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VwGH vom 08.11.2018, Ra 2018/22/0203

VwGH vom 08.11.2018, Ra 2018/22/0203

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Robl, die Hofrätin Mag.a Merl sowie die Hofräte Dr. Mayr, Dr. Schwarz und Mag. Berger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Strasser, über die Revisionen

1. der K I, 2. des I T und 3. der E T, alle in W und vertreten durch Dr. Michael Vallender, Rechtsanwalt in 1040 Wien, Paulanergasse 10, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom , L515 2193610-1/5E, L515 2193616-1/4E, L515 2193614-1/4E, betreffend Aufenthaltstitel gemäß § 55 AsylG 2005 sowie u.a. Rückkehrentscheidung (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat den revisionswerbenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von insgesamt EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Die Erstrevisionswerberin ist die Mutter der minderjährigen zweit- und drittrevisionswerbenden Parteien; alle sind georgische Staatsangehörige. Die zweit- und drittrevisionswerbenden Parteien wurden in Österreich geboren. Die Erstrevisionswerberin ist vom Vater der zweit- und drittrevisionswerbenden Parteien geschieden und hat die alleinige Obsorge für diese; der Vater der zweit- und drittrevisionswerbenden Parteien, ebenfalls ein georgischer Staatsangehöriger, befindet sich (voraussichtlich bis 2020) in Österreich in Haft. Den behördlichen Feststellungen zufolge verfügte die Erstrevisionswerberin (unter Berichtigung eines Schreibfehlers) zwischen November 2011 und November 2016 durchgehend über eine - mehrmals verlängerte - Aufenthaltsbewilligung für Studierende. Nachdem diese nicht mehr verlängert worden war, beantragte sie für sich und die zweit- und drittrevisionswerbenden Parteien am jeweils die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005).

2 Diese Anträge wurden vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) mit Bescheid vom abgewiesen, gegen die revisionswerbenden Parteien wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen, es wurde festgestellt, dass eine Abschiebung nach Georgien zulässig sei, eine Frist für die freiwillige Ausreise wurde nicht gewährt und einer Beschwerde wurde die aufschiebende Wirkung aberkannt.

3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die Beschwerde der revisionswerbenden Parteien mit der Maßgabe ab, dass die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage betrage. Eine ordentliche Revision wurde für nicht zulässig erklärt.

Begründend führte das BVwG im Wesentlichen aus, die revisionswerbenden Parteien seien ursprünglich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhältig gewesen, hätten jedoch nie über unbefristete Aufenthaltstitel verfügt; daher sei davon auszugehen, "dass die Bindungen der beschwerdeführenden Parteien zu einem Zeitpunkt geknüpft waren (gemeint wohl: wurden), als sich die Erstbeschwerdeführerin bewusst war, dass ihr Aufenthalt in Österreich nur ein vorübergehender ist". Die Erstrevisionswerberin verfüge über eine in Georgien abgeschlossene Ausbildung als Zahnmedizinerin und habe eine Ausbildung zur Kinderbetreuung absolviert. Sie sei nicht selbsterhaltungsfähig, verfüge jedoch über eine Einstellungszusage; dieser komme jedoch nur ein untergeordneter Wert zu (Hinweis etwa auf ). Alle revisionswerbenden Parteien beherrschten die deutsche Sprache; die vorgelegten Empfehlungsschreiben dokumentierten eine gewisse soziale Vernetzung im Bundesgebiet; die zweit- und drittrevisionswerbenden Parteien besuchten den Kindergarten und die Musikschule. Das zwischen den zweit- und drittrevisionswerbenden Parteien und ihrem Vater bestehende Familienleben sei aufgrund dessen Haftaufenthalt "stark gelockert", der Kontakt könne jedoch brieflich, telefonisch, elektronisch und durch "gegenseitige Besuche" aufrechterhalten werden. Dass die zweit- und drittrevisionswerbenden Parteien in Österreich günstigere Entwicklungsbedingungen hätten, führe auch aus dem Blickwinkel des Kindeswohles zu keiner anderslautenden Entscheidung. Es sei davon auszugehen, dass die revisionswerbenden Parteien "in Armenien" nicht sozial entwurzelt seien. "Aufgrund des Umstandes, dass der Aufenthalt der beschwerdeführenden

Parteien vom Anbeginn ... lediglich zeitlich begrenzt war, kann

nunmehr aufgrund des Eintrittes des aufenthaltsbeendenden Umstandes das Privat- und Familienleben in Österreich nicht als schützenswert qualifiziert werden. Das ho. Gericht geht letztlich aufgrund des chronologischen Hergang(s) der Ereignisse davon aus, dass die beschwerdeführenden Parteien den gegenständlichen Antrag rechtsmissbräuchlich in der Umgehung fremden- und niederlassungsrechtlicher Bestimmungen stellten." Schließlich kam das BVwG zu dem Ergebnis, "dass eine Gegenüberstellung der von den beschwerdeführenden Parteien in deren Herkunftsstaat vorzufindenden Verhältnissen mit jenen in Österreich im Rahmen einer Interessenabwägung zu keinem Überwiegen der privaten Interessen der beschwerdeführenden Parteien am Verbleib in Österreich gegenüber den öffentlichen Interessen an einem Verlassen des Bundesgebietes führen würde".

4 In der außerordentlichen Revision beantragen die revisionswerbenden Parteien die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof, die Entscheidung in der Sache selbst durch den Verwaltungsgerichtshof dahin gehend, dass dem Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG 2005 stattgegeben werde, die Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes, in eventu wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften sowie die Zuerkennung von Kosten.

5 Die belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht beteiligte sich nicht am Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

6 In ihrer Zulässigkeitsbegründung rügt die Revision unter anderem das Unterbleiben einer Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht trotz eines ausdrücklichen diesbezüglichen Antrages (Hinweis auf (richtig: 2016), Ra 2016/21/0165) und somit das Fehlen eines persönlichen Eindrucks über die Integrationsverfestigung, zumal sich die Erstrevisionswerberin bereits seit 2008 durchgehend im Bundesgebiet aufhalte und die zweit- und drittrevisionswerbenden Parteien überhaupt noch nie in Georgien gewesen seien.

7 Im Hinblick darauf ist die Revision zulässig, sie ist auch berechtigt.

8 Gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG kann eine mündliche Verhandlung unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht. Der Verwaltungsgerichtshof betont in seiner ständigen Rechtsprechung im Zusammenhang mit den Voraussetzungen für ein Absehen von einer mündlichen Verhandlung, dass die Frage der Intensität der privaten und familiären Bindungen in Österreich nicht auf die bloße Beurteilung von Rechtsfragen reduziert werden kann, sondern der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks in Bezug auf die für die Abwägung nach Art. 8 EMRK relevanten Umstände besondere Bedeutung zukommt (vgl. etwa , mwN).

9 Das 40-seitige Erkenntnis enthält zwar umfangreiche textbausteinartige Ausführungen zu Entscheidungen des EuGH, des Verfassungsgerichtshofes und des Verwaltungsgerichtshofes, diese stehen aber teilweise in keinem erkennbaren Zusammenhang mit dem zu beurteilenden Sachverhalt. Die sachverhaltsbezogenen Feststellungen sind hingegen insofern mangelhaft, als beispielsweise nicht erkennbar ist, welche Dauer des Aufenthalts der Erstrevisionswerberin das BVwG seiner Entscheidung zugrunde legte. Da das Erkenntnis des BVwG an die Stelle des bekämpften Bescheides tritt, der aus dem Rechtsbestand ausscheidet (vgl. , Rn. 8), hat das BVwG den entscheidungsrelevanten Sachverhalt festzustellen. Zum Verfahrensgang werden zwar die Ausführungen aus dem Bescheid des BFA wörtlich zitiert, wonach die Erstrevisionswerberin zwischen November 2011 und November 2016 über Aufenthaltstitel für Studierende verfügte und dass sie "seit 2010 Österreich nie verlassen" habe, weder aus den Feststellungen noch der rechtlichen Beurteilung - etwa zu § 9 Abs. 2 Z 1 BFA-VG zur Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und der Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war - geht jedoch hervor, wie lange sich die Erstrevisionswerberin nach Ansicht des BVwG insgesamt in Österreich aufhält.

Da BFA ging in seinem Bescheid vom von einem Inlandsaufenthalt "seit dem Jahr 2008" aus, wobei die Erstrevisionswerberin zu Weihnachten 2010 für drei Wochen bei ihrer Familie in Georgien gewesen sei. Auch in der Beschwerde wies die Revisionswerberin auf ihren Aufenthalt in Österreich seit 2008 hin. Dem Verfahrensakt liegt ein Versicherungsdatenauszug bei, wonach die Erstrevisionswerberin von bis als geringfügig versicherte Angestellte in Österreich tätig war. Danach verfügte sie - einer Aufstellung des Landeshauptmannes von Wien vom über erteilte Aufenthaltstitel zufolge - über Aufenthaltstitel für Sonderfälle unselbständige Erwerbstätige, Schüler und Studierende bis November 2016. Ausgehend davon hielte sich die Erstrevisionswerberin offenbar zum Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG bereits mehr als zehn Jahre überwiegend rechtmäßig im Bundesgebiet auf.

Entgegen der Ansicht des BVwG erweist sich ein Privat- und Familienleben, das während befristet erteilter Aufenthaltstitel begründet wird, durchaus als schützenswert; die daraus resultierende Verfestigung ist auch nicht als relativiert anzusehen, wie dies etwa während eines unrechtmäßigen Aufenthalts oder einer vorläufigen Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG 2005 der Fall wäre. Eine Auseinandersetzung mit der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes bei Interessenabwägungen nach Art. 8 EMRK, wonach einem zehnjährigen Inlandsaufenthalt eine besondere Bedeutung beigemessen wird (vgl. grundsätzlich zum regelmäßigen Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich bei einem mehr als zehn Jahre dauernden Inlandsaufenthalt , Rn. 11, mwN), fehlt jedoch gänzlich. Angesichts des langen, überwiegend rechtmäßigen Aufenthalts der Erstrevisionswerberin in Österreich und der vom BVwG festgestellten Integrationsmerkmale (Sprachkenntnisse, eine "gewisse soziale Vernetzung im Bundesgebiet", die Anerkennung der in Georgien absolvierten zahnmedizinischen Ausbildung als "Zahnärztliche Assistentin", die in Österreich absolvierte "Ausbildung zur pädagogisch qualifizierten Person für Kinderbetreuung", eine Einstellungszusage) sowie der aus dem Verfahrensakt ersichtlichen zusätzlichen Bemühungen (Absolvierung von Modulen am Kolleg für Berufstätige in Englisch und Webpublishing, Beschäftigung zwischen Juni 2013 und August 2015 als Teilzeitkraft im Handel, Tätigkeit als Kinderbetreuerin von Jänner 2015 bis Dezember 2015 und als Sprechstundenhilfe zwischen September 2011 und August 2012, Teilnahme an sportlichen Veranstaltungen) kommt der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks in Bezug auf die für die Abwägung nach Art. 8 EMRK relevanten Umstände besonderes Gewicht zu.

10 Letztlich lässt das angefochtene Erkenntnis jede Begründung für die Behauptung vermissen, die gegenständlichen Anträge seien rechtsmissbräuchlich gestellt worden.

11 Indem das BVwG zu Unrecht davon ausging, dass von einer Verhandlung abgesehen werden konnte, belastete es seine Entscheidung, soweit es die Abweisung der Beschwerde der Erstrevisionswerberin hinsichtlich ihres beantragten Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG 2005 betrifft, mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit. Angesichts dieser Aufhebung können die Aussprüche über die Erlassung einer Rückkehrentscheidung, die Zulässigkeit der Abschiebung nach Georgien und die Frist von 14 Tagen für die freiwillige Ausreise keinen Bestand haben und sind daher ebenfalls aufzuheben (vgl. , mwN).

12 Da die Anträge der zweit- und drittrevisionswerbenden Parteien vom Schicksal der Erstrevisionswerberin abhängen, erweist sich das angefochtene Erkenntnis auch hinsichtlich ihrer Anträge als nicht rechtmäßig.

13 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

14 Von der Durchführung der beantragten Verhandlung konnte unter diesen Umständen gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 VwGG Abstand genommen werden.

15 Der Kostenzuspruch gründet sich auf die § 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014. Wien, am

Zusatzinformationen


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ECLI:
ECLI:AT:VWGH:2018:RA2018220203.L00
Schlagworte:
Maßgebende Rechtslage maßgebender Sachverhalt Besondere Rechtsgebiete Verfahrensbestimmungen

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Fundstelle(n):
MAAAE-80655