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VwGH vom 29.02.2012, 2010/21/0420

VwGH vom 29.02.2012, 2010/21/0420

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Novak und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Dobner, über die Beschwerde des B in L, vertreten durch Mag. Helmut Kunz, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Dinghoferstraße 5, gegen den Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Oberösterreich vom , Zl. E1/4593/2010, betreffend Ausweisung, zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein nigerianischer Staatsangehöriger, reiste am illegal nach Österreich ein und beantragte am Tag darauf die Gewährung von Asyl. Mit Bescheid vom wies das Bundesasylamt diesen Antrag ab und stellte fest, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Nigeria zulässig sei. Dieser Bescheid erwuchs in Rechtskraft, eine am erhobene Berufung wurde mit Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom als verspätet zurückgewiesen.

Am stellte der Beschwerdeführer daraufhin einen zweiten Asylantrag, den das Bundesasylamt mit Bescheid vom gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurückwies. Eine dagegen erhobene Beschwerde wies der Asylgerichtshof mit Erkenntnis vom gemäß § 68 Abs. 1 AVG als unbegründet ab.

Im Jahr 2005 lernte der Beschwerdeführer die österreichische Staatsbürgerin M. kennen, die er am heiratete und mit der er einen gemeinsamen Haushalt begründete. Am wurde die gemeinsame Tochter Felicia, am der gemeinsame Sohn Emmanuel (jeweils österreichische Staatsbürger) geboren.

Mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid vom wies die belangte Behörde den Beschwerdeführer gemäß den §§ 53 und 66 des Fremdenpolizeigesetzes 2005 - FPG aus dem Bundesgebiet aus.

Begründend führte sie - soweit im vorliegenden Zusammenhang von Bedeutung - aus, der Beschwerdeführer halte sich seit dem insofern rechtswidrig im Bundesgebiet auf, als ihm weder ein Einreisetitel nach dem FPG noch ein Aufenthaltstitel nach dem NAG erteilt worden sei. Gründe für das Vorliegen eines Aufenthaltsrechts nach einer anderen gesetzlichen Bestimmung seien weder behauptet worden noch aktenkundig.

Unter Berücksichtigung des rund achtjährigen Aufenthaltes im Bundesgebiet, des Zusammenlebens mit der österreichischen Gattin und den beiden gemeinsamen Kindern, jeweils österreichischen Staatsbürgern, in einem Haushalt, des Vorliegens von zwei näher bezeichneten Einstellungszusagen für den Beschwerdeführer, seiner früheren selbständigen Berufstätigkeit sowie des Umstandes, dass er "laut eigenen Angaben unbescholten" sei, sei ihm "eine diesen Umständen entsprechende Integration zuzugestehen". Durch die Ausweisung werde in erheblicher Weise in sein Privat- und Familienleben eingegriffen.

Das Gewicht dieser Integration werde jedoch maßgebend dadurch gemindert, dass sein Aufenthalt "während des Asylverfahrens nur auf Grund eines Antrages, welcher sich letztendlich als unberechtigt" erwiesen habe, temporär berechtigt gewesen sei. Dem Beschwerdeführer sei, nachdem über sein Asylbegehren "bereits erstinstanzlich am negativ entschieden wurde", bewusst gewesen, dass er ein Privat- und Familienleben "während dieses Zeitraumes geschaffen habe, in dem er einen unsicheren Aufenthaltsstatus hatte". Er habe nicht von vornherein damit rechnen können, nach einem allfälligen negativen Ausgang des Asylverfahrens weiterhin in Österreich bleiben zu dürfen. Daher relativiere sich auch die berufliche Integration im Zuge der (damaligen) selbständigen Erwerbstätigkeit. Aktuell sei der Beschwerdeführer ohne Beschäftigung und auf das Karenzgeld seiner Gattin sowie auf die Unterstützung durch ihre Familie angewiesen. Die Einstellungszusagen ließen keine Rückschlüsse "für eine eventuelle fixe Anstellung nach Abschluss des Probemonats" zu. Bereits vom bis und vom bis sei der Beschwerdeführer aus der Grundversorgung des Landes Oberösterreich unterstützt worden und somit nicht in der Lage gewesen, seinen Lebensunterhalt aus eigenem sicherzustellen. Auch die Unbescholtenheit könne seine persönlichen Interessen am Verbleib in Österreich nicht maßgeblich verstärken.

Nach einer Abschiebung stehe es dem Beschwerdeführer frei - so argumentierte die belangte Behörde weiter -, "den Kontakt" zu seinen Angehörigen mittels Telefon oder E-Mail aufrecht zu erhalten. Unter Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen sei die Erwirkung eines Aufenthaltstitels für Österreich möglich. Es sei dem Beschwerdeführer einzuräumen, dass seine Kinder unter einer Trennung von ihrem Vater leiden könnten. Auch ein (beantragtes, aber nicht eingeholtes) psychiatrisches Gutachten zur Frage, welche Schäden die zwangsweise Trennung bei Kindern dieses Alters auslösen könne, erlaube keine Rückschlüsse "auf die Umstände" des Beschwerdeführers.

Dieser sei erst im Alter von 24 Jahren nach Österreich eingereist und habe somit den überwiegenden Teil seines bisherigen Lebens im Heimatstaat verbracht. Dort habe er von 1985 bis 1991 die Volksschule besucht und zwischen 1994 und 2000 als selbständiger Vogelzüchter gearbeitet. "Folglich" bestehe ein soziales Netzwerk, sodass davon ausgegangen werden könne, "sich mit den dort vorherrschenden Begebenheiten neu auseinander zu setzen". Eine Reintegration erscheine dem Beschwerdeführer zumutbar. Mit einem wirtschaftlichen Neubeginn zu besorgende Schwierigkeiten seien im öffentlichen Interesse in Kauf zu nehmen. Die persönlichen Interessen des Beschwerdeführers an einem Verbleib im Bundesgebiet hätten in Abwägung zu den öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung zurückzutreten. Der Beschwerdeführer halte sich "seit beinahe 11 Monaten" illegal in Österreich auf. Bereits ein mehrmonatiger unrechtmäßiger Aufenthalt gefährde die öffentliche Ordnung in hohem Maße, sodass die Ausweisung gemäß § 66 Abs. 1 FPG zu deren Wahrung dringend geboten sei. Die öffentliche Ordnung würde schwerwiegend beeinträchtigt, wenn sich einwanderungswillige Fremde, ohne das betreffende Verfahren abzuwarten, unerlaubt nach Österreich begeben, um damit die österreichischen Behörden vor vollendete Tatsachen zu stellen. Dasselbe gelte, wenn Fremde nach Abschluss eines Asylverfahrens das Bundesgebiet nicht rechtzeitig verließen. Die Ausweisung sei in solchen Fällen erforderlich, um jenen Zustand herzustellen, der bestünde, wenn sich der Fremde gesetzestreu verhalten hätte. Angesichts dessen bestünde auch kein Anlass, von dem der Behörde durch § 53 Abs. 1 FPG eingeräumten Ermessen zu Gunsten des Beschwerdeführers Gebrauch zu machen.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage durch die belangte Behörde erwogen hat:

Unter der Überschrift "Ausweisung Fremder ohne Aufenthaltstitel" ordnet § 53 Abs. 1 FPG (in der hier maßgeblichen Fassung vor dem FrÄG 2011) an, dass Fremde mit Bescheid ausgewiesen werden können, wenn sie sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten. In der Beschwerde wird eingeräumt, dass die erwähnten Asylverfahren "rechtskräftig negativ abgeschlossen" sind. Anhaltspunkte für die Erteilung eines Aufenthaltstitels sind nicht ersichtlich. Gegen die behördliche Annahme, der Tatbestand des § 53 Abs. 1 FPG sei erfüllt, bestehen somit keine Bedenken.

§ 66 FPG (in der genannten Fassung) lautet:

"Schutz des Privat- und Familienlebens

§ 66. (1) Würde durch eine Ausweisung in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Ausweisung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:

1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthalts und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war;


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2.
das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens;
3.
die Schutzwürdigkeit des Privatlebens;
4.
der Grad der Integration;
5.
die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden;
6.
die strafgerichtliche Unbescholtenheit;
7.
Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts;
8.
die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren.

(3) Über die Zulässigkeit der Ausweisung ist jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Ausweisung ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Ausweisung schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein gemeinschaftsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§§ 45 und 48 oder §§ 51 ff NAG) verfügen, unzulässig wäre."

Wird durch eine Ausweisung in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist sie somit nur dann zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist. Bei dieser Beurteilung ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen, insbesondere unter Berücksichtigung der im § 66 Abs. 2 FPG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 66 Abs. 3 FPG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen. Bei einer Entscheidung über eine Ausweisung ist der Behörde Ermessen eingeräumt (vgl. zum Ganzen zuletzt etwa das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2009/21/0303, mwN).

Unter diesen Gesichtspunkten bezieht sich der Beschwerdeführer neben der Dauer seines Aufenthaltes und der festgestellten (früheren) selbständigen Berufstätigkeit vor allem auf die am mit der Österreicherin M. geschlossene Ehe und die am sowie am geborenen gemeinsamen Kinder, die jeweils österreichische Staatsbürger sind. Der persönliche unmittelbare Kontakt zur Kernfamilie sei von besonderer Wichtigkeit, Kontakte mittels Telefon und E-Mail seien dafür nicht ausreichend. Im Übrigen sei anzumerken, dass die belangte Behörde die vorgelegten Einstellungszusagen zweier Unternehmen zu Unrecht - sei doch jedes privatrechtliche Dienstverhältnis grundsätzlich kündbar und daher nicht auf Dauer gesichert - als nicht ausreichend angesehen habe. Auch habe sie in der Begründung des angefochtenen Bescheides die von ihm geltend gemachten guten Deutschkenntnisse (laut Zertifikat des Berufsförderungsinstituts Oberösterreich vom hat der Beschwerdeführer "die Bildungsveranstaltung Deutsch - Integrationskurs Stufe 4 in der Zeit vom bis erfolgreich abgeschlossen" und verfügt über Sprachkenntnisse nach dem Niveau A2 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen) unberücksichtigt gelassen.

Mit diesen Ausführungen zeigt der Beschwerdeführer eine Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides auf:

Vor allem hat die belangte Behörde der seit mehreren Jahren bestehenden Haushaltsgemeinschaft des Beschwerdeführers mit seiner österreichischen Ehefrau und den beiden gemeinsamen (österreichischen) Kindern, die auf Grund ihres Alters einer besonderen unmittelbaren Betreuung bedürfen, kein ausreichendes Gewicht beigemessen. In einer solchen Konstellation reicht der bloße Hinweis auf das Eingehen der Beziehung zur nunmehrigen Ehefrau (im Jahr 2005) zu einem Zeitpunkt, als sich der Beschwerdeführer seines unsicheren Aufenthalts bewusst gewesen sei, und die Betonung des großen öffentlichen Interesses an einem geordneten Fremdenwesen für eine zum Nachteil des Beschwerdeführers ausgehende Interessenabwägung nicht aus. Im Übrigen berücksichtigte die belangte Behörde bei ihrer Verweisung des Beschwerdeführers auf die Aufrechterhaltung des Kontakts mittels E-Mail und Telefon nicht, dass eine derartige Kommunikation mit einem Kleinkind nicht möglich ist und dem Vater eines Kindes grundsätzlich das Recht auf persönlichen Kontakt zukommt (vgl. zum Ganzen zuletzt etwa das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2009/21/0303, mwN aus der Judikatur des Verfassungsgerichtshofes).

Dem Verweis auf - im Einzelnen allerdings nicht näher geprüfte - Besuchsmöglichkeiten in Nigeria bis zur allfälligen Erlangung eines Einreise- oder Aufenthaltstitels durch den Beschwerdeführer fehlt es überdies an einem entsprechenden Tatsachensubstrat. Überdies ist nicht einmal absehbar, ob und wann dem Beschwerdeführer ein solcher Titel erteilt würde (vgl. dazu weiters das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2009/21/0031).

Die belangte Behörde hat zwar - wie sich aus der wiedergegebenen Begründung des angefochtenen Bescheides ergibt - auf die Lage des Beschwerdeführers selbst Bezug genommen, jedoch die Lebenssituation seiner (nach einer Ausreise des Beschwerdeführers in Österreich verbleibenden) Familie vernachlässigt (vgl. zu einer ähnlichen Konstellation zuletzt etwa das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2009/18/0023 mwN). Gewichtet man zusätzlich die Interessen der Ehefrau als (dann) alleinerziehende, bereits derzeit nicht berufstätige Mutter von zwei Kleinkindern und deren Interessen an bestmöglicher Betreuung und Pflege auch durch ihren Vater mit, erweisen sich die in diesem Zusammenhang angestellten, oben wiedergegebenen Überlegungen der belangten Behörde als nicht nachvollziehbar.

Anzumerken ist schließlich, dass die belangte Behörde die aus der dargestellten unwidersprochenen Aktenlage abzuleitenden guten Deutschkenntnisse des Beschwerdeführers ebenfalls unberücksichtigt gelassen hat.

Die nach dem Gesagten vom Verwaltungsgerichtshof nicht geteilte und zum Teil unvollständig vorgenommene Auseinandersetzung mit den persönlichen Interessen des Beschwerdeführers und seiner Familie an seinem Verbleib in Österreich kann nicht dadurch aufgewogen werden, dass die belangte Behörde den Umstand, dass den für die Einreise und den Aufenthalt von Fremden getroffenen Regelungen und deren Befolgung durch die Normadressaten aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung ein hoher Stellenwert zukommt, wiederholt formelhaft hervorhebt (vgl. das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2009/21/0031).

Der angefochtene Bescheid war nach dem Gesagten somit gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG wegen der prävalierenden Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

Wien, am

Fundstelle(n):
WAAAE-81602