VwGH vom 09.08.2018, Ra 2018/22/0033
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Robl, die Hofrätin Mag.a Merl sowie die Hofräte Dr. Mayr, Dr. Schwarz und Mag. Berger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Strasser, über die Revision des Landeshauptmannes von Wien gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes Wien vom , VGW- 151/V/063/14670/2017-1, betreffend Wiederaufnahme eines Verfahrens nach dem NAG (mitbeteiligte Partei: J T in W, vertreten durch MMag. Wolfgang Ebner, Rechtsanwalt in 1060 Wien, Magdalenenstraße 4/12), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Begründung
1 Der Mitbeteiligten, einer serbischen Staatsangehörigen, wurde am auf Grund ihres - auf die Ehe mit dem österreichischen Staatsbürger S J gestützten - Antrags vom ein Aufenthaltstitel "Familienangehöriger" nach § 47 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) erteilt.
2 Mit Bescheid des Landeshauptmannes von Wien (belangte Behörde) vom wurde das diesbezüglich rechtskräftig abgeschlossene Verfahren gemäß § 69 Abs. 1 Z 1 in Verbindung mit Abs. 3 AVG von Amts wegen wieder aufgenommen. Gemäß § 70 Abs. 1 AVG wurde der genannte Antrag unter einem nach § 11 Abs. 1 Z 4 NAG wegen Eingehen einer Aufenthaltsehe abgewiesen. Die belangte Behörde ging - gestützt insbesondere auf die Ermittlungsergebnisse der Landespolizeidirektion (LPD) Wien - davon aus, dass es sich bei der Ehe der Mitbeteiligten mit S J um eine Aufenthaltsehe handle.
3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom gab das Verwaltungsgericht der dagegen erhobenen Beschwerde der Mitbeteiligten Folge und behob den angefochtenen Bescheid. Die ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 B-VG erklärte es für unzulässig.
Das Verwaltungsgericht verwies nach Darstellung des Verfahrensganges darauf, dass auf Grund des Abschlussberichtes der LPD Wien eine Anzeige wegen des Verdachts einer Aufenthaltsehe an die Staatsanwaltschaft erstattet worden sei. Mit dem in Rechtskraft erwachsenen Urteil des Bezirksgerichtes Innere Stadt Wien vom zu näher zitierter Zahl seien die beiden Beschuldigten (S J und die Mitbeteiligte) vom Vorwurf des Eingehens einer Aufenthaltsehe freigesprochen worden. Als Grund des Freispruchs sei im Protokoll "kein Schuldbeweis" vermerkt worden.
In seinen rechtlichen Erwägungen hielt das Verwaltungsgericht Folgendes fest:
"Der Freispruch der Beschwerdeführerin (Mitbeteiligten) und ihres Ehegatten (S J) von dem ihnen zur Last gelegten Tatvorwurf des § 117 Abs. 1 FPG erfolgte nach Durchführung eines strafgerichtlichen Ermittlungsverfahrens aufgrund fehlenden Schuldbeweises.
Bei diesem Sachverhalt war nicht davon auszugehen, dass es sich bei der Ehe der Beschwerdeführerin mit Herrn (S J) um eine Aufenthaltsehe handelt.
Der Beschwerde war daher Folge zu geben und der angefochtene Bescheid spruchgemäß zu beheben."
4 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Amtsrevision.
5 Die Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung, in der sie die Zurückweisung bzw. Abweisung der Revision beantragt.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
6 Der Revisionswerber bringt zur Zulässigkeit der Revision vor, das Verwaltungsgericht sei von näher zitierter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, der zufolge es im Fall einer freisprechenden Entscheidung keine Bindungswirkung gebe. Während § 117 FPG in Bezug auf den unmittelbaren Täter (hier S J) darauf abstelle, dass dieser wisse oder wissen müsse, dass sich der Fremde für die Erteilung eines Aufenthaltstitels auf diese Ehe berufen wolle, komme es im Verfahren betreffend die Erteilung des Aufenthaltstitels auf dieses Wissen oder Wissenmüssen nicht an. Es sei allein maßgeblich, ob der Fremde (hier die Mitbeteiligte) die Ehe in missbräuchlicher Absicht geschlossen habe. Somit seien die Verfahrensgegenstände unterschiedlich. Der Umstand, dass es zu keiner Verurteilung nach § 117 FPG gekommen sei, stehe der Feststellung einer Aufenthaltsehe durch die Niederlassungsbehörde nicht entgegen. Das Verwaltungsgericht hätte daher nicht ohne eigenständige Prüfung vom Nichtvorliegen einer Aufenthaltsehe ausgehen dürfen, sondern es hätte eigene Feststellungen dazu treffen müssen.
7 Die Revision ist im Hinblick auf dieses Vorbringen zulässig. 8 Die maßgeblichen Vorschriften des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005 in der Fassung BGBl. I Nr. 145/2017, lauten auszugsweise:
"Allgemeine Voraussetzungen für einen Aufenthaltstitel
§ 11. (1) Aufenthaltstitel dürfen einem Fremden nicht erteilt werden, wenn
...
4. eine Aufenthaltsehe, Aufenthaltspartnerschaft oder
Aufenthaltsadoption (§ 30 Abs. 1 oder 2) vorliegt;
...
Aufenthaltsehe, Aufenthaltspartnerschaft und Aufenthaltsadoption
§ 30. (1) Ehegatten oder eingetragene Partner, die ein gemeinsames Familienleben im Sinne des Art. 8 EMRK nicht führen, dürfen sich für die Erteilung und Beibehaltung von Aufenthaltstiteln nicht auf die Ehe oder eingetragene Partnerschaft berufen.
..."
9 § 117 des Fremdenpolizeigesetzes 2005 (FPG), BGBl. I Nr. 100/2005 in der Fassung BGBl. I Nr. 145/2017, lautet auszugsweise:
"Eingehen und Vermittlung von Aufenthaltsehen und Aufenthaltspartnerschaften
§ 117. (1) Ein Österreicher oder ein zur Niederlassung im Bundesgebiet berechtigter Fremder, der eine Ehe oder eingetragene Partnerschaft mit einem Fremden eingeht, ohne ein gemeinsames Familienleben im Sinn des Art. 8 EMRK führen zu wollen und weiß oder wissen musste, dass sich der Fremde für die Erteilung oder Beibehaltung eines Aufenthaltstitels, für den Erwerb oder die Aufrechterhaltung eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts, für den Erwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft oder zur Hintanhaltung aufenthaltsbeendender Maßnahmen auf diese Ehe oder eingetragene Partnerschaft berufen will, ist, wenn die Tat nicht nach einer anderen Bestimmung mit strengerer Strafe bedroht ist, vom Gericht mit Geldstrafe bis zu 360 Tagessätzen zu bestrafen.
...
(4) Der Fremde, der sich im Sinne dieser Bestimmung auf die Ehe oder eingetragene Partnerschaft berufen will, ist als Beteiligter zu bestrafen.
..."
10 Das Verwaltungsgericht stützte sich bei seiner Annahme, es handle sich bei der Ehe der Mitbeteiligten mit S J nicht um eine Aufenthaltsehe (im Sinn des § 30 Abs. 1 NAG) einzig auf die freisprechende Entscheidung des Bezirksgerichtes Innere Stadt Wien im Strafverfahren nach § 117 FPG. Eigene Feststellungen bzw. beweiswürdigende Ausführungen dazu finden sich im angefochtenen Erkenntnis nicht. Das Verwaltungsgericht ist somit erkennbar davon ausgegangen, dass die freisprechende Entscheidung in einem Verfahren nach § 117 FPG gegen die Mitbeteiligte und ihren Ehegatten für sich allein hinreichend sei, um die Annahme des Nichtvorliegens einer Aufenthaltsehe zu tragen. Diese Rechtsansicht besteht aus folgenden Gründen nicht zu Recht.
11 Der auf den unmittelbaren Täter Bezug nehmende Straftatbestand des § 117 Abs. 1 FPG stellt darauf ab, dass dieser "weiß oder wissen musste", dass sich der Fremde (etwa) für die Erteilung eines Aufenthaltstitels auf diese Ehe berufen will. Auf dieses Wissen oder Wissenmüssen des (hier:) österreichischen Ehepartners kommt es aber für das Vorliegen einer Aufenthaltsehe nach § 30 Abs. 1 NAG nicht an (vgl. im Zusammenhang mit einem Aufenthaltsverbot nach § 67 FPG , Rn. 12). Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits festgehalten, dass es nicht auf die Beweggründe des österreichischen Ehepartners, sondern allein auf die Absicht des Fremden ankommt (vgl. ; , 2006/21/0391; jeweils mwN). Der Revisionswerber weist somit zutreffend darauf hin, dass die jeweiligen Verfahrensgegenstände nicht deckungsgleich sind.
12 Die Annahme des Vorliegens einer Aufenthaltsehe im Sinn des § 30 Abs. 1 NAG setzt auch nicht voraus, dass der Ehepartner gemäß § 117 FPG bestraft oder eine Anzeige gemäß § 117 FPG erstattet worden ist (vgl. - wenn auch im Zusammenhang mit einem fremdenpolizeilichen Verfahren - wiederum das bereits zitierte Erkenntnis Ra 2016/21/0349, Rn. 12, mwN). Es steht einer derartigen Annahme auch nicht entgegen, dass ein Strafverfahren nach § 117 FPG nicht mit einer Verurteilung endete (vgl. im Zusammenhang mit der Berücksichtigung einer Einstellung eines Verfahrens nach § 117 FPG im Rahmen der Beweiswürdigung erneut das Erkenntnis Ra 2016/21/0349, Rn. 12, mit Verweis auf ).
13 Der Verwaltungsgerichtshof hat (wenn auch im Zusammenhang mit Strafverfahren nach anderen Bestimmungen) in allgemeiner Form festgehalten, dass die Bindungswirkung verurteilender strafgerichtlicher Entscheidungen im Fall einer freisprechenden Entscheidung nicht zum Tragen kommt (vgl. ; , 2004/10/0178). Diesfalls hat die zuständige Behörde (vorliegend somit die Niederlassungsbehörde) eine eigenständige Beurteilung vorzunehmen, was ein mängelfreies Ermittlungsverfahren und eine vollständige Beweiserhebung voraussetzt (vgl. , Rn. 16).
14 Die Mitbeteiligte bringt in ihrer Revisionsbeantwortung vor, aus dem "Protokoll samt gekürzter Urteilsausfertigung" des Bezirksgerichtes Innere Stadt Wien gehe hervor, dass ein gemeinsames Familienleben nach Art. 8 EMRK zwischen der Mitbeteiligten und S J bereits vor der Eheschließung vorgelegen habe und immer noch vorliege. Der Verwaltungsgerichtshof hat zwar festgehalten, dass es im Zusammenhang mit der Frage des Bestehens einer Aufenthaltsehe zulässig ist, Ermittlungen anderer Behörden zu verwerten (siehe , Rn. 17, mwN). Die Vorgehensweise des Verwaltungsgerichtes im vorliegenden Fall lässt sich aber nicht als ein derartiges Verwerten deuten, weil es das Verwaltungsgericht - ausgehend von seiner unzutreffenden Rechtsansicht - unterlassen hat, Ermittlungen durchzuführen und eine Beweiswürdigung vorzunehmen (vgl. im Zusammenhang mit einem Verweis auf ein nicht rechtskräftiges Aufenthaltsverbot ).
15 Indem das Verwaltungsgericht das Nicht-Vorliegen einer Aufenthaltsehe allein mit der freisprechenden Entscheidung im Strafverfahren nach § 117 FPG begründet und es unterlassen hat, Feststellungen zur Frage des Bestehens einer Aufenthaltsehe zu treffen bzw. eine Beweiswürdigung vorzunehmen, belastete es das angefochtene Erkenntnis mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit. Das Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben. Wien, am
Zusatzinformationen
Tabelle in neuem Fenster öffnen
ECLI: | ECLI:AT:VWGH:2018:RA2018220033.L00 |
Schlagworte: | Grundsatz der Unbeschränktheit Besondere Rechtsgebiete Verhältnis Gericht - Verwaltungsbehörde Beweiswürdigung Wertung der Beweismittel Sachverhalt Sachverhaltsfeststellung Freie Beweiswürdigung Individuelle Normen und Parteienrechte Bindung der Verwaltungsbehörden an gerichtliche Entscheidungen VwRallg9/4 |
Dieses Dokument entstammt dem Rechtsinformationssystem des Bundes.