VwGH vom 03.08.2020, Ra 2019/05/0226

VwGH vom 03.08.2020, Ra 2019/05/0226

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Bayjones und den Hofrat Dr. Moritz sowie die Hofrätinnen Mag. Rehak, Dr. Leonhartsberger und Mag. Liebhart-Mutzl als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Wölfl, über die Revision des Dipl.-HTL-Ing. H S in L, vertreten durch Mag. Manuel Ferrari, Rechtsanwalt in 2500 Baden, Beethovengasse 4-6/3/1, gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichtes Niederösterreich vom , LVwG-AV-1341/001-2018, betreffend einen Feststellungsbescheid gemäß § 70 Abs. 6 NÖ Bauordnung 2014 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Gemeindevorstand der Marktgemeinde L; weitere Partei: Niederösterreichische Landesregierung), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird im Umfang der Anfechtung (Spruchpunkt 1.) wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Die Marktgemeinde L hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1Mit Schreiben vom stellte der Revisionswerber bei der Baubehörde den Antrag auf Erlassung eines Feststellungsbescheides gemäß § 70 Abs. 6 NÖ Bauordnung 2014 (im Folgenden: BO) für sein näher bezeichnetes Wohngebäude gemäß den vorgelegten Bestandsplänen.

2Hierzu führte der Revisionswerber im Wesentlichen aus, die Baubehörde habe anlässlich einer Bauüberprüfung bei seinem Wohngebäude Abweichungen zu der als letztgültig angenommenen Baubewilligung vom festgestellt und die Beseitigung dieser Abweichungen mit Bescheid vom als Baumängel nach § 34 BO aufgetragen. Diese Abweichungen durch Zubauten seien bereits 1930 errichtet worden, und es habe seit mehr als 30 Jahren keine Beanstandungen der Baubehörde diesbezüglich gegeben. Da das Gebäude nicht den heutigen Vorschriften der Energieeinsparung und Wärmedämmung entspreche, könne es nicht nach § 14 BO neu bewilligt werden.

3Mit Bescheid des Bürgermeisters der Markgemeinde L. vom wurde dieser Antrag abgewiesen.

4Die gegen diesen Bescheid erhobene Berufung des Revisionswerbers wurde mit Bescheid des Gemeindevorstandes der Marktgemeinde L. (im Folgenden: Gemeindevorstand) vom als unbegründet abgewiesen (Spruchpunkt 1.); der Antrag des Revisionswerbers vom auf Erlassung eines Feststellungsbescheides gemäß § 70 Abs. 6 BO über die Bewilligung des Wohnhauses wurde abgewiesen (Spruchpunkt 2.).

5Mit Spruchpunkt 1. des angefochtenen Erkenntnisses wurde - nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am - die gegen Spruchpunkt 1. des Bescheides des Gemeindevorstandes erhobene Beschwerde des Revisionswerbers gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG als unbegründet abgewiesen. Gleichzeitig wurde der Bescheid des Gemeindevorstandes in seinem Spruchpunkt 2. wegen Unzuständigkeit der belangten Behörde ersatzlos aufgehoben (Spruchpunkt 2.) sowie eine ordentliche Revision für nicht zulässig erklärt (Spruchpunkt 3.).

6Begründend führte das Verwaltungsgericht zu Spruchpunkt 1. im Wesentlichen aus, das Haus verfüge im hinteren Bereich über einen Zubau. Sowohl das straßenseitig gelegene Haupthaus als auch der Zubau im Hof wiesen jeweils eine baubehördliche Bewilligung auf. Dies ergebe sich aus den im Bauakt erliegenden Urkunden, insbesondere dem Kommissionsprotokoll vom , der Baubewilligung vom und den Kollaudierungsprotokollen vom und vom .

7Zwischen 1930 und 1940 seien laut Angaben des Revisionswerbers beim Zubau Änderungen vorgenommen worden. Ursprünglich habe sich im Zubau eine Waschküche und daran anschließend ein gemauerter Schuppen befunden. Sowohl die Waschküche als auch der Schuppen seien bewilligte Bauvorhaben. Dies sei aus dem Kollaudierungsprotokoll vom ersichtlich. Hofseitig habe es beim Zubau ein Schiebetor gegeben, das durch Mauerwerk und Fenster ersetzt worden sei. Im Inneren des Zubaues sei insofern eine Änderung erfolgt, als nunmehr drei Räume vorhanden seien. Laut Kollaudierungsprotokoll vom sei mit dem darin enthaltenen Bescheid die Benützung der Waschküche und des anschließenden Schuppenraumes erlaubt worden.

8Mittlerweile gliedere sich der Zubau im Hof wie folgt: Vom Haupthaus ausgehend werde als erster Raum die Küche betreten. Davon mit einer Schiebetür abgetrennt befinde sich die Speisekammer und dahinter ein Badezimmer. An den gemauerten Zubau würden zwei Holzhütten anschließen. Im Jahr 1985 sei die ursprünglich bestehende Holzhütte aufgrund eines Sturmes teilweise eingestürzt. Der Revisionswerber habe statt dieser Hütte zwei Gerätehütten mit einer Grundfläche von je 6 m2 errichtet. Dazu sei ihm vom damaligen Bauamtsleiter die Mitteilung gemacht worden, dass dafür keine Baubewilligung eingeholt werden müsse. Für die beiden Holzhütten gebe es somit keine baubehördliche Bewilligung. Ob die ursprüngliche Holzhütte über eine baubehördliche Bewilligung verfügt habe, habe nicht festgestellt werden können, zumal sich diesbezüglich keine Urkunden im Bauakt befänden. Die im Zubau befindlichen Räumlichkeiten, nämlich die Küche, die Speisekammer und das Badezimmer, seien nach Angaben des Revisionswerbers zwischen 1930 bis 1950 errichtet worden. Aufgrund der Nutzungsänderung solle dann anschließend der Holzschuppen errichtet worden sein.

9Straßenseitig sei das Haupthaus ursprünglich durch ein zweiflügeliges Eingangstor betreten worden, das der Revisionswerber durch eine kleinere einflügelige Eingangstür ersetzt habe. Im hinteren Bereich des Eingangsbereiches habe es ursprünglich eine dreiflügelige Tür gegeben, in deren Mitte sich eine Eingangstür befunden habe. Die äußeren Flügel seien vom Revisionswerber durch Mauerwerk und die Eingangstür durch eine andere Tür ersetzt worden. Diese Maßnahmen habe der Revisionswerber im Jahr 2008 vorgenommen.

10Mit Bescheid des Bürgermeisters der Marktgemeinde L. vom sei dem Revisionswerber gemäß § 34 Abs. 1 BO die Beseitigung näher angeführter Baumängel (konsensloser Zu- und Umbauten) aufgetragen worden. Mit im Instanzenzug ergangenen Bescheid des Gemeindevorstandes vom sei der Bescheid des Bürgermeisters vom dahingehend abgeändert worden, dass lediglich das bewilligte Einfahrtstor gemäß dem letztgültig bewilligten Einreichplan vom wiederherzustellen sei.

11Nach Wiedergabe des § 70 Abs. 6 BO führte das Verwaltungsgericht aus, Voraussetzung für die Genehmigungsfiktion dieser Bestimmung sei, dass zu einem mehr als 30 Jahre zurückliegenden Zeitpunkt eine Baubewilligung bestanden haben müsse, von der vor mehr als 30 Jahren - aus welchen Gründen auch immer - abgewichen worden sei. Weitere Voraussetzung sei, dass eine Bewilligung nach § 14 BO für die Änderungen von der ursprünglichen Baubewilligung nicht (mehr) erlangt werden könne.

12Im gegenständlichen Fall seien nach Errichtung des baubehördlich bewilligten Objektes die vom Revisionswerber genannten Änderungen vorgenommen worden. Unabhängig davon, dass diese nicht allesamt bewilligungspflichtig seien, sei dadurch die ursprüngliche Baubewilligung nicht erloschen. Die Bestimmung des § 70 Abs. 6 BO sei nur für den Fall anwendbar, dass die ursprüngliche Baubewilligung wegen geänderter Ausführung des Objektes im Sinne der Herstellung eines aliud erloschen sei. Von einem solchen könnte nur dann gesprochen werden, wenn eine Projektänderung vorgenommen worden wäre, zumal eine Baubewilligung für ein durch seine Größe und Lage bestimmtes Vorhaben erteilt werde. Davon könne gegenständlich keine Rede sein, zumal ja im Hinblick auf die Baubewilligung vom rechtswirksame Kollaudierungen (Protokolle vom und ) vorlägen.

13Sofern nur partielle Konsenswidrigkeiten auf Grund von nachträglichen baulichen Änderungen vorlägen, was jedoch im gerichtlichen Verfahren nicht zu überprüfen sei, sei ein Antrag nach § 70 Abs. 6 BO nicht zu rechtfertigen. Ein Feststellungsverfahren nach § 70 Abs. 6 BO diene ausschließlich der Wiederherstellung einer erloschenen baubehördlichen Bewilligung eines Gebäudes und nicht dazu, allfällig partielle Konsenswidrigkeiten zu genehmigen. Diese würden nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes als Baugebrechen verstanden, für welche ein baupolizeilicher Auftrag nach § 34 BO zur Behebung zu erteilen wäre. Ein Feststellungsverfahren gemäß § 70 Abs. 6 BO komme für einen solchen Fall nicht in Betracht.

14Gegen Spruchpunkt 1. dieses Erkenntnisses richtet sich die vorliegende Revision mit dem Antrag, diesen wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften kostenpflichtig aufzuheben.

15Die belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht erstattete eine Revisionsbeantwortung.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

16Die Revision erweist sich in Anbetracht der Frage nach dem Anwendungsbereich des § 70 Abs. 6 BO als zulässig.

17In der Revision wird zu § 70 Abs. 6 BO im Wesentlichen ausgeführt, erklärtes Ziel des Gesetzgebers sei es, Rechtsnachfolger, welchen das Fehlen der Baubewilligungen nicht angelastet werden könne, vor unbilliger Härte zu schützen, wenn bei dem in Rede stehenden Gebäude Abweichungen vorlägen ohne dadurch Nachbarrechte zu verletzen beziehungsweise von der Baubehörde beanstandet worden zu sein oder deren Baubewilligung aufgrund der Änderung der Rechtslage erloschen sei. Die im angefochtenen Erkenntnis geäußerte Rechtsmeinung widerspreche sohin nicht nur dem Telos der Bestimmung, sondern bereits dem Gesetzeswortlaut. Die Bestimmung des § 70 Abs. 6 BO finde nämlich nicht nur dann Anwendung, wenn die Baubewilligung erloschen sei, sondern auch dann, wenn es Abweichungen gebe.

18Zudem sei auch auf Grund eines Größenschlusses evident, dass dem Erkenntnis eine gravierende Fehlbeurteilung zugrunde liege. Gehe man nämlich davon aus, dass der Gesetzgeber Gebäude beziehungsweise Eigentümer von Gebäuden schützen wolle, deren Baubewilligung erloschen sei, weil gänzlich anders als bewilligt gebaut worden sei, so seien Rechtsnachfolger von Eigentümern, die sich zumindest grundsätzlich an die Baubewilligung gehalten hätten, es aber nachher zu Abweichungen gekommen sei, umso schützenswerter. Weiters sei zu konstatieren, dass die Bestimmung keine Aussage darüber treffe, wann die Abweichungen vorgelegen sein müssten. Es sei daher jedenfalls nicht ohne weiteres davon auszugehen, dass diese bereits im Zeitpunkt der Errichtung des ursprünglichen Gebäudes vorgelegen sein müssten, sondern es sei vielmehr evident, dass diese Abweichungen auch nachträglich aufgetreten sein könnten.

19Das Verwaltungsgericht vertrete offenkundig die Rechtsansicht, dass § 70 Abs. 6 BO nur dann anwendbar sei, wenn bereits ursprünglich, also zum Zeitpunkt der Errichtung des Gebäudes, ohne behördliche Beanstandung von der Baubewilligung abgewichen worden sei. Auch diese Interpretation widerspreche dem klaren Wortlaut des Gesetzes, weil die Bestimmung keinen Zeitpunkt normiere, in dem von der ursprünglichen Baubewilligung abgewichen worden sein müsse. Zudem sei festzuhalten, dass die Bestimmung von einem Abweichen von der ursprünglichen Baubewilligung und nicht von einem Erlöschen der ursprünglichen Baubewilligung spreche.

20Die Interpretation des Verwaltungsgerichtes widerspreche der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Vermutung des rechtmäßigen Bestandes einer Baulichkeit im Sinne eines vermuteten Konsenses. Interpretiere man § 70 Abs. 6 BO im Sinne der ständigen höchstgerichtlichen Rechtsprechung, so sei evident, dass dem Antrag des Revisionswerbers stattzugeben gewesen wäre, weil die monierten Veränderungen bereits seit beinahe 90 Jahren bestünden und es - obwohl die Baubehörde von diesen im Zuge mehrerer Verfahren Kenntnis erlangt habe - nie Beanstandungen gegeben habe.

21Es sei von einem willkürlichen Verhalten auszugehen, weil § 70 Abs. 6 BO ein Inhalt unterstellt worden sei, der einer denkunmöglichen Gesetzesanwendung gleichkomme. Insbesondere die Rechtsansicht, dass diese Bestimmung lediglich beim Erlöschen der ursprünglichen Baubewilligung zur Anwendung komme, widerspreche bereits dem Wortlaut dieser Bestimmung (arg. „abweichen“) diametral.

22Auch widerspreche die Rechtsansicht, wonach § 70 Abs. 6 BO dann zur Anwendung gelange, wenn von der ursprünglichen Baubewilligung abgewichen worden und diese damit erloschen sei, der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes zum Gleichheitsgebot (Hinweis auf VfSlg 15441/1999 - betreffend die rechtliche Sanierung von Schwarzbauten). E contrario lasse sich aus dieser Rechtsprechung aber auch schließen, dass § 70 Abs. 6 BO nur für einen Sachverhalt wie hier gelten könne, bei dem von der ursprünglichen Baubewilligung abgewichen worden sei und nachträglich partielle Konsenswidrigkeiten vorlägen.

23Tatbestandsvoraussetzung des § 70 Abs. 6 BO sei unter anderem, dass das Gebäude nicht nach § 14 BO neuerlich bewilligt werden könne. Das Verwaltungsgericht habe es auf Grund seiner unrichtigen Rechtsansicht unterlassen, das Ermittlungsverfahren auch auf diese Frage auszudehnen beziehungsweise entsprechende Feststellungen hierzu zu treffen.

24§ 4 BO, LGBl. Nr. 1/2015 in der Fassung LGBl. Nr. 53/2018, lautet auszugsweise:

§ 4

Begriffsbestimmungen

Im Sinne dieses Gesetzes gelten als

...

15.Gebäude: ein oberirdisches Bauwerk mit einem Dach und wenigstens 2 Wänden, welches von Menschen betreten werden kann und dazu bestimmt ist, Menschen, Tiere oder Sachen zu schützen, wobei alle statisch miteinander verbundenen Bauteile als ein Gebäude gelten;

...“

25§ 34 BO, LGBl. Nr. 1/2015 in der Fassung LGBl. Nr. 50/2017, lautet auszugsweise:

§ 34

Vermeidung und Behebung von Baugebrechen

(1) Der Eigentümer eines Bauwerks hat dafür zu sorgen, dass dieses in einem der Bewilligung (§ 23) oder der Anzeige (§ 15) entsprechenden Zustand ausgeführt und erhalten und nur zu den bewilligten oder angezeigten Zwecken (z. B. landwirtschaftlicher Betrieb bei landwirtschaftlichem Wohngebäude) genutzt wird. Er hat Baugebrechen zu beheben.

(2) Kommt der Eigentümer eines Bauwerks seiner Verpflichtung nach Abs. 1 nicht nach, hat die Baubehörde nach Überprüfung des Bauwerks ungeachtet eines anhängigen Antrages nach § 14 oder einer anhängigen Anzeige nach § 15, unter Gewährung einer angemessenen Frist, die Behebung des Baugebrechens zu verfügen.

...“

26§ 35 BO, LGBl. Nr. 1/2015 in der Fassung LGBl. Nr. 50/2017, lautet auszugsweise:

§ 35

Sicherungsmaßnahmen und Abbruchauftrag

...

(2) Die Baubehörde hat den Abbruch eines Bauwerks ungeachtet eines anhängigen Antrages nach § 14 oder einer anhängigen Anzeige nach § 15 anzuordnen, wenn

1.mehr als die Hälfte des voll ausgebauten umbauten Raumes eines Gebäudes durch Baugebrechen unbenützbar geworden ist und der Eigentümer einem Auftrag nach § 34 Abs. 2 innerhalb der ihm darin gewährten Frist nicht entsprochen hat oder

2.für das Bauwerk keine Baubewilligung (§ 23) oder Anzeige (§ 15) vorliegt.

Für andere Vorhaben gilt Z 2 sinngemäß.

...“

27§ 70 BO, LGBl. Nr. 1/2015 in der Fassung LGBl. Nr. 53/2018, lautet auszugsweise:

§ 70

Übergangsbestimmungen

...

(6) Hat ein Gebäude im Bauland ursprünglich eine Baubewilligung aufgewiesen, wurde von dieser jedoch vor mehr als 30 Jahren ohne baubehördliche Beanstandung abgewichen und kann es nicht nach § 14 neuerlich bewilligt werden, gilt dieses Gebäude als bewilligt, wenn dies unter ausdrücklicher Bezugnahme auf diese Bestimmung beantragt wird, der Behörde die Zustimmung des Grundeigentümers (der Mehrheit der Miteigentümer) nachgewiesen wird und vollständige Bestandspläne vorgelegt werden. Die Baubehörde hat darüber einen Feststellungsbescheid zu erlassen.

Weiters ist § 35 Abs. 2 Z 2 auf jene Gebäude nicht anzuwenden, in denen aufgrund des § 71 der Bauordnung für Wien, LGBl. Nr. 11/1930, oder des § 108a der Bauordnung für NÖ, LGBl. Nr. 36/1883, Baubewilligungen auf Widerruf erteilt wurden. Bei der Erlassung eines Feststellungsbescheides gelten die Voraussetzungen des ersten Satzes sinngemäß.

Dieser Absatz tritt mit außer Kraft.

...“

28Vorab ist festzuhalten, dass im vorliegenden Revisionsfall lediglich der erste Unterabsatz des § 70 Abs. 6 BO einschlägig ist.

29Das Verwaltungsgericht hat seine rechtliche Beurteilung ausschließlich darauf gestützt, dass § 70 Abs. 6 BO nur dann anwendbar sei, wenn die ursprüngliche Baubewilligung aufgrund der Herstellung eines rechtlichen aliuds erloschen sei. Im Falle von bloßen Konsenswidrigkeiten komme nur ein behördliches Vorgehen nach § 34 BO in Frage.

30Dem Motivenbericht zu § 70 Abs. 6 BO ist zu entnehmen, dass mit dieser Bestimmung Bauten mit langjähriger Bestandsdauer rechtlich abgesichert werden sollen, welche bereits eine Baubewilligung erlangt hatten, von der jedoch entweder abgewichen wurde (ohne dadurch Nachbarrechte zu verletzen beziehungsweise von der Baubehörde beanstandet worden zu sein) oder deren Baubewilligung aufgrund der Änderung der Rechtslage (ehemalige Wiener Randbezirke) erloschen ist. Grund für diese Regelung ist nach dem Motivenbericht weiters, dass sich in vielen Fällen diese Objekte mittlerweile im Eigentum von Rechtsnachfolgern befinden, denen das Fehlen einer Baubewilligung gar nicht bewusst ist beziehungsweise nicht angelastet werden kann, sodass die Erteilung eines Abbruchauftrages als unbillige Härte erscheint. Die Befristung dieser Ausnahmebestimmung wird damit begründet, dass nur solche Gebäude, welche bereits jetzt eine lange Bestandsdauer aufweisen, von der Regelung profitieren sollen (vgl. den Motivenbericht zu LGBl. Nr. 1/2015, Ltg.-477/B-23/2-2014, 42f).

31Bei § 70 Abs. 6 BO handelt es sich somit um eine Regelung, mit der für Gebäude, welche die darin genannten Tatbestandsmerkmale erfüllen, eine rechtliche Sanierung ermöglicht werden soll. Diese setzt voraus, dass zu einem mehr als 30 Jahre zurückliegenden Zeitpunkt eine Baubewilligung bestanden haben muss, von der vor mehr als 30 Jahren abgewichen wurde (wobei der Grund für diese Abweichung - mangels einer diesbezüglichen Normierung - unmaßgeblich ist) und dafür eine Baubewilligung nach § 14 BO nicht (mehr) erlangt werden kann (vgl. W.Pallitsch/Ph.Pallitsch/W.Kleewein, Niederösterreichisches Baurecht11 [2019] 855).

32Die Art der Abweichung ist für die Frage, ob sie von § 70 Abs. 6 BO erfasst ist, nicht relevant. Der Wortlaut des § 70 Abs. 6 BO legt nicht fest, in welchem Ausmaß von der ursprünglichen Baubewilligung abgewichen worden sein muss. Insbesondere wird nicht normiert, dass nur eine Abweichung von der ursprünglichen Baubewilligung, welche ein rechtliches aliud bewirkt hat und damit eine gänzliche neuerliche Baubewilligung notwendig macht, von § 70 Abs. 6 BO erfasst sein soll.

33§ 70 Abs. 6 BO gilt somit auch für solche Abänderungen vom Baukonsens, welche als „bloße“ Konsenswidrigkeiten bewilligungspflichtig beziehungsweise anzeigepflichtig waren und es weiterhin sind, jedoch ohne zum Erlöschen des Baukonsenses des Altbestandes geführt zu haben (vgl. dazu auch , mwN).

34Es wäre im Übrigen auch sachlich nicht vertretbar, wenn von § 70 Abs. 6 BO nur konsenslos gewordene Gebäude erfasst sein sollten, konsenswidrige Änderungen an einem Gebäudebestand jedoch nicht von dieser Bestimmung profitieren sollten. Dies würde grundsätzlich schwerwiegendere, illegale Bauführungen gegenüber sonstigen, die nicht so schwerwiegend sind, dass durch sie der Baukonsens erlischt, bevorzugen. Es erweist sich daher auch eine verfassungskonforme Interpretation (vgl. dazu etwa , mwN) als geboten, um dieses unsachliche Ergebnis zu vermeiden: § 70 Abs. 6 BO ist daher jedenfalls so auszulegen, dass auch solche Abänderungen von dem Baukonsens eines Gebäudes, welche als Konsenswidrigkeiten nicht zu einer Konsenslosigkeit des Altbestandes führen, von dieser Bestimmung erfasst sind.

35Das angefochtene Erkenntnis war daher im Umfang der Anfechtung (Spruchpunkt 1.) wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

36Von der beantragten mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 6 VwGG abgesehen werden, weil bereits das Verwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung durchgeführt hat (vgl. , mwN).

37Die Kostenentscheidung beruht auf den § 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014, BGBl. II Nr. 518/2013, in der Fassung BGBl. II Nr. 8/2014.

Wien, am

Zusatzinformationen


Tabelle in neuem Fenster öffnen
ECLI:
ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019050226.L00
Schlagworte:
Auslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Bindung an den Wortlaut des Gesetzes VwRallg3/2/1 Auslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Verhältnis der wörtlichen Auslegung zur teleologischen und historischen Auslegung Bedeutung der Gesetzesmaterialien VwRallg3/2/2 Auslegung Gesetzeskonforme Auslegung von Verordnungen Verfassungskonforme Auslegung von Gesetzen VwRallg3/3

Dieses Dokument entstammt dem Rechtsinformationssystem des Bundes.