VwGH vom 20.10.2011, 2010/21/0056
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Novak und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Senft, über die Beschwerde des A, vertreten durch Kocher Bucher Rechtsanwälte GmbH in 8010 Graz, Friedrichgasse 31, gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates Wien vom , Zl. UVS-02/13/3724/2009, betreffend Abschiebung (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.326,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Der Beschwerdeführer, ein aus Tschetschenien stammender russischer Staatsangehöriger, reiste am gemeinsam mit seiner Ehefrau und dem damals vierjährigen Sohn von Polen kommend nach Österreich ein, wo sie noch am selben Tag in der Erstaufnahmestelle Ost des Bundesasylamtes einen Antrag auf internationalen Schutz stellten. Sie wurden in die Grundversorgung des Bundes aufgenommen und in der Betreuungsstelle Traiskirchen untergebracht.
Nach Einlangen der Zustimmungserklärung Polens wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz mit Bescheid des Bundesasylamtes vom gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen und festgestellt, für die Prüfung des Antrages sei gemäß Art. 16 Abs. 1 lit. c der Dublin II-VO Polen zuständig. Unter einem wurde der Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Polen ausgewiesen und festgestellt, "demzufolge ist die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Polen gemäß § 10 Absatz 4 AsylG zulässig". Dieser Bescheid wurde dem Beschwerdeführer am zugestellt.
Am wurde der Beschwerdeführer in Wien im Zuge einer fremdenrechtlichen Kontrolle festgenommen und über ihn anschließend die Schubhaft verhängt. Am erfolgte seine Abschiebung nach Polen.
Gegen die Abschiebung brachte der Beschwerdeführer am beim Unabhängigen Verwaltungssenat Wien (der belangten Behörde) eine Maßnahmenbeschwerde gemäß Art. 129a Abs. 1 Z 2 B-VG ein. Begründend wurde im Wesentlichen vorgebracht, im Hinblick auf die von allen Familienmitgliedern nach Durchführung einer Rückkehrberatung am abgegebene Erklärung über die Bereitschaft zur freiwilligen Rückkehr in ihr Heimatland und angesichts der hiefür eingeleiteten Vorbereitungsmaßnahmen wäre eine Abschiebung des Beschwerdeführers nach Polen unzulässig gewesen.
Mit dem angefochtenen Bescheid vom wies die belangte Behörde diese Beschwerde als unzulässig zurück.
Die Behandlung der gegen diesen Bescheid an ihn erhobenen Beschwerde hat der Verfassungsgerichtshof mit Beschluss vom , B 1408/09-3, abgelehnt und die Beschwerde in der Folge über gesonderten Antrag mit Beschluss vom dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abgetreten.
Über die ergänzte Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Erstattung einer Gegenschrift durch die belangte Behörde erwogen:
Der mit "Verbindung mit der Ausweisung" überschriebene § 10 AsylG 2005 lautet in der hier maßgeblichen Fassung BGBl. I Nr. 29/2009, auszugsweise wie folgt:
"§ 10. (1) Eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz ist mit einer Ausweisung zu verbinden, wenn
1. der Antrag auf internationalen Schutz zurückgewiesen wird;
…
(2) Ausweisungen nach Abs. 1 sind unzulässig, wenn
1. dem Fremden im Einzelfall ein nicht auf dieses Bundesgesetz gestütztes Aufenthaltsrecht zukommt oder
2. diese eine Verletzung von Art. 8 EMRK darstellen würden.
Dabei sind insbesondere zu berücksichtigen:
…
(3) Wenn die Durchführung der Ausweisung aus Gründen, die in der Person des Asylwerbers liegen, eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde und diese nicht von Dauer sind, ist die Durchführung für die notwendige Zeit aufzuschieben.
(4) Eine Ausweisung, die mit einer Entscheidung gemäß Abs. 1 Z 1 verbunden ist, gilt stets auch als Feststellung der Zulässigkeit der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in den betreffenden Staat. Besteht eine durchsetzbare Ausweisung, hat der Fremde unverzüglich auszureisen.
…"
Der Abs. 1 des § 46 FPG (in der hier noch maßgeblichen Stammfassung), der mit "Abschiebung" überschrieben ist, lautet:
"§ 46. (1) Fremde, gegen die ein Aufenthaltsverbot oder eine Ausweisung (§§ 53, 54 und § 10 AsylG 2005) durchsetzbar ist, können von den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes im Auftrag der Behörde zur Ausreise verhalten werden (Abschiebung), wenn
1. die Überwachung ihrer Ausreise aus Gründen der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit notwendig scheint oder
2. sie ihrer Verpflichtung zur Ausreise (§ 67, § 10 AsylG 2005) nicht zeitgerecht nachgekommen sind oder
3. auf Grund bestimmter Tatsachen zu befürchten ist, sie würden ihrer Ausreiseverpflichtung nicht nachkommen oder
4. sie dem Aufenthaltsverbot zuwider in das Bundesgebiet zurückgekehrt sind."
Die belangte Behörde begründete die Zurückweisung der Maßnahmenbeschwerde damit, dass sie "an sich" die Ausweisung bekämpfe und sich damit gegen die im Gesetz (gemeint: im § 10 Abs. 4 AsylG 2005) angeordnete und im Bescheid des Bundesasylamtes deklarativ wiederholte Rechtsfolge eines zurückweisenden "Asylbescheides" wende. Erkläre aber das Gesetz die Abschiebung für zulässig, wenn ein gesetzlich dazu berufenes Organ eine bestimmte Entscheidung gefällt habe, so bestehe keine Zuständigkeit eines unabhängigen Verwaltungssenates, "über eben diese Zulässigkeit zu urteilen". Der durchsetzbare und rechtskräftige Bescheid der Asylbehörde - so führte die belangte Behörde weiter aus - spreche nicht nur über die Ausweisung und damit ex lege über die Zulässigkeit einer Abschiebung ab, sondern auch über deren Ziel, nämlich Polen, wobei die dortige Rechtslage und Praxis der Asylgewährung "untersucht und für ausreichend befunden" worden sei. Für eine Entscheidung des belangten unabhängigen Verwaltungssenates sei somit kein Raum mehr.
Dem hält die Beschwerde unter Berufung auf Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes entgegen, dass die Rechtswidrigkeit der Abschiebung trotz Vorliegens einer durchsetzbaren Ausweisungsentscheidung mit Maßnahmenbeschwerde nach Art. 129a Abs. 1 Z 2 B-VG iVm § 67c AVG geltend gemacht werden könne. Im gegenständlichen Fall hätte sich daher die belangte Behörde damit befassen müssen, ob angesichts der vom Beschwerdeführer von Anfang an deklarierten und mit Hilfe der Rückkehrberatung auch betriebenen freiwilligen Rückkehr in seinen Herkunftsstaat eine zwangsweise Abschiebung nach Polen in Befolgung der asylrechtlichen Ausweisung zulässig gewesen sei. Auch wenn eine Abschiebung grundsätzlich für zulässig erklärt worden sei, habe die Fremdenpolizeibehörde dennoch zu prüfen, ob die Voraussetzungen nach § 46 Abs. 1 FPG für die zwangsweise Durchsetzung einer Ausweisungsentscheidung im konkreten Einzelfall zum jeweiligen Zeitpunkt gegeben seien. Die genannte Bestimmung sehe eine Ermessensentscheidung der Fremdenpolizeibehörde dahingehend vor, ob eine Abschiebung, die einen Akt unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt darstelle, im Einzelfall notwendig und daher zulässig sei.
Dem ist beizupflichten:
Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits im grundlegenden Erkenntnis vom , Zl. 94/02/0139, unter Bezugnahme auf den (mit § 46 Abs. 1 FPG im Wesentlichen inhaltsgleichen) § 36 des Fremdengesetzes 1993 ausgeführt, dass nach dieser Bestimmung
"für die Rechtmäßigkeit einer Abschiebung zusätzlich zum durchsetzbaren Aufenthaltsverbot bzw. zur durchsetzbaren Ausweisung noch weitere Voraussetzungen treten müssen. Daß die in Rede stehenden durchsetzbaren Bescheide vorliegen, genügt somit noch nicht. Daß ein derartiger Bescheid vorhanden ist, ist nur eine der Voraussetzungen für die Abschiebung. Es muß daher ein Weg eröffnet sein, die Rechtswidrigkeit der Abschiebung trotz Vorliegens durchsetzbarer Bescheide betreffend Aufenthaltsverbot oder Ausweisung geltend zu machen. Das Gesetz wird dem insoferne gerecht, als es die Umsetzung des Bescheides als unmittelbare Befehls- und Zwangsgewalt bezeichnet und damit die Möglichkeit einer Maßnahmenbeschwerde nach Art. 129a Abs. 1 Z 2 B-VG in Verbindung mit § 67c AVG eröffnet".
Im FPG findet sich zwar - anders als im § 40 FrG 1993 und im § 60 Abs. 1 FrG 1997 - keine ausdrückliche Regelung mehr, dass die Abschiebung von Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes mit unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt durchzusetzen ist, doch ergibt sich diese Qualifikation nunmehr aus der allgemein formulierten Norm des § 13 Abs. 3 erster Satz FPG, wonach die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes ermächtigt sind, die ihnen von diesem Bundesgesetz eingeräumten Befugnisse und Aufträge der Fremdenpolizeibehörden mit unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt durchzusetzen. Es lassen sich daher die Überlegungen im zitierten Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes (siehe daran anschließend noch das auf gegenteilige Judikatur des Verfassungsgerichtshofes eingehende Erkenntnis vom , Zl. 95/02/0197) auch auf die Rechtslage nach dem FPG übertragen.
Es ist daher zulässig, im Wege einer Maßnahmenbeschwerde die Rechtmäßigkeit einer Abschiebung durch den unabhängigen Verwaltungssenat prüfen zu lassen. Dabei kommt es nach § 46 Abs. 1 FPG nicht nur auf das Vorliegen einer durchsetzbaren aufenthaltsbeendenden Entscheidung, sondern auch auf die Erfüllung einer der in den Z 1 bis 4 genannten Tatbestandsvoraussetzungen an. Überdies sieht diese Bestimmung bei Vorliegen der dort genannten Bedingungen keine unbedingte Abschiebeverpflichtung vor, sondern stellt die Abschiebung in behördliches Ermessen (vgl. in diesem Sinn bereits das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2007/21/0335, zur Abschiebung einer Fremden wenige Tage vor der geplanten Eheschließung mit einem Österreicher; siehe daran anschließend zuletzt auch das Erkenntnis vom , Zl. 2008/21/0020).
Dass die Zulässigkeit der Abschiebung des Fremden (als gesetzliche Folge oder mit Bescheid) rechtskräftig festgestellt wurde, ändert - entgegen der Meinung der belangten Behörde - nichts an dieser Beurteilung, weil sich diese Feststellung nicht auf die Voraussetzungen des § 46 Abs. 1 FPG bezieht (vgl. der Sache nach ebenso das schon erwähnte Erkenntnis Zl. 2007/21/0335).
Der angefochtene Bescheid war somit wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.
Wien, am