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VwGH vom 15.12.2011, 2010/21/0044

VwGH vom 15.12.2011, 2010/21/0044

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Novak und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Dobner, über die Beschwerde der D in L, vertreten durch Mag. Dr. Helmut Blum, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Mozartstraße 11/6, gegen den Bescheid des Bundesministers für Inneres vom , Zl. 318.128/2- III/4/2008, betreffend Aufenthaltstitel, zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.326,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Die 1941 geborene Beschwerdeführerin, eine kroatische Staatsangehörige, stellte am im Wege der Österreichischen Botschaft Agram, vertreten durch ihren Sohn, den formularmäßigen Erstantrag auf Erteilung einer "Niederlassungsbewilligung - ausgenommen Erwerbstätigkeit" gemäß § 42 Abs. 1 des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes (NAG).

Diesen Antrag wies der Landeshauptmann von Oberösterreich mit Bescheid vom gemäß § 11 Abs. 2 Z 4 und Abs. 5 iVm § 42 NAG ab, weil die Beschwerdeführerin eine Witwenpension von EUR 168,52 und Pflegegeld der Stufe 4 von EUR 632,70 beziehe und somit nach Abzug des Krankenversicherungsbeitrages nur über insgesamt EUR 792,88 monatlich verfüge, womit der nach § 42 Abs. 1 Z 3 NAG erforderliche doppelte ASVG-Richtsatz von EUR 1.494,-

nicht erreicht werde.

In der dagegen erhobenen Berufung brachte die Beschwerdeführerin (in teilweiser Wiederholung der Ausführungen in ihrer Stellungnahme vom ) vor, sie habe bis zum Tod ihres Ehemannes im Jahr 2002 mit diesem und danach bis 2006 alleine in Kroatien im Haus ihres Sohnes gelebt. Im Jahr 2006 habe sie einen Schlaganfall erlitten und sei daher "mit dem Roten Kreuz" nach Österreich geholt worden; seitdem lebe sie hier. Sie sei gelähmt und könne nicht sprechen. Daher werde sie von ihren Angehörigen "im Schichtbetrieb" gepflegt. In Österreich befänden sich ihre Tochter und ihre fünf Söhne, die über Niederlassungsbewilligungen verfügten. In Kroatien habe die Beschwerdeführerin keine Familie mehr, sodass sie auf einen Aufenthalt in Österreich und die damit verbundene Pflege durch ihre Familie angewiesen sei. Richtig sei zwar, dass sie nur über ein monatliches Einkommen von EUR 792,88 verfüge, im Hinblick auf die Bestimmungen des § 73 NAG iVm § 72 NAG hätte der beantragte Aufenthaltstitel jedoch aus humanitären Gründen erteilt werden müssen. Mit der Berufung war ein ärztliches Attest vom vorgelegt worden, wonach die Beschwerdeführerin aufgrund ihrer Lähmungen nach einem Mediateilinfarkt auf die Hilfe ihrer Familie angewiesen und es ihr aus medizinischer Sicht nicht zumutbar sei, in Kroatien alleine zu leben.

Mit dem angefochtenen Bescheid vom wies der Bundesminister für Inneres (die belangte Behörde) diese Berufung gestützt auf § 19 Abs. 1 und § 21 Abs. 1 NAG ab.

Begründend führte die belangte Behörde zunächst aus, gemäß § 19 Abs. 1 NAG seien Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels persönlich bei der Behörde zu stellen. Soweit der Antragsteller nicht selbst handlungsfähig sei, habe den Antrag sein gesetzlicher Vertreter einzubringen. Dem Akteninhalt könne aber ein Anhaltspunkt dafür, dass die Beschwerdeführerin zum Zeitpunkt der Antragstellung nicht selbst handlungsfähig gewesen sei, in keiner Weise entnommen werden. Dagegen spreche auch die Tatsache, dass sie zwischen dem Jahr 2006 und dem Jahr 2008 mehrmals gereist sei. Somit mangle es bereits an der Voraussetzung der persönlichen Antragstellung.

In der Berufung habe die Beschwerdeführerin angegeben, sich seit ihrem Schlaganfall im Jahr 2006 in Österreich aufzuhalten. Aus einer aktuellen ZMR-Auskunft sei jedoch ersichtlich, dass die Beschwerdeführerin im Jahr 2006 drei Monate und im Jahr 2007 zwei Monate im Bundesgebiet aufhältig gewesen sei. Zuletzt habe sie sich am wieder an einer (näher genannten) Adresse in Linz angemeldet. Da sie kroatische Staatsangehörige sei, sei sie sichtvermerksfrei zur Einreise und zum Aufenthalt von 90 Tagen berechtigt. Der gegenständliche Antrag hätte somit nicht im Ausland gestellt werden müssen. Der legale Aufenthalt habe aber am geendet, sodass sich die Beschwerdeführerin zurzeit nicht rechtmäßig im Inland aufhalte. Einer Bewilligung des Antrages stehe daher auch § 21 Abs. 1 NAG entgegen.

Schließlich meinte die belangte Behörde nach Zitierung des § 72 Abs. 1 NAG unter Bezugnahme auf das Berufungsvorbringen, die Beschwerdeführerin sei auf die Pflege ihrer Familienangehörigen in Österreich angewiesen, dabei handle es sich um keine besonders berücksichtigungswürdigen Gründe im Sinne der genannten Gesetzesstelle. Die Pflege müsse nämlich nicht zwingend durch ihre Kinder erfolgen. Im Falle einer Ausreise der Beschwerdeführerin in ihr Heimatland gebe es "bestimmt andere Möglichkeiten", um ihre Pflege aufrecht zu erhalten, "was auch durch Ihre Aufenthalte seit 2006 in Kroatien benötigt (offenbar gemeint: bestätigt) wird".

Die Behandlung der gegen diesen Bescheid an ihn erhobenen Beschwerde hat der Verfassungsgerichtshof mit Beschluss vom , B 1129/08-9, abgelehnt. Aufgrund eines nachträglichen Antrags hat er die Beschwerde mit Beschluss vom sodann dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abgetreten.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die auftragsgemäß ergänzte Beschwerde nach Aktenvorlage und Erstattung einer Gegenschrift durch die belangte Behörde erwogen:

Vorauszuschicken ist, dass für die Überprüfung des angefochtenen Bescheides im Hinblick auf den Zeitpunkt seiner Erlassung (am ) die Rechtslage des NAG vor der Novelle BGBl. I Nr. 29/2009 maßgeblich ist.

Dem ersten Argument der belangten Behörde ist schon mit der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu entgegnen, dass § 19 Abs. 1 erster Satz NAG, der die persönliche Antragstellung verlangt, ein Formalerfordernis begründet. Dessen Missachtung darf nicht zur sofortigen Zurückweisung (hier Abweisung) führen, sondern ist einer Verbesserung nach § 13 Abs. 3 AVG zugänglich, die in einer persönlichen Bestätigung der Antragstellung besteht (vgl. etwa das Erkenntnis vom , Zl. 2008/21/0380, mwN). Indem die belangte Behörde die Antragsabweisung - anders als die Erstbehörde - auf § 19 Abs. 1 erster Satz NAG gestützt und damit der Sache nach erstmals einen Zurückweisungsgrund herangezogen hat, ohne jedoch das deshalb gebotene Verbesserungsverfahren durchzuführen, belastete sie den angefochtenen Bescheid mit einem relevanten Verfahrensmangel (vgl. das Erkenntnis vom , Zl. 2008/21/0212).

Auch § 21 Abs. 1 zweiter Satz NAG, wonach die Entscheidung über Erstanträge im Ausland abzuwarten ist, wurde von der belangten Behörde erstmals zur Begründung der Antragsabweisung herangezogen. Daraus ergibt sich aber schon deshalb keine Rechtswidrigkeit, weil sich die Beschwerdeführerin im Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides unstrittig über die erlaubte sichtvermerksfreie Aufenthaltsdauer hinaus in Österreich aufgehalten und damit der genannten Bestimmung nicht entsprochen hat.

Das Recht, die Entscheidung über ihren Antrag im Inland abzuwarten, käme daher für die Beschwerdeführerin nur gemäß § 74 NAG in Betracht. Danach ist die Inlandsantragstellung - einschließlich des Abwartens der Entscheidung über den Antrag im Inland - in besonders berücksichtigungswürdigen Fällen aus humanitären Gründen (§ 72 Abs. 1 NAG) von Amts wegen zuzulassen, wobei die Zulassung im Rechtsweg erzwungen werden kann. Der (mit BGBl. I Nr. 29/2009 aufgehobene) § 72 NAG stellte insbesondere auf mit besonderen Gefährdungen bzw. Notlagen verbundene Lebensumstände eines Fremden ab, die dazu Anlass geben, diesem aus humanitären Gründen einen Aufenthaltstitel zu erteilen. Ein "besonders berücksichtigungswürdiger Fall" im Sinne dieser Bestimmung liegt auch dann vor, wenn - ausnahmsweise - ein aus Art. 8 EMRK direkt abzuleitender Anspruch auf Verbleib in Österreich besteht (siehe zum Ganzen etwa das Erkenntnis vom , Zl. 2008/21/0480, mwN).

Unter diesem Gesichtspunkt wird in der Beschwerde unter Wiederholung des Berufungsvorbringens ins Treffen geführt, die gesundheitliche Situation der Beschwerdeführerin stelle zweifellos einen "besonders rücksichtswürdigen Grund" dar, der die Erteilung eines humanitären Aufenthaltstitels rechtfertige. Wenn nicht einmal in einem derartigen Extremfall ein humanitärer Aufenthaltstitel erteilt werden könne, wären die §§ 72 ff NAG ohne jeden Anwendungsbereich. Bei richtiger rechtlicher Beurteilung hätte die belangte Behörde daher "in Anwendung des (im Zeitpunkt der Entscheidung geltenden) humanitären Aufenthaltsrechtes einer Inlandsantragstellung zustimmen müssen, ebenso eine Zustimmung zur Erteilung des humanitären Aufenthaltstitels aussprechen müssen". Schließlich kritisiert die Beschwerde in diesem Zusammenhang noch, die belangte Behörde habe kein Ermittlungsverfahren durchgeführt, sich mit den vorgetragenen Argumenten nicht auseinandergesetzt und kein Parteiengehör gewährt. Die Begründung beschränke sich auf die aktenwidrige Aussage, die Pflege der Beschwerdeführerin müsse nicht zwingend in Österreich durchgeführt werden und es gebe im Falle einer Ausreise bestimmt andere Möglichkeiten zur Aufrechterhaltung der Pflege.

Das Ermittlungsverfahren der belangten Behörde beschränkte sich darauf, einen aktuellen Auszug aus dem Melderegister einzuholen. Aus dem Umstand, dass die Beschwerdeführerin im Jahr 2006 an der Wohnadresse ihres Sohnes in Linz nur im Zeitraum vom 24. April bis 26. Juli und im Jahr 2007 lediglich vom 22. Mai bis 27. Juli gemeldet war, folgerte sie dann, dies entspreche den tatsächlichen Aufenthaltszeiten der Beschwerdeführerin in Österreich und sie sei dazwischen in ihr Heimatland zurückgereist. Damit hat sie der Sache nach das (in der Beschwerde neuerlich vorgetragene) Vorbringen in der Berufung, dass sich die Beschwerdeführerin seit ihrem Transport mit einem Rettungsfahrzeug nach Österreich, nachdem sie (nach der Aktenlage: Anfang Mai 2006) einen Schlaganfall erlitten hatte, hier ununterbrochen aufgehalten habe und dass sie ständig von ihren Familienangehörigen gepflegt worden sei, für unrichtig erachtet.

Das hätte jedoch zunächst einen entsprechenden Vorhalt an die Beschwerdeführerin, aber auch eine Auseinandersetzung mit den gegenteiligen aktenkundigen Ermittlungsergebnissen erfordert. So übergeht die belangte Behörde in ihrer Bescheidbegründung nicht nur die mit der Stellungnahme vom vorgelegte Diagnose der "Schlaganfall-Ambulanz" der Landes-Nervenklinik W. vom , sondern auch das mit der Berufung vorgelegte, oben erwähnte ärztliche Attest. Die dort angesprochenen Lähmungen der Beschwerdeführerin und das aus ärztlicher Sicht konstatierte Angewiesensein auf die Hilfe der Angehörigen sprechen nämlich gegen eine nach Mitte 2006 noch einmal erfolgte Rückkehr der Beschwerdeführerin in ihr Heimatland. Außerdem ist aktenkundig, dass die Pensionsversicherungsanstalt auf Anfrage der Erstbehörde am mitteilte, sie sei bei der Bewilligung des Pflegegeldes ab - auch die gewährte Stufe 4 spricht im Übrigen gegen die angenommene Mobilität der Beschwerdeführerin - von einem "gewöhnlichen Aufenthalt" der Beschwerdeführerin im Inland ausgegangen. Dem entsprechend führte die Sachbearbeiterin der Erstbehörde am auch aus (vgl. AS 63), die Beschwerdeführerin "dürfte aufgrund ihrer Erkrankung Österreich seit Längerem nicht mehr verlassen haben (Schlaganfall, Pflegegeldbezug, schriftliche Stellungnahme im Akt)."

Vor diesem Hintergrund erweist sich die Annahme der belangten Behörde, die Pflege der Beschwerdeführerin müsse nicht zwingend durch ihre Kinder erfolgen und im Falle einer Ausreise in ihr Heimatland gebe es hiefür "bestimmt andere Möglichkeiten", was auch durch die Aufenthalte seit 2006 in Kroatien bestätigt werde, als bloße, nicht schlüssig begründete Vermutung, bei der auf mehrere gegenteilige Ermittlungsergebnisse nicht Bedacht genommen wurde.

Somit sind der belangten Behörde in Bezug auf die hier entscheidende Frage der Zulässigkeit der "Inlandsantragstellung" iwS (Abwarten der Entscheidung im Inland) - anders als die Beschwerde meint, geht es darüber hinaus nicht auch um die Erteilung eines humanitären Aufenthaltstitels, weil ein solcher nicht beantragt wurde und darauf nach der damals geltenden Rechtslage auch kein Rechtsanspruch bestand (vgl. zu Letzterem beispielsweise das Erkenntnis vom , Zl. 2008/21/0583) - somit relevante Begründungsmängel unterlaufen, bei deren Vermeidung sie zu einem anderen Bescheid hätte kommen können.

Der angefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

Wien, am