VwGH vom 09.08.2013, 2013/08/0105
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Waldstätten und die Hofräte Dr. Strohmayer und Dr. Lehofer als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Dobner, über die Beschwerde der GK in W, vertreten durch Dr. Thomas Majoros, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Walfischgasse 12/3, gegen den auf Grund eines Beschlusses des Ausschusses für Leistungsangelegenheiten ausgefertigten Bescheid der Landesgeschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Wien vom , Zl. 2013-0566-9-000797, betreffend Höhe der Notstandshilfe, zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Mit dem im Instanzenzug ergangenen angefochtenen Bescheid hat die belangte Behörde festgestellt, dass der Beschwerdeführerin Notstandshilfe ab dem im Ausmaß von EUR 29,19 täglich, ab in der Höhe von EUR 30,06 täglich und ab in der Höhe von EUR 29,09 täglich gebührt.
Das letzte Dienstverhältnis der Beschwerdeführerin habe am geendet. Am habe sie einen Antrag auf Zuerkennung von Arbeitslosengeld gestellt. Sie lebe mit ihrem Ehegatten, einer am geborenen Tochter und einem am geborenen Sohn im gemeinsamen Haushalt. Eine Anrechnung des Einkommens des Partners habe immer auf den Leistungsanspruch des Folgemonats zu erfolgen. Bei schwankendem Einkommen sei ein Durchschnittseinkommen aus den drei der Antragstellung vorangegangenen vollen Kalendermonaten zu bilden. Das ergebe ein durchschnittliches monatliches Nettoeinkommen des Ehegatten der Beschwerdeführerin in den der Antragstellung vorangegangenen drei Monaten von je EUR 1.511,13.
Dem Antrag auf Notstandshilfe seien zwei Kreditbestätigungen beigefügt gewesen. Ein erster Kredit sei am vom Ehegatten der Beschwerdeführerin mit dem Verwendungszweck "Wohnung" bei der Bank Austria aufgenommen worden. Die monatliche Rückzahlungsrate sei in der Höhe von EUR 479,16 bestätigt worden. Ein zweiter Kredit bei der Bank Austria sei von der Beschwerdeführerin am mit dem Verwendungszweck "Möbel/Einrichtung" aufgenommen worden. Die monatliche Rückzahlungsrate sei in Höhe von EUR 133,72 bestätigt worden.
Es sei zulässig, den Freigrenzenerhöhungsgrund bzw. den Freigrenzenerhöhungsbetrag "Kredit für Wohnraumbeschaffung/- verbesserung" an das Vorhandensein entsprechender Rechnungen zu binden. Aus diesem Grund sei die Beschwerdeführerin mit Schreiben vom aufgefordert worden, geeignete Unterlagen vorzulegen, die die Aufnahme der Kredite für Wohnraumbeschaffung belegen könnten. Dieser Aufforderung sei der Beschwerdeführerin nicht nachgekommen. Eine zusätzliche Freigrenzenerhöhung sei nicht möglich.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Akten und Erstattung einer Gegenschrift durch die belangte Behörde in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:
Die Beschwerdeführerin bringt vor, sie habe in ihrer Berufungsergänzung vom darauf hingewiesen, dass bei beiden Krediten als Verwendungszweck Wohnraumschaffung angegeben sei und sie im Rahmen des Parteiengehörs "nähere Angaben dazu machen" könne. Als Zeugen "für die Möbelkäufe" mache sie "auch die beiden Schwestern meines Gatten geltend und nenne gerne die Kontaktdaten". Der Kredit ihres Ehegatten sei aufgenommen worden, als er im Jahr 2006 eine Genossenschaftswohnung in K bezogen habe (Kredithöhe EUR 50.000,--). Mit diesem sei einerseits der Genossenschaftsanteil (EUR 18.000,--) beglichen und andererseits die Einrichtung finanziert worden. Über die Einrichtung gebe es keine Rechnungen. Es handle sich zum Teil um Tischlermöbel. Erforderlichenfalls könne der Tischler als Zeuge namhaft gemacht werden. Der Kredit der Beschwerdeführerin sei im Jahr 2007 aufgenommen worden, um ein Kinderzimmer für ihre erstgeborene Tochter einzurichten. Da nicht nur Rechnungen Beweismittel seien, ersuche die Beschwerdeführerin, die beweisbaren Umstände (Genossenschaftsvertrag, Schwangerschaft, Tischler) dahin zu würdigen, dass es sich bei dem Darlehen um solche zwecks Wohnraumschaffung handle.
Auf Grund der Aktenlage und des Vorbringens der Beschwerdeführerin hätte die belangte Behörde weitere Ermittlungsschritte setzen müssen. Die Beschwerdeführerin habe zwei Kreditbestätigungen der Bank Austria vorgelegt, die sowohl für den Kredit ihres Ehegatten aus dem Jahr 2006 als auch für ihren eigenen Kredit aus dem Jahr 2007 bestätigen würden, dass der jeweilige Kredit zwecks "Wohnung" bzw. "Möbel/Einrichtung" gewesen ist. Die Beschwerdeführerin habe bereits in ihrer Berufungsergänzung die Vorlage des Genossenschaftsvertrages angeboten. Bezüglich der aus dem Kredit des Ehegatten angeschaffenen Tischlermöbel habe die belangte Behörde das Beweisanbot der Vernehmung des Tischlers als Zeugen ignoriert. Ebenso die Vernehmung der beiden Schwestern ihres Ehegatten als Zeuginnen. Auch bezüglich des Kredits der Beschwerdeführerin habe die belangte Behörde nur auf das Fehlen von Rechnungen abgestellt, obwohl sich aus den Angaben der Beschwerdeführerin über die Anschaffung eines neuen Kinderzimmers im Zusammenhang mit der bevorstehenden Geburt ihrer Tochter glaubwürdig ableiten lasse, dass der Kredit für Wohnungszwecke aufgenommen worden sei. Auch das Ersuchen der Beschwerdeführerin, vor der Behörde im Rahmen eines Parteiengehörs weitere Angaben zu den beiden Krediten machen zu können, sei von der belangten Behörde gänzlich ignoriert worden.
Dieses Vorbringen führt die Beschwerde zum Erfolg:
Gemäß § 33 Abs. 2 AlVG ist Voraussetzung für die Gewährung der Notstandshilfe unter anderem, dass sich der Arbeitslose in Notlage befindet. Notlage liegt gemäß § 33 Abs. 3 AlVG vor, wenn dem Arbeitslosen die Befriedigung der notwendigen Lebensbedürfnisse unmöglich ist.
Gemäß § 36 Abs. 1 AlVG hat der Bundesminister (nun: für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz) Richtlinien über das Ausmaß der Notstandshilfe zu erlassen. In diesen Richtlinien sind gemäß § 36 Abs. 2 AlVG auch die näheren Voraussetzungen im Sinne des § 33 Abs. 3 AlVG festzulegen, unter denen Notlage als gegeben anzusehen ist. Bei der Beurteilung der Notlage sind die gesamten wirtschaftlichen Verhältnisse des (der) Arbeitslosen selbst sowie des mit dem Arbeitslosen (der Arbeitslosen) im gemeinsamen Haushalt lebenden Ehepartners (des Lebensgefährten bzw. der Lebensgefährtin) zu berücksichtigen.
Gemäß § 36 Abs. 3 lit. B sublit. a AlVG ist bei Berücksichtigung des Einkommens des Ehepartners ein zur Bestreitung des Lebensunterhaltes notwendiger Betrag (Freibetrag) frei zu lassen, der nach der Größe der Familie verschieden bemessen werden kann.
Eine Erhöhung dieses Freibetrages (Freigrenze) kann gemäß § 36 Abs. 5 AlVG in berücksichtigungswürdigen Fällen, wie zB Krankheit, Schwangerschaft, Niederkunft, Todesfall, Hausstandsgründung und dgl. im Rahmen der vom Arbeitsmarktservice festgelegten Richtlinien erfolgen.
Die auf Grund des § 36 Abs. 1AlVG vom Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit erlassene Notstandshilfeverordnung (NH-VO), BGBl. Nr. 352/1973, in der hier maßgebenden Fassung der Verordnung BGBl. II Nr. 490/2001, legt u.a. fest, unter welchen Voraussetzungen das Vorliegen einer Notlage anzunehmen (§ 2), wie das Einkommen des Arbeitslosen auf die Notstandshilfe anzurechnen ist (§ 5) und wie das Einkommen des Ehepartners (Lebensgefährten bzw. seiner Lebensgefährtin) des (der) Arbeitslosen auf die Notstandshilfe anzurechnen ist (§ 6).
Die Erhöhung der Freigrenzen erfolgt nach der auf Grund des § 36 Abs. 5 AlVG vom Arbeitsmarktservice (im Sinne des § 4 Abs. 3 AMSG) erlassenen, gem. § 4 Abs. 4 AMSG idF BGBl. I Nr. 90/2009 am im Internet kundgemachten (siehe http://www.ams.at/21701.html) wiedergegebenen Richtlinien zur Freigrenzenerhöhung.
Abschnitt "I. Allgemeines" dieser Richtlinien bringt zunächst zum Ausdruck, dass die Berücksichtigungswürdigkeit freigrenzenerhöhender Umstände keine Ermessensentscheidung gestatte. Bei Vorliegen von Berücksichtigungswürdigkeit sei die Freigrenze zu erhöhen, wobei es erst hier im Ermessen des Arbeitsmarktservice liege, in welchem Ausmaß die Freigrenze erhöht werde. Das Ausmaß der Erhöhung der Freigrenze dürfe "die Freigrenze gem. § 6 Abs. 2 bis 4 Notstandshilfe-Verordnung um max. 50 Prozent übersteigen." Bei Vorliegen "mehrerer Freigrenzen erhöhender Tatbestände darf die Summe der berücksichtigten Kosten die vorstehende 50-Prozent-Grenze nicht überschreiten."
Die Freigrenzenerhöhung für ältere Arbeitslose gemäß § 36 Abs. 3 lit. B sublit. b AlVG bleibe unberührt.
In Abschnitt "II. Berücksichtigungswürdige Umstände im Sinne des § 36 Abs. 5 AlVG" der Freigrenzenerhöhungsrichtlinie sind als Umstände, die zur Freigrenzenerhöhung führen können, unter anderem angeführt:
"7. Darlehen für Hausstandsgründung bzw. Wohnraumbeschaffung; während des Leistungsbezuges bzw. nach Eintritt der letzten Arbeitslosigkeit aufgenommene Darlehen für Hausstandsgründung bzw. Wohnraumbeschaffung können ausnahmsweise und nur dann berücksichtigt werden, wenn die damit getätigten Anschaffungen (im unbedingt notwendigen Umfang) zur Sicherung einer angemessenen Haushaltsführung im bisherigen Umfang erforderlich sind (z.B. Wohnraumsanierung usw.).
(...)
In den vorstehenden Fällen kann die Freigrenze im nachgewiesenen Ausmaß der Aufwendungen bis zur Maximalgrenze von 50 Prozent erhöht werden."
Punkt III. der Freigrenzenerhöhungsrichtlinie sieht bei der Entscheidung über die Freigrenzenerhöhung "fixe Sätze" nach folgenden Bestimmungen vor:
"(...)
4. Darlehen: Darlehen, die zum Zweck einer Hausstandsgründung bzw. Wohnraumbeschaffung aufgenommen wurden, können zu einer Erhöhung der Freigrenze führen, wenn auch tatsächlich Rückzahlungen geleistet werden. Grundsätzlich können nur Rückzahlungsverpflichtungen berücksichtigt werden, die vor Eintritt der Arbeitslosigkeit entstanden sind bzw. bei denen Punkt II 7 dieser Richtlinie zutrifft. In den übrigen Fällen finden während eines Leistungsbezuges aufgenommene Darlehen keine Berücksichtigung, erst nach Erfüllung einer neuen Anwartschaft können diese Rückzahlungsverpflichtungen bei nachfolgenden Bezügen berücksichtigt werden.
Die tatsächlichen Zahlungen können zur Hälfte durch eine Freigrenzenerhöhung abgedeckt werden. Aufwendungen, die für Zweitwohnsitze getätigt werden, finden keine Berücksichtigung.
Aufwendungen für Privatdarlehen (von Angehörigen) sind wie Bankdarlehen zu behandeln, wenn ein vergebührter Darlehensvertrag vorliegt und auch tatsächlich Rückzahlungen geleistet werden.
Darlehen, deren Verwendungszweck nicht nachgewiesen wurde, sowie Darlehen, die zur Bestreitung des laufenden Lebensunterhaltes aufgenommen wurden, sind nicht geeignet, eine Freigrenzenerhöhung zu begründen.
(...)"
Die belangte Behörde meint, aus dem hg. Erkenntnis vom , Zl. 2010/08/0246, ableiten zu können, "dass es zulässig ist, den Freigrenzenerhöhungsgrund/-betrag 'Kredit für Wohnraumbeschaffung/-verbesserung' an das Vorhandensein entsprechender Rechnungen zu binden", sodass andere Beweismittel unzulässig wären.
Dem genannten Erkenntnis ist eine derartige Aussage nicht zu entnehmen. Vielmehr entspricht es - worauf die beschwerdeführende Partei zutreffend hinweist - der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, allein aus dem Umstand, dass der Arbeitslose keine Rechnungen vorlegen konnte, könne nicht geschlossen werden, dass der unstrittige Kreditbetrag nicht im Zusammenhang mit der Anschaffung und Sanierung einer Wohnung verwendet wurde (vgl. die hg. Erkenntnisse vom , Zl. 2005/08/0021 und vom , Zl. 2012/08/0307). Es sei nicht unplausibel, wenn ein Arbeitsloser ausführt, nach mehreren Jahren keine Rechnungen mehr zu finden, zumal er nicht unbedingt damit habe rechnen müssen, dass diese in einem Beweisverfahren von Relevanz sein würden.
Die beschwerdeführende Partei hat im Verwaltungsverfahren konkrete Umstände, die nach § 36 Abs. 5 AlVG in Verbindung mit den genannten Richtlinien des Arbeitsmarktservice zur Freigrenzenerhöhung grundsätzlich berücksichtigungswürdig sein könnten, geltend gemacht. Die belangte Behörde wäre ausgehend von diesem Vorbringen der Beschwerdeführerin nach dem auch im Leistungsverfahren des Arbeitsmarktservice geltenden Prinzip der Amtswegigkeit (vgl. das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2006/08/0295) gehalten gewesen, den für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhalt - ob die im Abschnitt III. Punkt 4. der Freigrenzenerhöhungsrichtlinie ausgeführten Voraussetzungen für die Berücksichtigung von Darlehensrückzahlungen vorliegen - von Amts wegen festzustellen. Im Gegensatz zur Auffassung der belangten Behörde hätte sie ihre Ermittlungsschritte nicht nur darauf beschränken dürfen, von der Beschwerdeführerin die Vorlage von Urkunden über die Verwendung der genannten Kredite zu fordern, sondern sie hätte in Ermangelung des Vorhandenseins derartiger Urkunden auch andere Beweise - wie etwa die Einvernahme der angebotenen Zeugen bzw. die Einvernahme der Beschwerdeführerin - aufnehmen und die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens einer beweiswürdigenden Betrachtung unterziehen müssen (vgl. nochmals das hg. Erkenntnis Zl. 2006/08/0295).
Da die belangte Behörde nach Vornahme der genannten Ermittlung zu einem anderen Bescheid hätte kommen können, war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
Die Zuerkennung von Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm der Verordnung BGBl. II Nr. 455/2008. Wien, am