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VwGH vom 03.09.2021, Ra 2018/22/0231

VwGH vom 03.09.2021, Ra 2018/22/0231

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant sowie die Hofräte Dr. Mayr und Mag. Berger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, über die Revision des Bundesministers für Inneres gegen das am mündlich verkündete und mit schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien, VGW-151/013/2055/2018-8, betreffend Aufenthaltstitel (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Landeshauptmann von Wien; mitbeteiligte Partei: N M, vertreten durch Mag. Stefan Errath, Rechtsanwalt in 1030 Wien, Untere Viaduktgasse 6/6), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Begründung

1.1. Der Mitbeteiligte, ein serbischer Staatsangehöriger, beantragte erstmals am beim Landeshauptmann von Wien (im Folgenden: Behörde) unter Bezugnahme auf seine Ehe mit einer österreichischen Staatsbürgerin einen Aufenthaltstitel „Familienangehöriger“ gemäß § 47 Abs. 2 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG). Er legte mit dem Antrag (unter anderem) ein Deutschzertifikat vom vor.

Die Behörde erteilte dem Mitbeteiligten den beantragten Aufenthaltstitel mit einer Gültigkeitsdauer vom bis zum .

1.2. Am beantragte der Mitbeteiligte die Verlängerung des Aufenthaltstitels, wobei er neuerlich das Deutschzertifikat vom vorlegte.

Die Behörde teilte dem Mitbeteiligten mit, dass aufgrund zwischenzeitiger polizeilicher Ermittlungen das Deutschzertifikat als Fälschung zu erachten sei. Es werde daher die Wiederaufnahme des Verfahrens und die Antragsabweisung beabsichtigt.

Der Mitbeteiligte legte daraufhin eine Mitteilung der Staatsanwaltschaft vor, wonach der Rücktritt von seiner Verfolgung wegen des Verdachts der Urkundenfälschung nach Zahlung eines Geldbetrags von € 1.100,-- gemäß § 200 Abs. 4 StPO beabsichtigt sei.

1.3. Mit Bescheid vom nahm die Behörde das Verfahren betreffend den Antrag vom gemäß § 69 Abs. 1 Z 1 iVm Abs. 3 AVG von Amts wegen wieder auf, weil der Mitbeteiligte den Aufenthaltstitel durch Vorlage eines gefälschten Deutschzertifikats erschlichen habe. Unter einem wies sie den Antrag vom ab, weil der Mitbeteiligte kein Sprachdiplom auf A1-Niveau nachgewiesen habe.

Der Bescheid erwuchs nach Rechtsmittelverzicht des Mitbeteiligten in Rechtskraft.

1.4. Am legte der Mitbeteiligte zu seinem (nun als Erstantrag zu behandelnden) Antrag vom ein weiteres Deutschzertifikat vor, das von der Behörde neuerlich als Fälschung erachtet wurde. Am legte er das Zertifikat - nach behaupteter Neuausstellung (Behebung eines Druckfehlers) - neuerlich vor. Die Behörde erachtete auch dieses Zertifikat als Fälschung.

Der Mitbeteiligte gab daraufhin am die Erklärung ab, dass er den Antrag vom „“ (gemeint wohl: ) zurückziehe.

1.5. Bei seiner polizeilichen Einvernahme am gab der Mitbeteiligte an, er habe im Jahr 2016 ein gefälschtes Deutschzertifikat vorgelegt und aufgrund dessen ein Visum erhalten. Bei der Verlängerung im Jahr 2017 habe er erneut eine Fälschung vorgelegt. Er sei einige Male bei Prüfungen durchgefallen und habe keinen anderen Ausweg gesehen.

Der Fortgang der diesbezüglichen strafrechtlichen Verfolgung (insbesondere eine allfällige Verurteilung) ist aus den Akten nicht ersichtlich.

2.1. Am stellte der Mitbeteiligte vom Heimatstaat aus den hier gegenständlichen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Familienangehöriger“ gemäß § 47 Abs. 2 NAG.

2.2. Die Behörde teilte dem Mitbeteiligten mit „Verständigung vom Ergebnis der Beweisaufnahme“ vom mit, es sei nicht auszuschließen, dass sein Aufenthalt zu einer finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft führen könnte. Zudem habe er bereits zweimal ein gefälschtes Sprachdiplom vorgelegt, sodass sein Aufenthalt dem öffentlichen Interesse widerstreite.

Der Mitbeteiligte entgegnete, er werde aufgrund einer Einstellungszusage über ein hinreichendes eigenes Einkommen verfügen. Was die öffentliche Ordnung bzw. das öffentliche Interesse betreffe, so habe er diese (durch die Verwendung eines gefälschten Sprachdiploms) nicht absichtlich gefährden wollen, er habe nur nicht allzu lang von seiner Ehefrau getrennt sein wollen. Er habe auch bereits die „Strafe“ von € 1.100,-- bezahlt, damit es zu keiner Anklage komme. Der betreffende Vorwurf sei daher als nichtig anzusehen. Im Übrigen habe er die A1-Prüfung inzwischen abgelegt.

2.3. Mit Bescheid vom wies die Behörde den gegenständlichen Antrag gemäß § 11 Abs. 2 Z 4 iVm Abs. 5 NAG ab.

Das Ermittlungsverfahren habe - so die wesentliche Begründung - ergeben, dass der Ehefrau ein monatliches Nettoeinkommen von lediglich € 1.042,78 verbleibe, welches den Richtsatz für ein Ehepaar von € 1.334,17 unterschreite. Was die vorgelegte Einstellungszusage betreffe, so sei darin eine rechtlich unverbindliche Absichtserklärung zu sehen und sei auch aufgrund der Arbeitsmarktsituation nicht gesichert, dass der Mitbeteiligte die Beschäftigung ausüben werde. Es sei daher nicht auszuschließen, dass der Aufenthalt zu einer finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft führen könnte. Eine Interessenabwägung im Sinn des § 11 Abs. 3 NAG führe ebenso nicht zur Erteilung des beantragten Aufenthaltstitels. Der Mitbeteiligte sei strafrechtlich nicht unbescholten, zumal er zweimal ein gefälschtes Sprachdiplom vorgelegt habe. Ferner sei der Grad seiner Integration (aus näher erörterten Gründen) sehr gering.

2.4. Der Mitbeteiligte erhob gegen den Bescheid Beschwerde und brachte vor, die Behörde habe Ermittlungen über sein künftiges Einkommen unterlassen. 3.1. Mit dem nunmehr angefochtenen - am mündlich verkündeten und mit schriftlich ausgefertigten - Erkenntnis gab das Verwaltungsgericht Wien der Beschwerde statt und erteilte den beantragten Aufenthaltstitel mit einer Gültigkeitsdauer von zwölf Monaten.

3.2. Das Verwaltungsgericht führte begründend aus, aufgrund des vorgelegten Arbeitsvorvertrags und der Aussagen des Mitbeteiligten und des Zeugen in der mündlichen Verhandlung sei davon auszugehen, dass der Mitbeteiligte ab der Erteilung des Aufenthaltstitels zu arbeiten beginnen und ein Nettoeinkommen von € 1.700,-- bis 1.800,-- erzielen werde. Unter Berücksichtigung auch des Einkommens der Ehefrau ergebe sich ein gemeinsames Nettoeinkommen von etwa € 2.700,--, das unter Berücksichtigung der Abzüge als ausreichend zu erachten sei.

Es bestünden auch keine Bedenken, dass der Aufenthalt den öffentlichen Interessen widerstreiten könnte. Der Mitbeteiligte habe zwar in einem früheren Verfahren gefälschte Deutschzertifikate vorgelegt, dies aber nicht deshalb, weil er sich nicht bemüht hätte, ausreichende Deutschkenntnisse zu erlangen, sondern weil er die Prüfung zunächst mehrmals nicht bestanden habe. Er sei auch nicht strafrechtlich verurteilt worden, sondern es sei ihm Gelegenheit zur Diversion gegeben worden.

Die sonstigen Erteilungsvoraussetzungen seien ebenso erfüllt. So sei vom Vorliegen einer ehelichen Wohnung, einer Krankenversicherung, entsprechender Deutschkenntnisse (ÖSD Zertifikat A1 vom ) und einer ordnungsgemäßen Ehe (keiner Scheinehe) auszugehen.

3.3. Das Verwaltungsgericht sprach ferner aus, dass die Revision nicht zulässig sei.

4.1. Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die - Rechtswidrigkeit des Inhalts geltend machende - außerordentliche Revision, zu deren Zulässigkeit im Wesentlichen ausgeführt wird, bei der vorzunehmenden Prognosebeurteilung, ob der Aufenthalt die öffentliche Ordnung oder Sicherheit im Sinn des § 11 Abs. 2 Z 1 iVm Abs. 4 Z 1 NAG gefährden würde, seien alle den Antragsteller betreffenden relevanten Umstände zu berücksichtigen. Der Vorlage gefälschter Urkunden zur Erlangung eines Aufenthaltstitels komme dabei besondere Bedeutung zu. Das Verwaltungsgericht hätte daher weitergehende Ermittlungen und Feststellungen vornehmen müssen, um beurteilen zu können, ob der Aufenthalt eine Gefährdung im aufgezeigten Sinn darstellen würde. Es hätte insbesondere berücksichtigen müssen, dass der Mitbeteiligte in den vorangegangenen Verfahren binnen kurzer Zeit drei gefälschte Deutschzertifikate vorgelegt habe, um die Erteilung eines Aufenthaltstitels zu erschleichen, worin eine schwere Beeinträchtigung des öffentlichen Interesses zu erblicken sei. Die strafrechtliche Diversion habe nur die erstmalige Vorlage eines gefälschten Zertifikats betroffen, das Strafverfahren hinsichtlich der Vorlage weiterer Fälschungen sei noch offen; zudem komme es auf eine Bestrafung nicht an. Richtiger Weise hätte das Verwaltungsgericht daher zum Ergebnis gelangen müssen, dass mit dem Aufenthalt des Mitbeteiligten ein keineswegs unbeachtliches Gefährdungspotenzial verbunden sei und der Aufenthalt daher den öffentlichen Interessen widerstreiten könnte.

4.2. Eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet.

5. Der Verwaltungsgerichtshof hat - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat - erwogen:

Die Revision ist zulässig, weil dem angefochtenen Erkenntnis Feststellungsmängel in Bezug auf die Erteilungsvoraussetzung des § 11 Abs. 2 Z 1 iVm Abs. 4 Z 1 NAG anhaften. Die Revision ist aus dem Grund auch berechtigt.

6.1. Gemäß § 11 Abs. 2 Z 1 NAG dürfen einem Fremden Aufenthaltstitel nur erteilt werden, wenn sein Aufenthalt nicht öffentlichen Interessen widerstreitet. Dies ist gemäß § 11 Abs. 4 Z 1 NAG der Fall, wenn der Aufenthalt die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährden würde.

6.2. Bei der Auslegung des unbestimmten Gesetzesbegriffs „sein Aufenthalt die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährden würde“ in § 11 Abs. 4 Z 1 NAG ist eine das Gesamtverhalten des Fremden berücksichtigende Prognosebeurteilung geboten (vgl. ). Die Behörde (das Verwaltungsgericht) ist dabei berechtigt, alle den Fremden betreffenden relevanten Umstände zu berücksichtigen, und verpflichtet, diese einer auf ihn bezogenen Bewertung zu unterziehen (vgl. ). Eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung im Sinn des § 11 Abs. 2 Z 1 iVm Abs. 4 Z 1 NAG ist (insbesondere) dann anzunehmen, wenn ein Antragsteller gefälschte Urkunden mit dem Ziel vorlegt, dadurch einen Aufenthaltstitel zu erlangen. Der Fremde muss dabei selbst ein Verhalten setzen, das die Gefährdungsannahme gemäß § 11 Abs. 4 Z 1 NAG rechtfertigt (vgl. ).

Bei der Beurteilung im Sinn des § 11 Abs. 2 Z 1 iVm Abs. 4 Z 1 NAG muss nicht auf das Vorliegen einer rechtskräftigen Bestrafung abgestellt werden. Es kann ebenso ein - Anzeigen an Behörden oder Gerichte zu Grunde liegendes - Verhalten wie auch ein sonstiges Fehlverhalten zu einer Gefährdungsannahme führen. Bei der Würdigung, ob eine solche Annahme gerechtfertigt ist, ist auf die Art und Schwere des zu Grunde liegenden Fehlverhaltens abzustellen, das von der Behörde (vom Verwaltungsgericht) festzustellen ist (vgl. , Pkt. 4.2.).

6.3. Der Verwaltungsgerichtshof hat auch bereits hervorgehoben, dass einem geordneten Zuwanderungswesen eine hohe Bedeutung zukommt und dabei die Verwendung falscher Urkunden durch einen Antragsteller mit dem Ziel der Erlangung eines Aufenthaltstitels eine schwere Beeinträchtigung des öffentlichen Interesses an einem geordneten Fremdenwesen, insbesondere an einer geregelten Zuwanderung, darstellt (vgl. ; neuerlich 2008/22/0911). So kann selbst die Bedeutung eines langjährigen rechtmäßigen Aufenthalts durch eine mehrfache Manipulation im Zusammenhang mit Sprachdiplomen zwecks Erhalt von Aufenthaltstiteln relativiert werden (vgl. , Rn. 13).

7.1. Vorliegend hielt das Verwaltungsgericht in Bezug auf die - von ihm als erfüllt erachtete - Erteilungsvoraussetzung des § 11 Abs. 2 Z 1 iVm Abs. 4 Z 1 NAG lediglich fest, der Mitbeteiligte habe in einem früheren Verfahren gefälschte Deutschzertifikate vorgelegt. Dies sei aber nicht geschehen, weil er sich nicht um die Erlangung ausreichender Deutschkenntnisse bemüht hätte, sondern weil er die Prüfung zunächst mehrmals nicht bestanden habe. Er sei auch nicht strafrechtlich verurteilt worden, vielmehr sei eine Diversion erfolgt.

7.2. Diese Ausführungen stellen - im Licht der oben aufgezeigten Rechtsprechung - keine hinreichende Grundlage für eine ordnungsgemäße Beurteilung im Sinn des § 11 Abs. 2 Z 1 iVm Abs. 4 Z 1 NAG dar.

Da die vorzunehmende Prognosebeurteilung im Sinn der genannten Gesetzesbestimmungen eine Berücksichtigung des Gesamtverhaltens eines Fremden bzw. aller ihn betreffenden relevanten Umstände voraussetzt, wäre das Verwaltungsgericht gehalten gewesen, - nach allfälliger Vornahme ergänzender Ermittlungen - Tatsachenfeststellungen zu den weiteren wesentlichen Umständen des Falls (wie etwa Anzahl der gefälschten Zertifikate und ihrer Verwendung, Art und Weise ihrer Beschaffung, innere Einstellung des Mitbeteiligten etc.) zu treffen. Erst auf Grundlage solcher Feststellungen wäre es dem Verwaltungsgericht möglich gewesen, eine Beurteilung im Sinn des § 11 Abs. 2 Z 1 iVm Abs. 4 Z 1 NAG vorzunehmen, ob der Aufenthalt des Mitbeteiligten die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet und damit den öffentlichen Interessen widerstreitet.

7.3. Soweit das Verwaltungsgericht hervorhebt, der Mitbeteiligte sei wegen der Vorlage eines gefälschten Deutschzertifikats (im ersten vorangegangenen Verfahren) nicht strafrechtlich verurteilt worden, vielmehr sei eine Diversion erfolgt, ist auf die schon oben aufgezeigte Rechtsprechung hinzuweisen, wonach es bei der Beurteilung im Sinn des § 11 Abs. 2 Z 1 iVm Abs. 4 Z 1 NAG nicht allein auf das Vorliegen einer rechtskräftigen Bestrafung ankommt.

8. Aus den dargestellten Erwägungen hat das Verwaltungsgericht daher das angefochtene Erkenntnis mit Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften belastet. Die angefochtene Entscheidung war deshalb gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

9. Sollte das Verwaltungsgericht im fortgesetzten Verfahren zum Ergebnis kommen, dass der Aufenthalt des Mitbeteiligten die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährden würde und daher die Erteilungsvoraussetzung des § 11 Abs. 2 Z 1 iVm Abs. 4 Z 1 NAG nicht erfüllt sei, hätte es in einem weiteren Schritt auf Basis entsprechender Feststellungen zu beurteilen, ob gemäß § 11 Abs. 3 NAG die Erteilung des beantragten Aufenthaltstitels zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens geboten sei.

Wien, am

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ECLI:
ECLI:AT:VWGH:2021:RA2018220231.L00

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