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VwGH vom 25.07.2019, Ra 2018/22/0219

VwGH vom 25.07.2019, Ra 2018/22/0219

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Robl, die Hofrätin Mag.a Merl sowie die Hofräte Dr. Mayr, Dr. Schwarz und Mag. Berger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Strasser, über die Revision des A I in W, vertreten durch Dr. Franz Nistelberger, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Stock im Eisen-Platz 3, gegen das am mündlich verkündete und mit gleichem Datum schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes Wien, VGW- 151/064/6057/2018-9, betreffend Aufenthaltstitel (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Landeshauptmann von Wien), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Mit Bescheid des Landeshauptmannes von Wien vom wurde der Antrag des Revisionswerbers, eines iranischen Staatsangehörigen, auf Erteilung eines Aufenthaltstitels "Familiengemeinschaft" gemäß § 69 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) abgewiesen.

2 Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht Wien mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis mit einer für den vorliegenden Fall nicht relevanten Maßgabe ab. Weiters sprach es aus, dass eine ordentliche Revision gegen dieses Erkenntnis gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG unzulässig sei.

3 In seiner Begründung stellte das Verwaltungsgericht - nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung - fest, dass der Revisionswerber von bis aufgrund eines Aufenthaltstitels "Schüler" in Österreich aufenthaltsberechtigt gewesen sei. Der Revisionswerber sei in W geboren und habe seine ersten Lebensjahre in W verbracht. Im Iran habe er die Schule und die Universität besucht. Seine Eltern, sein Großvater und seine Schwester würden im Iran leben. Die Muttersprache des Revisionswerbers sei persisch. Seit seiner Einreise nach Österreich im Jahr 2009 verbringe er alle drei Jahre ca. zwanzig Tage im Iran bei seiner Familie. Der Revisionswerber habe am eine iranische Staatsangehörige, die über eine bis gültige Aufenthaltsberechtigung "Studierende" verfüge, geheiratet. Der Revisionswerber habe ein näher angeführtes Kolleg für Berufstätige (HTL) mit Diplomprüfung vom absolviert. Er sei insgesamt ca. drei Jahre lang in Österreich geringfügig beschäftig gewesen, habe einen Freundes- und Bekanntenkreis in W und spreche sehr gut Deutsch. Zudem sei er strafrechtlich unbescholten.

4 In seiner Abwägung gemäß § 21 Abs. 3 NAG führte das Verwaltungsgericht aus, dass der Revisionswerber seine Ehe erst nach Abweisung des Verlängerungsantrages mit Bescheid vom (rechtskräftig seit ) geschlossen habe, also zu einem Zeitpunkt, in dem der Revisionswerbers sich seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein hätte müssen. Er habe danach Österreich nicht verlassen und sich nicht um eine Legalisierung seines Aufenthaltes bemüht. Zudem habe der Revisionswerber nach wie vor Bindungen zu seinem Herkunftsstaat und beherrsche die persische Sprache auf Muttersprachenniveau. Die vorübergehende Trennung von seiner Ehefrau sei dem Revisionswerber zumutbar, zumal keine gegenseitige finanzielle Abhängigkeit bestehe und aufgrund der Verwurzelung auch seiner Ehefrau im Iran eine gemeinsame Ausreise möglich erscheine. Das persönliche Interesse des Revisionswerbers an der Fortführung seiner sozialen Bindungen in Österreich würde weniger schwer wiegen als die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, wobei insbesondere der Verstoß gegen fremdenrechtliche Vorschriften durch den unrechtmäßigen Verbleib nach rechtskräftiger Abweisung des Verlängerungsantrages zu beachten sei, und der Revisionswerber derzeit keiner Beschäftigung nachgehe.

5 Dagegen richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision. In der Zulässigkeitsbegründung wird die vom Verwaltungsgericht vorgenommene Interessenabwägung gemäß Art. 8 EMRK bestritten. Der Revisionswerber sei in Österreich geboren, seit fast neun Jahren in Österreich aufhältig, habe den HTL-Abschluss geschafft, spreche sehr gut Deutsch und sei drei Jahre lang in Österreich erwerbstätig gewesen. Weiters müsse er für eine Antragstellung im Iran sieben Monate warten. Zudem sei dem Revisionswerber die Eheschließung erst nach Abweisung des Verlängerungsantrages nicht vorzuwerfen, weil diese lange vor Rechtskraft der Abweisung erfolgt sei. Ein familiärer Besuch zur Aufrechterhaltung des Kontaktes zum engsten Familienkreis von etwa zwanzig Tagen alle drei Jahre lasse - entgegen den Ausführungen des Verwaltungsgerichtes - nicht auf eine enge Bindung schließen. Die Ausreise des Revisionswerbers zur Antragstellung im Iran würde demgegenüber in das Privat- und Familienleben des Revisionswerbers mit seiner in Österreich aufenthaltsberechtigen und studierenden Ehefrau in unzulässiger Weise eingreifen. Der Revisionswerber sei in Österreich sozial eingebettet, nicht straffällig geworden und verfüge über genügend finanzielle Mittel.

6 Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Durchführung eines Vorverfahrens - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - erwogen:

7 Die Revision ist zulässig, weil sie zutreffend aufzeigt, dass die Interessenabwägung des Verwaltungsgerichtes in einer unvertretbaren Weise vorgenommen wurde, und ist demnach auch berechtigt.

8 Nach § 21 Abs. 3 Z 2 NAG kann die Behörde abweichend von Abs. 1 auf begründeten Antrag die Antragstellung im Inland zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinn des Art. 8 EMRK (§ 11 Abs. 3 NAG) zulassen, wenn kein Erteilungshindernis gemäß § 11 Abs. 1 Z 1, 2 oder 4 NAG vorliegt und die Ausreise des Fremden aus dem Bundesgebiet zum Zweck der Antragstellung nachweislich nicht möglich oder nicht zumutbar ist. Bei der gemäß § 21 Abs. 3 Z 2 NAG vorzunehmenden Beurteilung nach Art. 8 EMRK ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an der Versagung eines Aufenthaltstitels mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen, insbesondere unter Berücksichtigung der im § 11 Abs. 3 NAG genannten Kriterien in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen (vgl. , mwN).

9 Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits zum Ausdruck gebracht, dass die im Rahmen der Entscheidung über einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG ist (vgl. , mwN).

10 Vorauszuschicken ist zunächst, dass der Verwaltungsgerichtshof nicht verkennt, dass der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks - wie vorliegend durch die Vernehmung des Revisionswerbers im Zuge der vom Verwaltungsgericht durchgeführten Verhandlung - bei der Bewertung der integrationsbegründenden Umstände im Rahmen der Interessenabwägung eine besondere Bedeutung zukommt (vgl. und 0158, mwN). 11 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs nehmen die persönlichen Interessen des Fremden an seinem Verbleib in Österreich grundsätzlich mit der Dauer seines bisherigen Aufenthalts zu. Die bloße Aufenthaltsdauer ist jedoch nicht allein maßgeblich, sondern es ist anhand der jeweiligen Umstände des Einzelfalls zu prüfen, inwieweit der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit dazu genützt hat, sich sozial und beruflich zu integrieren (vgl. , Pkt. 6.2., mwN).

12 Im vorliegenden Fall hielt sich der Revisionswerber bis zur rechtskräftigen Abweisung seines letztmaligen Antrags auf Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung für Studierende bereits rund acht Jahre und zwei Monate rechtmäßig im Inland auf. Daran schloss bis zum nunmehr angefochtenen Erkenntnis ein weiterer rund siebenmonatiger unrechtmäßiger Aufenthalt an. Demzufolge war der Revisionswerber im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichtes bereits fast neun Jahre lang - davon die weit überwiegende Zeit rechtmäßig - im Inland aufhältig. 13 Bei einem derart langen - weit überwiegend rechtmäßigen - inländischen Aufenthalt ist im vorliegenden Fall aus nachstehenden Gründen von einem Überwiegen der persönlichen Interessen auszugehen:

14 Der unbescholtene Revisionswerber hat die Zeit seines Aufenthaltes genutzt, um sich in Österreich zu integrieren, ging doch (auch) das Verwaltungsgericht im angefochtenen Erkenntnis davon aus, dass er nicht zu vernachlässigende Integrationsschritte unternommen hat. So stellte das Verwaltungsgericht fest, dass der Revisionswerber sehr gut Deutsch spreche, dass er jahrelang geringfügig beschäftigt gewesen sei, eine Schulausbildung absolviert und auch einen Freundes- und Bekanntenkreis in Wien aufgebaut habe. Das Verwaltungsgericht stellte ferner nicht in Abrede, dass der Revisionswerber auf Grund der zahlreichen Anknüpfungspunkte und seiner Ehe in Österreich seinen Lebensmittelpunkt in Österreich hat, mögen auch familiäre Bindungen im Herkunftsstaat weiter fortbestehen.

15 Nach dem Vorgesagten ist jedenfalls von einer nicht zu vernachlässigenden sozialen und beruflichen Integration des unbescholtenen Revisionswerbers im Verlauf seines langjährigen weit überwiegend rechtmäßigen Aufenthaltes in Österreich auszugehen. Folglich hätte das Verwaltungsgericht fallbezogen am Maßstab der dargestellten Judikatur den privaten Interessen des Revisionswerbers an einem Verbleib in Österreich den Vorrang geben müssen. Auf den im angefochtenen Erkenntnis herangezogenen Verstoß gegen fremdenrechtliche Vorschriften durch den unrechtmäßigen Verbleib des Revisionswerbers nach Abweisung seines Verlängerungsantrages, das derzeitige Fehlen einer Beschäftigung sowie das Fortbestehen von Bindungen im Herkunftsstaat kam es fallbezogen nicht entscheidend an.

16 Dies hat das Verwaltungsgericht verkannt, sodass das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben war.

17 Von der beantragten Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 5 VwGG abgesehen werden.

18 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die § 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am

Zusatzinformationen


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ECLI:
ECLI:AT:VWGH:2019:RA2018220219.L00
Schlagworte:
Besondere Rechtsgebiete

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