VwGH vom 15.05.2012, 2008/18/0589
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pallitsch, den Hofrat Mag. Eder, die Hofrätinnen Mag. Merl und Mag. Dr. Maurer-Kober sowie den Hofrat Mag. Straßegger als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Krawarik, über die Beschwerde des JPI in W, vertreten durch Dr. Martina Schweiger-Apfelthaler, Rechtsanwalt in 1040 Wien, Graf Starhemberg-Gasse 39/12, gegen den Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien vom , Zl. E1/549.392/2007, betreffend Ausweisung gemäß § 53 FPG, zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.326,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
I.
Mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid wies die belangte Behörde den Beschwerdeführer, einen nigerianischen Staatsangehörigen, gemäß § 53 Abs. 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) aus dem Bundesgebiet aus.
In ihrer Begründung stellte die belangte Behörde darauf ab, der Beschwerdeführer sei mit Beschluss des Jugendgerichts, Gerichtsbezirk Benin/Nigeria, vom vom österreichischen Staatsbürger G adoptiert worden. Am sei der Beschwerdeführer unrechtmäßig in das Bundesgebiet eingereist. Er habe am einen Asylantrag eingebracht. Diesem sei im Instanzenzug keine Folge gegeben worden. Der später am vom Beschwerdeführer gestellte zweite Asylantrag sei zurückgewiesen worden.
Am habe der Beschwerdeführer einen Antrag auf Erteilung einer Erstniederlassungsbewilligung (nach dem Fremdengesetz 1997) eingebracht, der im Instanzenzug (nach dem Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz - NAG) abgewiesen worden sei. Er verfüge über keinen Aufenthaltstitel, weshalb die Voraussetzungen zur Erlassung einer Ausweisung nach § 53 Abs. 1 FPG gegeben seien.
In seiner Berufung habe der Beschwerdeführer ausgeführt, sein Adoptivvater gewähre ihm Unterhalt, weil der Beschwerdeführer in Österreich keiner Beschäftigung nachgehen dürfe. Er würde mit seinem Adoptivvater deshalb nicht in einem gemeinsamen Haushalt wohnen, weil dessen Wohnung dafür zu klein sei.
Vor diesem Hintergrund - so die belangte Behörde in ihrer Begründung weiter - sei davon auszugehen, dass mit der Ausweisung ein Eingriff in das Privat- und Familienleben des Beschwerdeführers verbunden sei. Dieser erweise sich jedoch zur Erreichung von im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Zielen, konkret zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung auf dem Gebiet des Fremdenwesens, als dringend geboten. Es komme den die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Vorschriften und deren Befolgung durch den Normadressaten aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung ein besonders hoher Stellenwert zu. Gegen dieses Interesse habe der Beschwerdeführer gravierend verstoßen, indem er nach Abschluss der Asylverfahren unrechtmäßig im Bundesgebiet geblieben sei. Er sei trotz des Umstandes, dass er von einem österreichischen Staatsbürger adoptiert worden sei, nicht in der Lage, seinen Aufenthalt im Bundesgebiet vom Inland aus zu legalisieren. Es sei damit die Beeinträchtigung des öffentlichen Interesses an der Wahrung eines geordneten Fremdenwesens von solchem Gewicht, dass die gegenläufigen privaten und familiären Interessen nicht höher zu bewerten seien als das Interesse der Allgemeinheit an der Ausreise des Beschwerdeführers aus dem Bundesgebiet. Es könne "daher kein Zweifel bestehen", dass die Erlassung der Ausweisung nach § 66 FPG zulässig sei.
II.
Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde nach Vorlage der Verwaltungsakten und Erstattung einer Gegenschrift durch die belangte Behörde erwogen:
Der Beschwerdeführer bestreitet die Richtigkeit der behördlichen Ausführungen, wonach er über keine Berechtigung zum Aufenthalt im Bundesgebiet verfügt, nicht. Vor dem Hintergrund der sich darauf beziehenden Feststellungen der belangten Behörde begegnet ihre Beurteilung, der Beschwerdeführer sei unrechtmäßig im Bundesgebiet aufhältig und deshalb sei der die Ausweisung ermöglichende Tatbestand des § 53 Abs. 1 FPG erfüllt, keinen Bedenken.
Der Beschwerdeführer verweist allerdings darauf, dass er als Adoptivsohn eines österreichischen Staatsbürgers "ein Bleiberecht i. S. der EMRK" habe. Dieses Vorbringen führt die Beschwerde im Ergebnis zum Erfolg.
Wird durch eine Ausweisung in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist sie gemäß § 66 Abs. 1 FPG nur dann zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist. Die Ausweisung darf nach dem - auch bei Ausweisungen gemäß § 53 Abs. 1 FPG zu beachtenden - § 66 Abs. 2 FPG jedenfalls nicht erlassen werden, wenn die Auswirkungen auf die Lebenssituation des Fremden und seiner Familie schwerer wiegen als die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von ihrer Erlassung. Bei dieser Abwägung ist insbesondere auf die Dauer des Aufenthalts und das Ausmaß der Integration des Fremden oder seiner Familienangehörigen und auf die Intensität der familiären oder sonstigen Bindungen Bedacht zu nehmen (vgl. das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2011/23/0126, mwN).
Zwar hat die belangte Behörde zutreffend den hohen Stellenwert der Befolgung der den Aufenthalt von Fremden regelnden Vorschriften aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung betont. Allerdings hat sie die familiäre Situation des Beschwerdeführers im Hinblick auf seinen die österreichische Staatsbürgerschaft besitzenden Adoptivvater nicht im erforderlichen Ausmaß berücksichtigt und sich mit den konkreten Auswirkungen der Ausweisung auf seine Situation und auf die seines österreichischen Adoptivvaters nicht näher auseinandergesetzt. Ausgehend davon ist der belangten Behörde vorzuwerfen, dass sie die gebotene Interessenabwägung nach § 66 FPG vor dem Hintergrund der in der Judikatur des Verfassungsgerichtshofes in Anlehnung an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte hervorgestrichenen Kriterien im vorliegenden Fall bloß formelhaft und unzureichend vorgenommen hat. Nach der hier maßgeblichen Rechtslage trifft im Übrigen aber auch die Ansicht der belangten Behörde, es wäre dem Beschwerdeführer von vornherein jedenfalls unmöglich gewesen, seinen Aufenthalt im Bundesgebiet von Inland aus zu legalisieren, nicht zu (vgl. die §§ 72 bis 74 NAG in der hier maßgeblichen Stammfassung).
Des Weiteren gleicht der gegenständliche Beschwerdefall vor dem Hintergrund der Ausführungen des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH) im Urteil vom , C- 256/11, darin, dass die belangte Behörde in Verkennung der durch den EuGH nunmehr klargestellten Rechtslage nicht anhand des unionsrechtlich vorgegebenen Maßstabes geprüft hat, ob der vorliegende Fall einen solchen Ausnahmefall, wonach die Erlassung einer auf § 53 Abs. 1 FPG gestützten Ausweisung unzulässig wäre, jenem Fall, der dem hg. Erkenntnis vom , Zl. 2009/22/0158, zugrunde lag. Gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG wird sohin insoweit auf die Entscheidungsgründe dieses Erkenntnisses verwiesen. Auch im vorliegenden Fall wird die belangte Behörde dazu im fortzusetzenden Verfahren nach Einräumung von Parteiengehör - diese Frage ist nicht mit der Beurteilung nach Art. 8 EMRK gleichzusetzen und war bisher nicht Gegenstand des behördlichen Verfahrens - entsprechende Feststellungen zu treffen haben.
Nach dem Gesagten war der angefochtene Bescheid wegen der - vorrangig wahrzunehmenden - Rechtswidrigkeit seines Inhalts gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.
Wien, am
Fundstelle(n):
XAAAE-81671