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VwGH vom 31.01.2019, Ra 2018/22/0193

VwGH vom 31.01.2019, Ra 2018/22/0193

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Robl, die Hofrätin Mag.a Merl sowie die Hofräte Dr. Mayr, Dr. Schwarz und Mag. Berger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Strasser, über die Revision

1. des A B Ü und 2. der S Ü, beide vertreten durch Dr. Rudolf Mayer, Rechtsanwalt in 1090 Wien, Universitätsstraße 8/2, gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom , VGW- 151/016/3846/2018-10 und VGW-151/016/3850/2018, betreffend Aufenthaltstitel (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Landeshauptmann von Wien), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat den revisionswerbenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von insgesamt EUR 1.326,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Die minderjährigen revisionswerbenden Parteien wurden in Österreich geboren. Ihre Eltern verfügen über Aufenthaltstitel "Daueraufenthalt-EU", der fünfjährige Bruder hat einen Aufenthaltstitel "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" inne; alle Familienmitglieder sind türkische Staatsangehörige. Auch die revisionswerbenden Parteien verfügten bis bzw. über Aufenthaltstitel "Rot-Weiß-Rot - Karte plus". Ihr Vater beantragte jedoch erst am - und somit nach Ablauf der Gültigkeit der Aufenthaltstitel - deren Verlängerung.

2 Der Landeshauptmann von Wien (Behörde) wertete die Verlängerungsanträge wegen der verspäteten Antragstellung als Erstanträge und wies sie wegen unzulässiger Inlandsantragstellung ab.

3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Verwaltungsgericht Wien (VwG) die dagegen erhobene Beschwerde mit der Maßgabe, dass sich die Entscheidung nicht auf die unzulässige Inlandsantragstellung stütze, ab. Eine ordentliche Revision wurde für unzulässig erklärt.

In seiner Begründung führte das VwG zunächst aus, die revisionswerbenden Parteien könnten aufgrund einer geringfügigen Beschäftigung ihres Vaters Rechte aus dem Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom über die Entwicklung der Assoziation (im Folgenden: ARB 1/80) ableiten. Aufgrund der Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 seien fallbezogen nicht die Bestimmungen des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes (NAG), sondern des Fremdengesetzes 1997 (FrG 1997) anzuwenden. Die Anträge seien daher als Verlängerungsanträge zu werten (§ 24 Abs. 2 NAG idF vor BGBl. I Nr. 29/2009) und eine Inlandsantragstellung sei zulässig.

Anschließend beurteilte das VwG den Unterhaltsbedarf einer fünfköpfigen Familie gemäß § 10 Abs. 2 Z 2 FrG 1997 iVm der Verordnung der Wiener Landesregierung zum Gesetz zur Bedarfsorientierten Mindestsicherung in Wien 2018 (WMG-VO 2018, LGBl. Nr. 3) und kam zu dem Ergebnis, es müsse "ein Netto-Monatseinkommen von zumindest EUR 647,28 (Richtsatz für ein Ehepaar) + 3 x EUR 233,02 (Richtsatz für drei Kinder), demnach insgesamt EUR 880,34, zur Sicherung (d)er Lebensbedürfnisse zur freien Verfügung stehen." Die Eltern der revisionswerbenden Parteien lukrierten monatlich finanzielle Mittel in Höhe von EUR 1.953,29 (EUR 84,50 aus einer geringfügigen Beschäftigung des Vaters, EUR 1.283,59 Notstandshilfe der Eltern, EUR 585,20 Familienbeihilfe; die Wohnbeihilfe bleibe unberücksichtigt). Dem stünden Ausgaben in Höhe von EUR 789,80 (Mietzins und Versicherungen) sowie eine aliquote Rückzahlung von Geldschulden des Vaters "iHv EUR 3.333,33 (= EUR 40.000,--/ 12)" gegenüber. Die monatliche Gesamtbelastung betrage somit EUR 4.123,13 und übersteige die zur Verfügung stehenden Mittel deutlich. Die Erteilungsvoraussetzung gemäß § 10 Abs. 2 Z 2 FrG 1997 sei daher nicht erfüllt.

Im Rahmen "einer Ermessensentscheidung gemäß § 8 Abs. 1 FrG" (gemeint wohl: Interessenabwägung gemäß § 10 Abs. 4 FrG 1997) kam das VwG zu dem Ergebnis, dass "auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass die Dauer des Aufenthaltes der beschwerdeführenden Parteien in Österreich zehn Jahre nicht erreicht - das öffentliche Interesse an der Versagung der begehrten Aufenthaltstitel das private Interesse an der Erteilung derselben noch überwiegt und daher der hier vorgenommene Eingriff noch verhältnismäßig ist". Dabei berücksichtigte das VwG die Geburt der revisionswerbenden Parteien in Österreich, ihren rechtmäßigen Aufenthalt im Bundesgebiet seit nahezu drei bzw. rund sechs Jahren, den rechtmäßigen Aufenthalt ihrer Eltern und des Bruders, den Kindergartenbesuch der Zweitrevisionswerberin sowie den Aufenthalt der Großeltern väterlicherseits, der Geschwister des Vaters und einer Schwester der Mutter in Österreich. Dem hielt das VwG entgegen, dass "die Familie der revisionswerbenden Parteien in Österreich weder wirtschaftlich noch sozial integriert ist", die familieninterne Kommunikation weit überwiegend in türkischer Sprache erfolge und regelmäßiger Kontakt (mehrwöchige Besuche zumindest jedes zweite Jahr) zu den in der Türkei lebenden Großeltern und den drei Geschwistern mütterlicherseits bestehe; "auf Grund des Alters der beschwerdeführenden Parteien, in welchem jedenfalls von einer Anpassungsfähigkeit an ein neues Umfeld auszugehen ist, erscheint den beschwerdeführenden Parteien auch ein längerfristiger Aufenthalt in der Türkei mit ihren Eltern, insbesondere mit ihrer Mutter, und eine dortige Fortsetzung des Familienlebens aus Sicht des Verwaltungsgerichtes noch zumutbar. Da vor diesem Hintergrund bei einer abweisenden Entscheidung über die gegenständliche Beschwerde eine Trennung der Familie nicht zwingend ist, ist eine Gefährdung des Kindeswohles auch nicht zu befürchten."

4 Dagegen richtet sich die außerordentliche Revision. 5 Eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

6 In ihrer Zulässigkeitsbegründung rügt die Revision zunächst die Berechnung der erforderlichen Unterhaltsmittel, insbesondere die Annahme einer aliquoten Rückzahlung der gesamten Geldschulden des Vaters der revisionswerbenden Parteien in Höhe von EUR 40.000,-

- (nach einem Privatkonkurs, wobei aktuell keine Raten an die Gläubiger geleistet werden) während der zwölfmonatigen Geltungsdauer der beantragten Aufenthaltstitel ohne Berücksichtigung des pfändungsfreien Betrages. Weiter bringt die Revision vor, es fehle hg. Rechtsprechung zu der Frage, "wie denn ein Begünstigter nach Arb 1/80 sein Recht auf freien Zugang zum Arbeitsmarkt entfalten kann, wenn denn seinen Kindern das Recht auf den weiteren Verbleib gemeinhin abgesprochen wird."

7 Die Revision ist zulässig und auch begründet. 8 Fallbezogen kann sowohl die Frage der Berechnung der Unterhaltsmittel als auch jene betreffend ARB 1/80 dahingestellt bleiben, weil eine gemäß § 11 Abs. 2 Z 4 iVm Abs. 3 NAG vorzunehmende Interessenabwägung mit Blick auf die dreibzw. sechsjährigen revisionswerbenden Parteien, die in Österreich geboren wurden, seither durchgehend gemeinsam mit ihrer Kernfamilie, die über Aufenthaltstitel "Daueraufenthalt-EU (Eltern) bzw. "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" (Bruder) verfügen, lebten, denen die fehlende wirtschaftliche und soziale Integration ihrer Familie nicht zugerechnet werden kann und die auch keinen Einfluss darauf haben, in welcher Sprache innerhalb der Familie kommuniziert wird, jedenfalls zu ihren Gunsten ausfällt.

9 Schon aus diesem Grund war das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

10 Dennoch wird auf Folgendes hingewiesen:

Zunächst ist nicht ersichtlich, aus welchem Grund das VwG zur Berechnung der notwendigen Unterhaltsmittel die WMG-VO 2018 heranzog und insoweit offenbar eine neue Beschränkung im Sinn des Art. 13 ARB 1/80 als gegeben annahm, zumal die im Entscheidungszeitpunkt relevanten Richtsätze des § 293 Abs. 1 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz im Vergleich zu jenen der WMG-VO 2018 aus Sicht der revisionswerbenden Parteien - zumindest hinsichtlich der Kinder - günstiger sind. Abgesehen davon ist die Berechnung des VwG der gemäß § 10 Abs. 2 Z 2 FrG 1997 iVm der WMG-VO 2018 erforderlichen Unterhaltsmittel auch fehlerhaft (der Bedarf für zwei Erwachsene in einer Bedarfsgemeinschaft und drei minderjährige Kinder würde auf dieser Grundlage richtig EUR 1.993,62 (EUR 647,28 pro Elternteil zuzüglich EUR 233,02 pro Kind betragen) und nicht - wie vom VwG berechnet - EUR 880,34 betragen).

Der Revision ist zuzustimmen, dass bei der Berechnung des zur Verfügung stehenden Haushaltseinkommens die Rückzahlung der aus einem Privatkonkurs des Vaters noch aushaftenden Schulden in Höhe von EUR 40.000,-- nicht innerhalb von 12 Monaten in Anschlag zu bringen sind. Eine Exekution wäre derzeit nicht zulässig, weil die Familienbeihilfe generell nicht pfändbar ist und das pfändbare Einkommen das Existenzminimum (§§ 291 EO iVm 293 ASVG) für eine fünfköpfige Familie nicht übersteigt.

Zum Revisionsvorbringen betreffend ARB 1/80 wird angemerkt, dass Familienangehörige eines türkischen Arbeitnehmers gemäß Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80 zunächst die Genehmigung erhalten können, zum Zweck der Familienzusammenführung zu dem Arbeitnehmer zu ziehen; Kinder, die bereits im Aufnahmemitgliedstaat geboren wurden und stets dort lebten, sind ebenfalls vom Anwendungsbereich des Art. 7 ARB 1/80 erfasst, ohne dass sie eine Erlaubnis benötigen, um zu dem türkischen Arbeitnehmer zu ziehen (vgl. Cetinkaya, C-467/02, Rn. 23). Der EuGH hob bereits hervor, dass das System des schrittweisen Erwerbs von Rechten nach Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80 einem doppelten Zweck dient. Erstens sollen nach der genannten Vorschrift bis Ablauf des ersten Zeitraums von drei Jahren Familienangehörige des Wanderarbeitnehmers die Möglichkeit erhalten, bei diesem zu leben, um so durch Familienzusammenführung die Beschäftigung und den Aufenthalt des türkischen Arbeitnehmers, der sich bereits ordnungsgemäß in den Aufnahmemitgliedstaat integrierte, zu begünstigen. Zweitens soll diese Vorschrift eine dauerhafte Eingliederung der Familie des türkischen Wanderarbeitnehmers im Aufnahmemitgliedstaat fördern, indem dem betroffenen Familienangehörigen nach drei Jahren ordnungsgemäßen Wohnsitzes selbst der Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglicht wird (vgl. Bozkurt, C-303/08, Rn. 32f). Die ordnungsgemäßen Wohnsitzzeiten von bestimmter Dauer setzen zwangsläufig voraus, dass die Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers, die die Genehmigung erhalten haben, im Aufnahmemitgliedstaat zu ihm ziehen, während dieser Zeiten ein Aufenthaltsrecht haben; denn mit der Verweigerung eines solchen Rechts würde die den Betroffenen eröffnete Möglichkeit, im Gebiet des Mitgliedstaats ihren Wohnsitz zu haben, gerade verneint. Außerdem wäre die den betroffenen Familienangehörigen gewährte Genehmigung, im Gebiet des Aufnahmemitgliedstaats zu dem türkischen Arbeitnehmer zu ziehen, ohne Aufenthaltsrecht völlig wirkungslos (vgl. Kadiman, C-351/95, Rn. 29).

Nach der Rechtsprechung des EuGH ist eine Familienzusammenführung ein unerlässliches Mittel zur Ermöglichung des Familienlebens türkischer Erwerbstätiger, die dem Arbeitsmarkt der Mitgliedstaaten angehören, und sowohl zur Verbesserung der Qualität ihres Aufenthalts als auch zu ihrer Integration in diesen Staaten beiträgt. Auf die Entscheidung eines türkischen Staatsangehörigen, sich in einem Mitgliedstaat niederzulassen, um dort dauerhaft einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, kann es sich nämlich negativ auswirken, wenn die Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats die Familienzusammenführung erschweren oder unmöglich machen und sich der türkische Staatsangehörige deshalb unter Umständen zu einer Entscheidung zwischen seiner Tätigkeit in dem betreffenden Mitgliedstaat und seinem Familienleben in der Türkei gezwungen sehen kann (vgl. Dogan, C- 138/13, Rn. 34f). Art. 7 ARB 1/80 steht nämlich in Abschnitt 1 des Kapitels II dieses Beschlusses, das die Überschrift "Soziale Bestimmungen" trägt. Dieser Abschnitt behandelt Fragen betreffend die Beschäftigung und die Freizügigkeit der Arbeitnehmer. Im Übrigen hat der EuGH bereits entschieden, dass die sozialen Bestimmungen des ARB 1/80, zu denen Art. 7 Abs. 1 gehört, einen weiteren durch die Art. 45 AEUV, 46 AEUV und 47 AEUV geleiteten Schritt zur Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer bilden und dass daher die im Rahmen dieser Artikel geltenden Grundsätze so weit wie möglich auf die türkischen Arbeitnehmer, die die in diesem Beschluss eingeräumten Rechte besitzen, übertragen werden müssen (vgl. Dülger, C-451/11, Rn. 46 bis 48, mit Hinweisen auf Tetik, C-171/95, Rn. 20; , Kadiman, C-351/95, Rn. 30).

Für den vorliegenden Sachverhalt bedeutet dies, dass - sofern der Vater eine Berechtigung nach Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 erlangte (vgl. diesbezüglich die unklaren Ausführungen im angefochtenen Erkenntnis betreffend das Ausmaß seiner Beschäftigung) - die minderjährigen revisionswerbenden Parteien auch aus dem Blickwinkel des ARB 1/80 ein Aufenthaltsrecht ableiten könnten.

11 Die Kostenentscheidung beruht - im Rahmen des Begehrens - auf den § 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am

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ECLI:
ECLI:AT:VWGH:2019:RA2018220193.L00

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