VwGH vom 30.04.2010, 2008/18/0351
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Höfinger, den Hofrat Dr. Enzenhofer, die Hofrätin Mag. Merl und die Hofräte Dr. Lukasser und Mag. Haunold als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Becker, über die Beschwerde des B in Wien, geboren am , vertreten durch Jürgen Stephan Mertens, Rechtsanwalt in 1080 Wien, Neudeggergasse 1/18, gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates Wien vom , Zl. UVS-FRG/53/6362/2006-28, betreffend Erlassung eines befristeten Aufenthaltsverbotes, zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
I.
1. Mit dem im Instanzenzug ergangenen Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates Wien (der belangten Behörde) vom wurde gegen den Beschwerdeführer, einen türkischen Staatsangehörigen, gemäß (§ 87 i.V.m. § 86 Abs. 1 und) § 63 Abs. 1 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr. 100, ein Aufenthaltsverbot für die Dauer von zehn Jahren erlassen.
Nach wörtlicher Zitierung des erstinstanzlichen Bescheides, der Berufung und des Protokolls der am stattgefundenen mündlichen Verhandlung vor dem Unabhängigen Verwaltungssenat führt die belangte Behörde folgenden Schuldspruch aus dem Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom aus:
"B hat in W
A./
nachstehend angeführte fremde bewegliche Sachen Nachgenanntem mit dem Vorsatz weggenommen, sich durch deren Zuneigung unrechtsmäßig zu bereichern, und zwar am aus dem Klein-LKW, Marke Renault, behördliches Kennzeichen W, des K einen Bargeldbetrag von Euro 25,00
B./
in der Zeit von bis Urkunden, über die er nicht verfügen durfte, nämlich einen Führerschein, einen Heeresführerschein, einen Zulassungsschein und einen Blutspenderausweis, jeweils lautend auf H, mit dem Vorsatz unterdrückt, zu verhindern, dass sie im Rechtsverkehr zum Beweis eines Rechtes, eines Rechtsverhältnisses oder einer Tatsache gebraucht werden, indem er die Urkunden dem Berechtigten H vorenthielt;
C./
Am eine verfälschte ausländische öffentliche Urkunde, die durch Gesetz (§ 1 Abs. 4 FrG) inländischen öffentlichen Urkunden gleichgestellt ist, im Rechtsverkehr zum Beweis von Rechten und Tatsachen gebraucht hat, indem er sich am gegenüber einschreitenden Exekutivbeamten mit einem türkischen Reisepass lautend auf B auswies, in dem er das Lichtbild ausgetauscht sowie Eintragungen über die Gültigkeitsdauer des Reisedokumentes durch mechanische Rasur entfernt und durch neue Eintragungen ersetzt worden waren.
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Strafbare Handlung(en): | zu A./: |
Das Vergehen des Diebstahles nach § 127 StGB | |
Zu B./: | |
Das Vergehen der Urkundenunterdrückung nach § 229 Abs. 1 StGB | |
Zu C./: | |
Das Vergehen der Fälschung besonders geschützter Urkunden nach § 223 Abs. 2, 224 StGB |
Anwendung weiterer gesetzlicher Bestimmungen: §§ 38 Abs. 1,
43 Abs. 1 StGB
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Strafe: | nach § 224 StGB |
Freiheitsstrafe von 8 (acht) Monaten | |
Gemäß § 43 (1) StGB wird die verhängte Freiheitsstrafe unter Setzung einer Probezeit von 3 (drei) Jahren bedingt nachgesehen." |
Aus dem erstinstanzlichen Bescheid geht hervor, dass der Beschwerdeführer am bei der österreichischen Botschaft in Ankara einen Erstantrag auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung eingebracht habe, um in Familiengemeinschaft mit seinem Vater, einem österreichischen Staatsangehörigen, zu leben. In der Folge seien ihm zwei Niederlassungsbewilligungen erteilt worden. Zuletzt sei ihm am ein Niederlassungsnachweis ausgestellt worden.
Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien sei der Beschwerdeführer am gemäß der §§ 127, 229 Abs. 1, 223 Abs. 2 und 224 StGB zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten bedingt, unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren, rechtskräftig verurteilt worden. Diesem Urteil seien oben näher dargestellte strafbare Handlungen zu Grunde gelegen.
Im Rahmen der niederschriftlichen Vernehmung am habe der Beschwerdeführer ausgesagt, verheiratet zu sein und Sorgepflichten für ein Kind zu haben. Seine Gattin und das Kind lebten in der Türkei. In seiner Stellungnahme vom habe er jedoch angegeben, alle seine Familienangehörigen lebten in Österreich. Im Bundesgebiet - so die Behörde erster Instanz - lebten lediglich der Vater, die Mutter sowie zwei Brüder des Beschwerdeführers. Daher seien familiäre Bindungen zum Bundesgebiet vorhanden, jedoch seien die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und nationalen Sicherheit und die Verhinderung weiterer strafbarer Handlungen höher zu bewerten als das private Interesse des Beschwerdeführers, zumal seine Gattin und sein Kind in der Türkei lebten.
Unter Hinweis auf die §§ 60, 61 und 86 FPG und das Urteil des Europäischen Gerichtshofes vom , Rs C-136/03, führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, ein Aufenthaltsverbot gegen einen begünstigten Drittstaatsangehörigen (ein gemäß Art. 6 oder 7 des Beschlusses 1/80 privilegierter türkischer Staatsbürger sei als solcher zu behandeln) sei nur zulässig, wenn das persönliche Verhalten des Fremden eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstelle, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre. Strafrechtliche Verurteilungen allein könnten ein Aufenthaltsverbot nicht ohne Weiteres begründen. Vom persönlichen Verhalten des Betroffenen losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen seien nicht zulässig.
Vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes habe der Beschwerdeführer seinen Hauptwohnsitz weniger als zehn Jahre ununterbrochen im Bundesgebiet gehabt. Die erschwerten Voraussetzungen zur Erlassung eines Aufenthaltsverbotes des § 86 Abs. 1 vierter Satz (gemeint offenbar: fünfter Satz) FPG träfen sohin nicht zu.
Bereits wenige Jahre nach seiner Einreise in das Bundesgebiet habe der Beschwerdeführer gegen strafrechtlich sanktionierte Vorschriften verstoßen. Mit seinem Vergehen gegen fremdes Eigentum und der Fälschung und Unterdrückung von Urkunden habe der Beschwerdeführer die öffentliche Ordnung und Sicherheit maßgeblich gefährdet. Gerade bei letztgenannten Vergehen handle es sich um Verletzungen von Vorschriften, die wesentlich für die Kontrolle des Rechtsstatus fremder Staatsangehöriger seien. Aus dem kurzfristigen Wohlverhalten während Zeiträumen der bedingten Strafnachsicht sowie eines noch anhängigen Verfahrens betreffend die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes könne kein Rückschluss auf eine Verminderung bzw. Beseitigung der vom Beschwerdeführer ausgehenden Gefahren gezogen werden. In der mündlichen Verhandlung sei der Beschwerdeführer seinen Taten völlig kritiklos gegenübergestanden, was sich auch in der teilweisen Bestreitung seiner Taten manifestiere. Auch Gründe von familiären Bindungen im Bundesgebiet stünden einem Aufenthaltsverbot nicht entgegen, da seine Ehefrau und seine Kinder in der Türkei und lediglich die Eltern des Beschwerdeführers in Österreich lebten.
2. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der deren Behandlung mit Beschluss vom , B 1940/07, ablehnte und sie dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat.
3. In der auftragsgemäß ergänzten Beschwerde beantragt der Beschwerdeführer, den Bescheid wegen Rechtswidrigkeit aufzuheben.
4. Die belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor, sah jedoch von der Erstattung einer Gegenschrift ab.
II.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
1. Gegen den Beschwerdeführer als türkischen Staatsangehörigen, dem die Rechtsstellung nach Art. 6 oder Art. 7 des Beschlusses Nr. 1/80 des - durch das Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei errichteten - Assoziationsrates vom über die Entwicklung der Assoziation (im Folgenden: ARB) zukommt, ist die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes nur zulässig (vgl. § 86 Abs. 1 FPG), wenn auf Grund seines persönlichen Verhaltens die öffentliche Ordnung und Sicherheit gefährdet ist. Das persönliche Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Strafrechtliche Verurteilungen allein können nicht ohne Weiteres diese Maßnahmen begründen. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig.
Für die Beantwortung der Frage, ob diese Annahme gerechtfertigt ist, ist demnach zu prüfen, ob sich aus dem gesamten Fehlverhalten des Fremden ableiten lässt, dass sein weiterer Aufenthalt die öffentliche Ordnung und Sicherheit gefährde. Dabei ist nicht auf die bloße Tatsache der Verurteilung bzw. Bestrafung des Fremden, sondern auf die Art und Schwere der zu Grunde liegenden Straftaten und das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen. Bei der Beurteilung der genannten Gefährdung kann auf den Katalog des § 60 Abs. 2 FPG als "Orientierungsmaßstab" zurückgegriffen werden.
2. Die Beschwerde bringt vor, die Schwere der vom Beschwerdeführer verübten Straftat sei gering zu gewichten. Die Behörde sei zwar nicht an die Strafaussetzung des Gerichts und damit die Einschätzung der Spezialprävention gebunden, sie hätte sich aber damit auseinandersetzen müssen. Es sei erforderlich, dass die konkrete Einschätzung der Wiederholungsgefahr relativ zur Schwere des Delikts ein Aufenthaltsverbot erforderlich mache. Eine Wiederholungsgefahr sei jedoch nicht gegeben. Dies belege nicht nur das bisherige rechtstreue Verhalten des Beschwerdeführers, sondern auch die konkrete Tat, die über den Tatbestand hinaus kein Motiv erkennen lasse, welches zu einer Wiederholung führen könnte. Bei einer Abwägung gemäß Art. 8 EMRK seien insbesondere die Aufenthaltsdauer, die Schwere der Straftat, Vorstrafen, die familiäre Situation sowie die Schwierigkeiten, die im Heimatland bestünden, zu berücksichtigen. Der Beschwerdeführer sei wegen Diebstahls von EUR 25,--, Urkundenunterdrückung und Urkundenfälschung verurteilt worden. Aus dem Strafakt ergebe sich, dass kein schlüssiges Motiv für die Fälschung des Reisepasses erkennbar sei. Der Beschwerdeführer habe sich durch die Fälschung keinen fremdenrechtlichen Vorteil verschaffen wollen. Dies wäre bei der individuellen Betrachtung im Rahmen der Abwägung zu berücksichtigen gewesen. Dem gegenüber stünden der bis dahin unbescholtene Lebenswandel des Beschwerdeführers, die Aufenthaltsdauer in Österreich und seine familiäre und wirtschaftliche Verwurzelung.
Dieses Vorbringen verhilft der Beschwerde zum Erfolg:
Der Beschwerdeführer hat - was seiner Verurteilung vom zu Grunde liegt - einen - wenn auch geringen - Geldbetrag gestohlen und vorsätzlich verschiedene Urkunden, über die er nicht verfügen durfte, unterdrückt und dem Berechtigten vorenthalten. Darüber hinaus hat er sich gegenüber einschreitenden Exekutivbeamten mit einem Reisepass, in dem er das Lichtbild ausgetauscht und die Gültigkeitsdauer verfälscht hat, ausgewiesen. Dieses Täuschungsverhalten stellt eine nicht unerhebliche Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit und öffentlichen Ordnung auf dem Gebiet des Fremdenwesens dar, wobei den für die Einreise und den Aufenthalt von Fremden geschaffenen Regelungen aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung (Art. 8 Abs. 2 EMRK) ein hoher Stellenwert zukommt. Durch dieses Fehlverhalten hat der Beschwerdeführer zudem dem öffentlichen Interesse an der Zuverlässigkeit von Urkunden im Rechtsverkehr zuwider gehandelt.
Im Hinblick auf dieses Gesamtfehlverhalten begegnet die Auffassung der belangten Behörde, dass im Beschwerdefall die im § 86 Abs. 1 FPG umschriebene Annahme gerechtfertigt sei, keinem Einwand. Der seit Begehung der Straftaten verstrichene Zeitraum ist viel zu kurz, um auf einen Wegfall oder eine Minderung der vom Beschwerdeführer ausgehenden Gefahr schließen zu können. Es wurden auch keine Umstände vorgebracht, auf Grund derer eine Wiederholungsgefahr ausgeschlossen werden könnte.
Dennoch erweist sich die Beschwerde als berechtigt, hat die belangte Behörde doch nähere Feststellungen zur privaten und familiären Situation des Beschwerdeführers - welche der widersprüchlichen Aussagen im vorangegangenen Verfahren bezüglich einer in der Türkei lebenden Ehefrau und einem oder mehrerer Kinder die belangte Behörde ihrer Entscheidung zu Grunde gelegt hat, ist unklar -, zu seiner Aufenthaltsdauer sowie seiner "wirtschaftlichen Verwurzelung" in Österreich unterlassen (vgl. das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom , B 328/07). Mit der Zulässigkeit des Aufenthaltsverbotes im Grunde des § 66 FPG hat sich die belangte Behörde in Verkennung der Rechtslage nicht auseinandergesetzt. Dies belastet den angefochtenen Bescheid mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit.
3. Der angefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG aufzuheben.
4. Die Zuerkennung von Aufwandersatz beruht im beantragten Ausmaß auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. II Nr. 455/2008.
Wien, am