VwGH vom 25.04.2019, Ra 2018/22/0043
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Robl, die Hofrätin Mag.a Merl sowie die Hofräte Dr. Mayr, Dr. Schwarz und Mag. Berger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Strasser, über die Revision des Bundesministers für Inneres, gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes Wien vom , VGW- 051/055/764/2017-4, betreffend Bestrafung nach dem NAG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Magistrat der Stadt Wien; mitbeteiligte Partei: Ö A in W), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Begründung
1 Mit Straferkenntnis des Magistrats der Stadt Wien (belangte Behörde) vom wurde gegen die Mitbeteiligte, eine türkische Staatsangehörige, wegen Nichterfüllung der Integrationsvereinbarung im Zeitraum vom bis gemäß § 77 Abs. 1 Z 3 in Verbindung mit § 14a und § 81 Abs. 18 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005 in der Fassung vor dem Bundesgesetz BGBl. I Nr. 68/2017, eine Geldstrafe von EUR 50,-- verhängt. 2 In der dagegen erhobenen Beschwerde brachte die Mitbeteiligte vor, dass sie am die mündliche und am die schriftliche Prüfung für das ÖSD-Zertifikat A2 bestanden habe.
3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom gab das Verwaltungsgericht Wien dieser Beschwerde Folge und stellte das Verfahren gemäß § 45 Abs. 1 Z 2 VStG ein. Weiters sprach es aus, dass die Revisionswerberin gemäß § 52 Abs. 8 VwGVG keinen Beitrag zu den Kosten des Beschwerdeverfahrens zu leisten habe und eine ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof unzulässig sei.
4 Begründend stellte das Verwaltungsgericht fest, dass die Mitbeteiligte seit in Österreich aufhältig sei. Im Mai 2009 sei ihr der erste Aufenthaltstitel zur Familienzusammenführung mit ihrem österreichischen Ehegatten erteilt worden. In der Folge seien ihr aufgrund jeweils fristgerechter Verlängerungsanträge Aufenthaltstitel als Familienangehörige eines Österreichers - zuletzt am mit einer Gültigkeit bis zum - mit freiem Zugang zum Arbeitsmarkt erteilt worden. Die Mitbeteiligte sei seit - mit Unterbrechungen - beim Arbeitsmarktservice als arbeitssuchend gemeldet. Am habe sie ein Kind geboren und seit Kindergeld bezogen. Es bestehe offenkundig die Absicht der Mitbeteiligten, unselbständig erwerbstätig zu sein.
5 In rechtlicher Hinsicht führte das Verwaltungsgericht unter Hinweis auf das Urteil des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH) vom , Dereci, C-256/11, aus, dass die Mitbeteiligte in den Anwendungsbereich des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom über die Entwicklung der Assoziation (ARB 1/80) falle und der Anwendung der Bestimmungen des NAG über die Verpflichtung der Erfüllung einer Integrationsvereinbarung bzw. den verpflichtenden Erwerb der deutschen Sprache innerhalb einer Frist ab der Erteilung des ersten Aufenthaltstitels die Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 entgegenstünde. Die Integrationsvereinbarung sei erst mit der Fremdengesetznovelle 2002, BGBl. I Nr. 126/2002, eingeführt worden und stelle eine neue Beschränkung der Möglichkeit der Aufenthaltsnahme für türkische Staatsangehörige und sohin auch der Möglichkeit, eine Erwerbstätigkeit in Österreich aufzunehmen, dar. Eine Bestrafung wegen der nicht fristgerechten Erfüllung der Integrationsvereinbarung sei somit unzulässig.
6 Dagegen richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision.
7 Die Revision bringt in der Zulässigkeitsbegründung auf das Wesentliche zusammengefasst vor, die Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 betreffe gemäß der Rechtsprechung des EuGH (Hinweis auf Demirkan, C-221/11) nur die Voraussetzungen für die Einreise türkischer Staatsangehöriger in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten und ihren dortigen Aufenthalt. Eine nationale Regelung falle nur insoweit in den Anwendungsbereich der Stillhalteklausel, als sie geeignet sei, die Erwerbstätigkeit im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaates durch türkische Arbeitnehmer zu verhindern. Mit erstmaliger Erteilung des Aufenthaltstitels werde zwar die Verpflichtung zur Erfüllung der Integrationsvereinbarung begründet, die tatsächliche Erfüllung von Modul 1 der Integrationsvereinbarung habe jedoch binnen eines Zeitraumes von zwei Jahren zu erfolgen. Das bedeute, dass der Drittstaatsangehörige bereits einen Aufenthaltstitel innehabe und ihm somit ausreichend Zeit und Gelegenheit zur Verfügung stehe, die erforderlichen Deutschkenntnisse in Österreich zu erwerben. 8 Selbst wenn man davon ausginge, dass die Verpflichtung zur Erfüllung von Modul 1 der Integrationsvereinbarung eine neue Beschränkung im Sinn der Stillhalteklausel darstellen würde, sei diese durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gemäß Art. 14 ARB 1/80 gerechtfertigt. Um sich am Arbeitsmarkt bestmöglich und nachhaltig integrieren zu können, seien Kenntnisse der deutschen Sprache unabdingbar. Weiters stelle § 14a NAG ausreichende Möglichkeiten zur Verfügung (Antrag auf Verlängerung des Zeitraumes der Erfüllungspflicht, Ausnahmen von der Erfüllungspflicht) um im konkreten Einzelfall besondere Härtefälle zu vermeiden, sodass die Regelung zur Erreichung des angestrebten legitimen Zieles geeignet und angemessen sei.
9 Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Durchführung eines Vorverfahrens - die Mitbeteiligte erstattete keine Revisionsbeantwortung, die vor dem Verwaltungsgericht belangte Behörde schloss sich den Revisionsausführungen an - in einem gemäß § 12 Abs. 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
10 Die Revision ist im Hinblick auf das dargestellte Vorbringen zulässig und aus folgenden Gründen auch berechtigt. 11 Die maßgeblichen Vorschriften des NAG, BGBl. I Nr. 100/2005 in der zum Entscheidungszeitpunkt geltenden Fassung BGBl. I Nr. 145/2017, lauten auszugsweise:
"Übergangsbestimmungen
§ 81. (1) (...)
(18) Drittstaatsangehörige, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 38/2011 zur Erfüllung der Integrationsvereinbarung gemäß § 14 in der Fassung vor dem Bundesgesetz BGBl. I Nr. 38/2011 verpflichtet sind, aber diese noch nicht erfüllt haben, haben die Integrationsvereinbarung gemäß § 14 in der Fassung vor dem Bundesgesetz BGBl. I Nr. 38/2011 bis zum zu erfüllen oder binnen fünf Jahren nach Beginn der Erfüllungspflicht, wenn dieser Zeitraum vor dem endet.
(...)
(20) Eine Erfüllung der Integrationsvereinbarung gemäß Abs. 18 oder 19 gilt als Erfüllung des Moduls 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 14a. Eine Nichterfüllung der Integrationsvereinbarung gemäß Abs. 18 oder 19 gilt als Nichterfüllung des Moduls 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 14a.
(...)
(40) § 77 Abs. 1 Z 3 und Abs. 2 Z 5 dieses Bundesgesetzes in der Fassung vor dem Bundesgesetz BGBl. I Nr. 68/2017 gilt für strafbare Handlungen, die vor dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 68/2017 begangen wurden, weiter.
In-Kraft-treten
§ 82. (1) (...)
(24) Die § 14 bis 17 samt Überschriften, 83 Z 3 und 4 sowie die Einträge im Inhaltsverzeichnis zu § 14 bis 17 in der Fassung vor Inkrafttreten des Bundesgesetzes, BGBl. I Nr. 68/2017, treten rückwirkend mit in Kraft und mit Ablauf des außer Kraft. § 77 Abs. 1 Z 3 und Abs. 2 Z 5 in der Fassung vor Inkrafttreten des Bundesgesetzes, BGBl. I Nr. 68/2017, treten mit Ablauf des Tages der Kundmachung dieses Bundesgesetzes in Kraft und mit Ablauf des außer Kraft.
(25) Die Anordnungen des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 145/2017 sind so zu verstehen, dass sie sich auf jene Fassung der Bestimmungen dieses Bundesgesetzes beziehen, die sie durch das Bundesgesetz, mit dem ein Integrationsgesetz und ein Anti-Gesichtsverhüllungsgesetz erlassen sowie das Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz, das Asylgesetz 2005, das Fremdenpolizeigesetz 2005, das Staatsbürgerschaftsgesetz 1985 und die Straßenverkehrsordnung 1960 geändert werden, BGBl. I Nr. 68/2017, erhalten.
(...)"
12 § 77 NAG, BGBl. I Nr. 100/2005 in der Fassung vor dem BGBl. I Nr. 68/2017, lautet auszugsweise:
"Strafbestimmungen
§ 77. (1) Wer
(...)
3. zur Erfüllung des Moduls 1 der Integrationsvereinbarung verpflichtet ist und den Nachweis zwei Jahre nach Erteilung des Aufenthaltstitels nach diesem Bundesgesetz aus Gründen, die ausschließlich ihm zuzurechnen sind, nicht erbringt, es sei denn, ihm wurde eine Verlängerung gemäß § 14a Abs. 2 gewährt;
(...)
begeht eine Verwaltungsübertretung und ist mit Geldstrafe von 50 Euro bis zu 250 Euro, im Fall ihrer Uneinbringlichkeit mit Freiheitsstrafe bis zu einer Woche, zu bestrafen."
13 § 14 NAG, BGBl. I Nr. 100/2005 in der Fassung vor dem BGBl. I Nr. 38/2011, lautet auszugsweise:
"Integrationsvereinbarung
§ 14. (1) Die Integrationsvereinbarung dient der Integration rechtmäßig auf Dauer oder längerfristig im Bundesgebiet aufhältiger oder niedergelassener Drittstaatsangehöriger. Sie bezweckt den Erwerb von Kenntnissen der deutschen Sprache, insbesondere der Fähigkeit des Lesens und Schreibens, zur Erlangung der Befähigung zur Teilnahme am gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben in Österreich.
(2) Im Rahmen der Integrationsvereinbarung sind zwei aufeinander aufbauende Module zu erfüllen, wobei
1. das Modul 1 dem Erwerb der Fähigkeit des Lesens und Schreibens und
2. das Modul 2 dem Erwerb von Kenntnissen der deutschen Sprache und der Befähigung zur Teilnahme am gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben in Österreich
dient.
(3) Drittstaatsangehörige sind mit Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels zur Erfüllung einer Integrationsvereinbarung verpflichtet. Diese Pflicht ist dem Drittstaatsangehörigen nachweislich zur Kenntnis zu bringen. Keine Verpflichtung besteht, wenn er schriftlich erklärt, dass sein Aufenthalt die Dauer von zwölf Monaten innerhalb von 24 Monaten nicht überschreiten soll. Diese Erklärung beinhaltet den Verzicht auf die Stellung eines Verlängerungsantrages.
(4) Ausgenommen von der Erfüllung der Integrationsvereinbarung sind Drittstaatsangehörige,
1. die zum Zeitpunkt der Erfüllungspflicht (Abs. 8) unmündig sind oder sein werden,
2. denen auf Grund ihres hohen Alters oder Gesundheitszustandes die Erfüllung der Integrationsvereinbarung nicht zugemutet werden kann; Letzteres hat der Drittstaatsangehörige durch ein amtsärztliches Gutachten nachzuweisen.
(5) Die einzelnen Module der Integrationsvereinbarung sind erfüllt, wenn der Drittstaatsangehörige
1. einen Nachweis über Kenntnisse des Lesens und Schreibens vorlegt (für Modul 1);
2. einen Deutsch-Integrationskurs besucht und erfolgreich abschließt (für Modul 2);
(...)"
14 § 14a NAG, BGBl. I Nr. 100/2005 in der Fassung
BGBl. I Nr. 38/2011, lautet auszugsweise:
"Modul 1 der Integrationsvereinbarung
§ 14a. (1) Drittstaatsangehörige sind mit erstmaliger Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 8 Abs. 1 Z 1, 2, 4, 5, 6 oder 8 zur Erfüllung des Moduls 1 der Integrationsvereinbarung verpflichtet. Diese Pflicht ist dem Drittstaatsangehörigen nachweislich zur Kenntnis zu bringen.
(...)
(4) Das Modul 1 der Integrationsvereinbarung ist erfüllt, wenn der Drittstaatsangehörige
(...)
2. einen allgemein anerkannten Nachweis über ausreichende Deutschkenntnisse gemäß § 14 Abs. 2 Z 1 vorlegt,
(...)
Die Erfüllung des Moduls 2 (§ 14b) beinhaltet das Modul 1.
(...)"
15 Gemäß Art. 13 ARB 1/80 dürfen die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft für Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sind, keine neuen Beschränkungen der Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen.
16 Das Verwaltungsgericht begründet das Vorliegen einer neuen Beschränkung im Sinn des Art. 13 ARB 1/80 damit, dass durch die Verpflichtung der Erfüllung der Integrationsvereinbarung die Möglichkeit der Mitbeteiligten zur "Aufenthaltsnahme und sohin auch der Möglichkeit, eine Erwerbstätigkeit in Österreich aufzunehmen", beschränkt wäre.
17 Der EuGH hat festgehalten, dass eine nationale Regelung nur insoweit in den Anwendungsbereich der Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 fällt, als sie geeignet ist, die Erwerbstätigkeit im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaates durch türkische Arbeitnehmer zu beeinträchtigen (vgl. etwa C. Genc, C-561/14, Rn. 44). Eine Beschränkung, mit der bezweckt oder bewirkt werde, die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit im Inland durch einen türkischen Staatsangehörigen strengeren Voraussetzungen zu unterwerfen, sei verboten, sofern sie nicht zu den in Art. 14 ARB 1/80 aufgeführten Beschränkungen gehöre oder durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt oder geeignet sei, die Erreichung des angestrebten legitimen Zieles zu erreichen, und nicht über das zu dessen Erreichung Erforderliche hinausgehe (vgl. Demir, C-225/12, Rn. 40).
18 Das Verwaltungsgericht vermag mit seinen Ausführungen, in einem Fall wie dem vorliegenden, nicht darzulegen, inwieweit die Verpflichtung - unter Androhung einer Verwaltungsstrafe - innerhalb eines bestimmten Zeitraumes Deutschkenntnisse nachweisen zu müssen, vor dem Hintergrund dieser Rechtsprechung des EuGH überhaupt geeignet ist, die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit durch einen türkischen Staatsangehörigen strengeren Voraussetzungen zu unterwerfen.
19 Der Mitbeteiligten als Familienangehörige eines Österreichers wurden nämlich gemäß den Feststellungen des Verwaltungsgerichtes Aufenthaltstitel mit freiem Zugang zum Arbeitsmarkt erteilt und jeweils - zuletzt am mit einer Gültigkeit bis zum - verlängert. Im vorliegenden Fall ist somit nicht ersichtlich, inwiefern die Mitbeteiligte durch die gegenständliche Strafbestimmung und die Bestrafung in Höhe von EUR 50,-- (Strafandrohung einer Geldstrafe von 50 Euro bis zu 250 Euro) in ihrem Zugang zum österreichischen Arbeitsmarkt eingeschränkt wäre.
20 Das angefochtene Erkenntnis ist sohin bereits aus diesem Grund mit Rechtswidrigkeit seines Inhalts belastet, weshalb es gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben war.
Wien, am
Zusatzinformationen
Tabelle in neuem Fenster öffnen
ECLI: | ECLI:AT:VWGH:2019:RA2018220043.L00 |
Dieses Dokument entstammt dem Rechtsinformationssystem des Bundes.