VwGH vom 19.05.2011, 2010/21/0108
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Novak und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Senft, über die Beschwerde des R, vertreten durch die Kocher Bucher Rechtsanwälte GmbH in 8010 Graz, Friedrichgasse 31, gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates im Land Niederösterreich vom , Zl. Senat-FR-10-1009, betreffend Schubhaft (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Der Beschwerdeführer, ein irakischer Staatsangehöriger, gelangte im November 2008 nach Österreich und stellte hier einen Antrag auf internationalen Schutz. Im Hinblick auf eine vorangegangene Antragstellung in Griechenland wurde dieser Antrag mit im Instanzenzug ergangenem Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom gemäß § 5 AsylG 2005 zurückgewiesen und es wurde der Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 nach Griechenland ausgewiesen. Die Behandlung einer dagegen erhobenen Beschwerde lehnte der Verfassungsgerichtshof mit Beschluss vom ab.
Am stellte der Beschwerdeführer einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz. Bei der Erstbefragung und im Zuge der fremdenpolizeilichen Einvernahme gab er an, Österreich am verlassen und dann für ca. fünf Monate in der Türkei gelebt zu haben. Zum Beweis dafür legte er Urkunden in türkischer Sprache vor, und zwar lt. Niederschrift einen Mietvertrag bezüglich einer Wohnung in der Türkei, beginnend mit , eine Bestätigung über einen Spitalsaufenthalt in der Türkei vom und eine Busfahrkarte nach Istanbul vom .
Mit Bescheid vom verhängte die Bezirkshauptmannschaft Baden gegen den Beschwerdeführer gemäß § 76 Abs. 2a Z 1 und Abs. 3 Fremdenpolizeigesetz 2005 - FPG Schubhaft, um das Verfahren zur Erlassung einer Ausweisung gemäß § 10 AsylG 2005 und um die Abschiebung des Beschwerdeführers zu sichern. Die Bezirkshauptmannschaft Baden ging dabei davon aus, dass die Angaben des Beschwerdeführers bezüglich seiner "Ausreise in die Türkei" falsch seien.
Der Beschwerdeführer erhob Schubhaftbeschwerde, in der er u. a. rügte, dass sich die Bezirkshauptmannschaft Baden mit seinem Vorbringen und den vorgelegten Beweismitteln nicht näher auseinander gesetzt habe. Mit ergänzendem Schriftsatz brachte er weitere Urkunden zur Vorlage, und zwar - so deren Umschreibung im genannten Schriftsatz - "Kopien von Rechnungen und Belegen, die Einkäufe des BF in der türkischen Stadt Afyon im Zeitraum September und Oktober 2009 belegen".
Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom wies der Unabhängige Verwaltungssenat im Land Niederösterreich (die belangte Behörde) die Schubhaftbeschwerde gemäß § 67c Abs. 3 AVG iVm § 83 FPG ab. Außerdem stellte die belangte Behörde gemäß § 83 Abs. 4 erster Satz FPG fest, dass die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorlägen. Die belangte Behörde begründete ihre Entscheidung im Wesentlichen damit, dass der Schubhafttatbestand des § 76 Abs. 2a Z 1 FPG (weiterhin) erfüllt sei; der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sei gemäß § 5 AsylG 2005 rechtskräftig zurückgewiesen, ebenso sei die Ausweisung nach Griechenland in Rechtskraft erwachsen und "daher" nach wie vor durchsetzbar. Das Vorbringen des Beschwerdeführers, dass er am über eigene Initiative in die Türkei ausgereist sei und sich dort bis zum aufgehalten habe, sei - im Folgenden die belangte Behörde wörtlich - "durch die vom Beschwerdeführer vorgelegten Rechnungen insoweit nicht glaubhaft gemacht, als die Rechnungen samt und sonders vom September 2009 datieren, den in der türkischen Sprache abgefassten und als Mietvertrag und Bestätigung eines Bürgermeisters in der Türkei Schriftstücken ebenfalls keine Beweiskraft zukommt". Da die - näher begründete - "Gefahr des Untertauchens" gegeben sei, "war und ist" die Anordnung der Schubhaft gemäß § 76 Abs. 2a FPG erforderlich. Die Abhaltung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung habe gemäß § 83 Abs. 2 Z 1 FPG unterbleiben können, weil der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt sei.
Über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage durch die belangte Behörde erwogen:
Der Beschwerdeführer rügt zu Recht, dass die belangte Behörde sein Vorbringen über die Ausreise aus Österreich im Juli 2009 und den folgenden Aufenthalt in der Türkei in nicht nachvollziehbarer Weise für unglaubwürdig erachtete und dass sie in diesem Zusammenhang nicht von einem "geklärten Sachverhalt" im Sinn des § 83 Abs. 2 Z 1 FPG hätte ausgehen dürfen, sodass sich das Unterbleiben der in der Administrativbeschwerde beantragten mündlichen Verhandlung als rechtswidrig erweist. Dieser Verfahrensfehler ist relevant:
Der im gegenständlichen Fall herangezogene Schubhaftgrund nach § 76 Abs. 2a Z 1 FPG setzt u.a. voraus, dass gegen den Asylwerber eine mit einer zurückweisenden Entscheidung gemäß § 5 AsylG 2005 verbundene durchsetzbare Ausweisung erlassen wurde oder ihm gemäß § 12a Abs. 1 AsylG 2005 ein faktischer Abschiebeschutz nicht zukommt. Da Letzteres gemäß § 12a Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 nur zutrifft, wenn gegen den Fremden eine aufrechte Ausweisung besteht, erfordert § 76 Abs. 2a Z 1 FPG somit in beiden Spielarten die Existenz einer derartigen aufenthaltsbeendenden Entscheidung. Träfe es allerdings im Sinne des Vorbringens des Beschwerdeführers zu, dass er Österreich im Juli 2009 und damit nach rechtskräftiger Erlassung der gegen ihn im Zuge seines ersten Antrages auf internationalen Schutz am ergangenen asylrechtlichen Ausweisung verlassen hätte, so würde eine derartige Entscheidung nicht (mehr) vorliegen. Es wäre nämlich zu einer "Konsumation" der seinerzeitigen asylrechtlichen Ausweisung gekommen, wozu des Näheren gemäß § 43 Abs. 2 VwGG auf die Entscheidungsgründe des hg. Erkenntnisses vom , Zl. 2010/21/0006, verwiesen werden kann. Die genannte asylrechtliche Ausweisung hätte somit ihre rechtliche Existenz verloren, woran in der gegenständlichen Konstellation auch der mit dem Fremdenrechtsänderungsgesetz 2009 neu geschaffene § 10 Abs. 6 AsylG - demnach bleiben asylrechtliche Ausweisungen binnen 18 Monaten ab einer Ausreise des Fremden aufrecht - nichts zu ändern vermag. Die genannte Bestimmung ist nämlich erst am in Kraft getreten und konnte - jedenfalls ohne ausdrückliche, in diese Richtung gehende gesetzliche Anordnung - eine allenfalls wie hier bereits davor erloschene Ausweisung nicht wieder "ins Leben rufen". Wenn in den ErläutRV (330 BlgNR 24. GP 10) ausgeführt wird, die neue Regelung gelte "naturgemäß auch für Ausweisungen, die zum Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens dieser Bestimmung schon erlassen waren, auch wenn der Fremde zwischenzeitlich ausgereist ist", so kann mit der "zwischenzeitlichen" Ausreise nur eine solche gemeint sein, die nach dem erfolgte.
Im Hinblick auf den vorliegenden Verfahrensmangel, dem wie eben aufgezeigt Relevanz zukommt, war der bekämpfte Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.
Wien, am
Fundstelle(n):
ZAAAE-80989