreich auf Dauer niedergelassene Familie "unverhältnismäßig hart und keinesfalls rechtens". Die unverhältnismäßige Härte ergebe sich daraus, dass die gesamte Kernfamilie in Österreich lebe und hier den "Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen" habe. Auch zahlreiche Seitenverwandte lebten in Österreich. Die Beschwerdeführerin brauche die räumliche und gefühlsmäßige Nähe ihrer Familie, insbesondere der Mutter. Eine Abweisung ihres Antrages wäre daher ein massiver und drastischer Eingriff in ihr Privat- und Familienleben im Sinn des Art. 8 EMRK. "Aus humanitären Überlegungen" müsste dem Antrag der Beschwerdeführerin daher stattgegeben werden.
Mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid vom wies die Bundesministerin für Inneres (die belangte Behörde) den Antrag der Beschwerdeführerin gemäß § 2 Abs. 1 Z 9 iVm § 46 Abs. 4 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) zurück. Die Beschwerdeführerin sei bereits bei Antragstellung volljährig gewesen und damit nicht mehr "Familienangehörige" im Sinn des § 2 Abs. 1 Z 9 NAG. Insofern erfülle sie somit nicht die "Voraussetzung für eine ordnungsgemäße Antragstellung" für die begehrte Familienzusammenführung.
Über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage durch die belangte Behörde erwogen:
Gemäß § 46 Abs. 4 NAG (in der hier anzuwendenden Stammfassung) ist Familienangehörigen von Drittstaatsangehörigen bei Erfüllung weiterer Voraussetzungen u.a. dann die von der Beschwerdeführerin beantragte "Niederlassungsbewilligung - beschränkt" zu erteilen, wenn der Zusammenführende - wie hier der Vater der Beschwerdeführerin - einen Aufenthaltstitel "Daueraufenthalt - EG" innehat.
Zum - auch an anderer Stelle des Gesetzes verwendeten - Begriff "Familienangehöriger" enthält das NAG in § 2 Abs. 1 Z 9 eine Legaldefinition, die nur die sogenannte "Kernfamilie" erfasst. Demnach ist, außer dem Ehegatten oder einem eingetragenen Partner, Familienangehöriger, wer minderjähriges lediges Kind, einschließlich Adoptiv- oder Stiefkind, ist.
Entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerin ist sie nicht minderjährig. Dass ihr "Intelligenzalter", wie vorgebracht, 7,82 Jahre betrage, vermag daran, dass sie das 18. Lebensjahr bereits vollendet hat, nichts zu ändern. Nur auf dieses "biologische Alter" stellt aber das durch § 2 Abs. 4 Z 1 NAG insoweit für maßgeblich erklärte ABGB ab (vgl. dessen § 21 Abs. 2).
Dennoch ist die Beschwerde berechtigt.
In seinem zur Quotenpflicht für den Familiennachzug ergangenen Erkenntnis vom , G 119/03 ua., VfSlg. 17.013, hatte der Verfassungsgerichtshof - insbesondere unter Verweis auf das Urteil des EGMR vom im Fall "Sen" - dargelegt, dass es Konstellationen geben kann, in denen ausnahmsweise ein aus Art. 8 EMRK abzuleitender Anspruch auf Familiennachzug besteht. In diesen Fällen - auch wenn es sich um sehr wenige handeln dürfte - erweise sich die Voraussetzung eines bestehenden Quotenplatzes als verfassungswidrig; dieses Erfordernis bewirke (nämlich), dass der Familiennachzug selbst in Fällen, in denen er nach Art. 8 EMRK geboten sei, zumindest für unbestimmte Zeit verhindert werde.
Der Gesetzgeber des NAG wollte diesen Überlegungen mit der Schaffung des § 73 Abs. 4 (Stammfassung) Rechnung tragen. Während die Erteilung von humanitären Aufenthaltstiteln (§§ 72 und 73 NAG in der genannten Fassung) nur von Amts wegen vorgesehen wurde, bestimmte der erwähnte § 73 Abs. 4 NAG Folgendes:
"(4) Soll aus humanitären Gründen eine 'Niederlassungsbewilligung - beschränkt' im Fall einer Familienzusammenführung (§ 46 Abs. 4) erteilt werden, hat die Behörde auch über einen gesonderten Antrag als Vorfrage zur Prüfung humanitärer Gründe (§ 72) zu entscheiden und gesondert über diesen abzusprechen, wenn dem Antrag nicht Rechnung getragen wird. Ein solcher Antrag ist nur zulässig, wenn gleichzeitig ein Antrag in der Hauptfrage auf Familienzusammenführung eingebracht wird oder ein solcher bereits anhängig ist. Die Pflicht zur Erfüllung der Integrationsvereinbarung entfällt."
Die ErläutRV (952 BlgNR 22. GP 148) merkten dazu an, dass diese Regelung nun explizit die Möglichkeit biete, einen Antrag auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung aus humanitären Gründen zu stellen, wenn eine Familienzusammenführung mangels Quotenplatz nicht möglich, aber nach Art. 8 EMRK geboten sei.
Der Verfassungsgerichtshof erachtete diese Regelung als nicht ausreichend. In Anknüpfung an das genannte Erkenntnis VfSlg. 17.013/2003 hielt er in seinem Erkenntnis vom , G 246, 247/07 ua., VfSlg. 18.517, fest, dass Art. 8 EMRK zwar kein Recht von Fremden auf Entfaltung des Privat- und Familienlebens in einem bestimmten Aufenthaltsstaat ihrer Wahl enthalte, dass sich aber dennoch - in einem System, das die Erteilung von Aufenthaltstiteln vorsieht - aus Art. 8 EMRK unter besonderen Umständen eine Verpflichtung des Staates ergeben könne, den Aufenthalt eines Fremden zu ermöglichen, mit der Folge, dass die Verweigerung der Erteilung eines Aufenthaltstitels einen Eingriff in dieses Grundrecht bilde (III.2.1.3.2. der Entscheidungsgründe). Im Hinblick darauf hob er in den §§ 72 Abs. 1, 73 Abs. 2 und 73 Abs. 3 NAG jeweils die Wortfolge "von Amts wegen" als verfassungswidrig auf. Da die genannten Bestimmungen wesentlich auf Interessen von Fremden abstellten, aber lediglich ein Verfahren von Amts wegen vorsehen und keine Antragstellung des einzelnen zulassen würden, seien sie aus rechtsstaatlichen Gründen verfassungswidrig.
In diesem Zusammenhang verwarf der Verfassungsgerichtshof die Überlegung, der in § 73 Abs. 4 NAG (alt) vorgesehene Feststellungsantrag biete ausreichenden Rechtsschutz. § 73 Abs. 4 NAG sei nur auf einen eng begrenzten Personenkreis, nämlich "Ehegatte oder unverheiratetes minderjähriges Kind, einschließlich Adoptiv- oder Stiefkind", anwendbar. Über diesen genannten Personenkreis hinaus sei die Erteilung eines Aufenthaltstitels "aus humanitären Gründen" jedoch nur - vom Verfassungsgerichtshof als verfassungswidrig erachtet - von Amts wegen vorgesehen.
Die eben wiedergegebenen Ausführungen des Verfassungsgerichtshofes lassen keinen Zweifel daran, dass auch Personen, die nicht als Familienangehörige im Sinn der oben wiedergegebenen Legaldefinition nach § 2 Abs. 1 Z 9 NAG gelten, gegebenenfalls in den Genuss eines humanitären Aufenthaltsrechts kommen müssen, wenn dies aus Gründen des Art. 8 EMRK geboten ist. Das können auch solche Personen sein, die sich noch nicht im Inland befinden, denen aber ausnahmsweise der ebenfalls vom Verfassungsgerichtshof angesprochene, aus Art. 8 EMRK abzuleitende Anspruch auf Familiennachzug zukommt. Dessen ungeachtet hat der Gesetzgeber der Novelle BGBl. I Nr. 29/2009 in den auf Reaktion auf das Erkenntnis VfSlg. 18.517/2008 geschaffenen §§ 43 Abs. 2 und 44 Abs. 3 NAG, die der Umsetzung der sich aus Art. 8 EMRK ergebenden Verpflichtungen dienen sollen, den erfassten Personenkreis mit "im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen" festgelegt. Das wird auch in den ErläutRV (88 BlgNR 24. GP 10) betont, wo es heißt, dass eine Erteilung jedenfalls nur an Drittstaatsangehörige erfolgen könne, die sich im Bundesgebiet aufhalten (vgl. auch die darauf abgestimmte verfahrensrechtliche Bestimmung des § 44b NAG).
Das Erfordernis eines Inlandsaufenthaltes (jedenfalls in einer Phase des Verfahrens) wird auch in den Erkenntnissen des Verfassungsgerichtshofes vom , B 1413/09 ua., und vom , G 201/10, nicht in Frage gestellt. Dass die genannten Erkenntnisse abermals darauf hinweisen, dass sich unter besonderen Umständen eine Verpflichtungen der Vertragsstaaten der EMRK ergeben kann, die Einreise und die Niederlassung von Personen zu gestatten, mit der Folge, dass die Verweigerung der Einreise oder Niederlassung einen Eingriff in Art. 8 EMRK bildet, sei ergänzend angemerkt.
Nach dem eben Gesagten ist der Beschwerdeführerin, der nach ihrem Vorbringen allenfalls - eine Prüfung der näheren Umstände ist allerdings unterblieben - ein aus Art. 8 EMRK ableitbarer Anspruch auf Familienzusammenführung zu ihren Eltern zukommt, die Beschreitung des Wegs nach den §§ 43 Abs. 2 und 44 Abs. 3 NAG (nunmehr in der Fassung des FrÄG 2011 § 41a Abs. 9 bzw. § 43 Abs. 3 NAG) versagt, weil diese Bestimmungen - wie erwähnt - einen Inlandsaufenthalt voraussetzen, sie sich aber in der Türkei befindet. Auch § 11 Abs. 3 NAG sowie § 46 Abs. 6 NAG (in der hier anzuwendenden Fassung der Novelle BGBl. I Nr. 29/2000; nunmehr - in der Fassung des FrÄG 2011 - ähnlich § 46 Abs. 2 NAG) bieten keinen Ausweg (vgl. dazu die Überlegungen des Verfassungsgerichtshofes in seinem schon genannten Erkenntnis VfSlg. 18.517/2008 unter III.2.1.3.1. und 2.1.4.3. der Entscheidungsgründe). Was § 46 Abs. 6 NAG (die Nachfolgeregelung zu dem vom Verfassungsgerichtshof unter III.2.1.3.1. angesprochenen § 73 Abs. 4 NAG) anlangt, so ergibt sich das nunmehr insbesondere auch aus der ausdrücklichen Bezugnahme bloß auf die Befreiung von der Quotenpflicht ("Soll im Fall einer Familienzusammenführung (Abs. 4) eine 'Niederlassungsbewilligung - beschränkt' quotenfrei erteilt werden, …"). Das entspricht im Übrigen schon der zu § 73 Abs. 4 NAG (in der Stammfassung) erklärten Absicht des Gesetzgebers (siehe die oben wiedergegebenen ErläutRV zu dieser Bestimmung).
Will man - unter der Annahme, der Beschwerdeführerin komme ein aus Art. 8 EMRK ableitbarer Anspruch auf Familiennachzug zu - ein sich aus den obigen Überlegungen des Verfassungsgerichtshofes resultierendes verfassungswidriges Ergebnis vermeiden, so muss daher eine andere Alternative gefunden werden, um der nicht im Bundesgebiet aufhältigen Beschwerdeführerin den allenfalls gebotenen Aufenthaltstitel zuzuerkennen. Dafür bleibt nach Ansicht des Verwaltungsgerichtshofes nur die Möglichkeit offen, den Begriff "Familienangehöriger" in § 46 Abs. 4 NAG (nunmehr in der Fassung des FrÄG 2011 § 46 Abs. 1 NAG) von der Legaldefinition des § 2 Abs. 1 Z 9 NAG abzukoppeln. Besteht ein aus Art. 8 EMRK ableitbarer Anspruch auf Familiennachzug, so ist als "Familienangehöriger" in § 46 Abs. 4 NAG demnach aus verfassungsrechtlichen Gründen auch jener - nicht im Bundesgebiet aufhältige - Angehörige erfasst, dem ein derartiger Anspruch zukommt. Dass ein im Rahmen von "Begriffsbestimmungen" festgelegtes Verständnis eines Terminus nicht in jedem Fall dazu zwingt, diesen innerhalb eines Gesetzes stets im Sinn der Legaldefinition auszulegen, belegt das NAG selbst. So wird in § 2 Abs. 1 Z 10 NAG als "Zusammenführender" ein - bestimmte Voraussetzungen erfüllender - Drittstaatsangehöriger definiert, während in § 47 NAG als "Zusammenführende" Österreicher, EWR-Bürger oder Schweizer Bürger erfasst werden.
Das hier gewonnene Ergebnis steht nicht in Widerspruch mit jenen Erkenntnissen des Verwaltungsgerichtshofes zu § 46 Abs. 4 NAG, in denen bislang ungeachtet eines Vorbringens in Richtung Art. 8 EMRK am Begriff "Familienangehöriger" im Sinn des § 2 Abs. 1 Z 9 NAG festgehalten wurde. In dem dem Erkenntnis vom , Zl. 2008/22/0392, zugrunde liegenden Fall war von vornherein nicht zu erkennen, dass ein sich aus Art. 8 EMRK ergebender Anspruch auf Familiennachzug bestehen könnte. Im Erkenntnis vom , Zl. 2011/22/0111, aber konnte der im Inland aufhältige Beschwerdeführer auf die Möglichkeit eines Antrags nach den §§ 43 Abs. 2 oder 44 Abs. 3 NAG verwiesen werden.
Zusammenfassend ergibt sich, dass der Beschwerdeführerin - so in ihrem Fall ein aus Art. 8 EMRK ableitbarer Anspruch auf Familiennachzug bestehen sollte - ungeachtet ihrer Volljährigkeit nicht entgegengehalten werden könnte, sie sei nicht "Familienangehörige" im Sinn des § 46 Abs. 4 NAG. Das hat die belangte Behörde in ihre Überlegungen nicht einbezogen. Sie hat demgemäß auch keine weiteren Ermittlungen dazu angestellt, ob die tatsächlichen Verhältnisse der Beschwerdeführerin den erwähnten Anspruch auf Familiennachzug - etwa wegen Vergleichbarkeit des Sachverhalts mit der dem Urteil des EGMR im Fall "Sen" zugrunde liegenden Konstellation - ergeben. Der bekämpfte Bescheid - der im Übrigen verkennt, dass der Antrag der Beschwerdeführerin jedenfalls nicht hätte zurückgewiesen werden dürfen - war daher infolge dieses sekundären Verfahrensmangels gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.
Wien, am