VwGH vom 16.05.2019, Ra 2018/21/0173
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des I A, vertreten durch Mag. Clemens Lahner, Rechtsanwalt in 1070 Wien, Burggasse 116, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom , W112 2183095-1/17E, betreffend Abschiebung (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger von Marokko, wurde am im Zuge eines sogenannten "Dublin-Verfahrens" nach Italien abgeschoben. Dagegen erhob er fristgerecht eine Maßnahmenbeschwerde, weil die Überstellung trotz des mit eingetretenen Ablaufs der hierfür gemäß Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO zur Verfügung stehenden sechsmonatigen Frist vorgenommen worden sei.
2 Diese Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis vom als unbegründet ab. In der Begründung ging das BVwG im Ergebnis von folgendem Sachverhalt aus:
3 Der Revisionswerber reiste im Oktober 2016 von Libyen kommend nach Italien ein, wo er am erkennungsdienstlich behandelt wurde. In der Folge begab er sich nach Österreich und stellte am einen Antrag auf internationalen Schutz. Hierauf wurde ein Konsultationsverfahren nach der Dublin III-VO geführt und am ein auf Art. 13 Abs. 1 der genannten Verordnung gestütztes Aufnahmegesuch an die italienischen Behörden gerichtet. Dieses Ersuchen blieb unbeantwortet. Infolgedessen wurde den italienischen Behörden am mitgeteilt, dass damit gemäß Art. 22 Abs. 7 der Dublin III-VO der Aufnahme des Revisionswerbers zugestimmt worden sei und die Überstellungsfrist am begonnen habe. 4 In der Folge wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den vom Revisionswerber gestellten Antrag auf internationalen Schutz mit Bescheid vom gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 zurück. Unter einem stellte es fest, dass gemäß Art. 13 Abs. 1 iVm Art. 22 Abs. 7 der Dublin III-VO Italien zur Antragsprüfung zuständig sei, ordnete gemäß § 61 Abs. 1 Z 1 FPG die Außerlandesbringung des Revisionswerbers (nach Italien) an und sprach aus, dass die Abschiebung des Revisionswerbers dorthin gemäß § 61 Abs. 2 FPG zulässig sei.
5 Gegen diesen Bescheid erhob der Revisionswerber eine Beschwerde, die dem Bundesverwaltungsgericht am vorgelegt wurde. Diese Beschwerde zog der Revisionswerber mit Schriftsatz seines Rechtsvertreters vom wieder zurück, was die mit Beschluss des BVwG vom ausgesprochene Einstellung des Beschwerdeverfahrens nach sich zog. 6 Die bereits für den organisierte Überstellung des Revisionswerbers nach Italien war gescheitert, weil er damals in der psychiatrischen Abteilung eines Krankenhauses in Wien untergebracht war, wobei die Unterbringung nach dem UbG vom Bezirksgericht Fünfhaus zunächst mit Beschluss vom für vorläufig zulässig und dann mit Beschluss vom für den Zeitraum bis für zulässig erklärt worden war. Hierauf wurde den italienischen Behörden am mitgeteilt, dass sich die Überstellungsfrist wegen der Anhaltung des Revisionswerbers gemäß Art. 29 Abs. 2 der Dublin III-VO auf zwölf Monate verlängert habe. 7 Die gerichtlich angeordnete Unterbringung des Revisionswerbers wurde am vorzeitig beendet; er wurde zwei Tage später aus der Spitalspflege entlassen. Hierauf erfolgte die Überstellung des Revisionswerbers nach Italien am auf dem Luftweg, die in Begleitung einer Polizeieskorte und einer Ärztin ohne besondere Vorkommnisse durchgeführt wurde.
8 In der rechtlichen Beurteilung ging das BVwG vor dem Hintergrund des § 16 Abs. 2 Z 3 iVm Abs. 4 BFA-VG davon aus, die mit Bescheid des BFA vom verfügte Anordnung zur Außerlandesbringung des Revisionswerbers sei ab durchsetzbar und auch durchführbar gewesen. Die Anordnung zur Außerlandesbringung sei bis zur Abschiebung des Revisionswerbers nicht außer Kraft getreten, was gemäß § 61 Abs. 4 FPG nur dann der Fall gewesen wäre, wenn das Asylverfahren iSd § 28 AsylG 2005 zugelassen worden wäre. Zu einer solchen Zulassung sei es im Verfahren des Revisionswerbers jedoch infolge seiner Beschwerdezurückziehung, womit die Anordnung zur Außerlandesbringung "unwiderruflich in Rechtskraft erwuchs", nicht gekommen. Der Ablauf der Überstellungsfrist und der damit verbundene Zuständigkeitsübergang "bedarf der ausdrücklichen Aufhebung des verfahrensbeendenden Bescheides". "Als dessen Folge" wäre das Asylverfahren des Fremden zugelassen und er wäre zum Aufenthalt in Österreich berechtigt gewesen. Eine derartige Aufhebung sei im Verfahren des Revisionswerbers nicht erfolgt. Der Revisionswerber habe weder einen Antrag auf Verfahrenszulassung in Österreich, noch einen Asylfolgeantrag gestellt. Vielmehr habe er "das betreffend die Geltendmachung des von ihm relevierten Ablaufs der Überstellungsfrist und damit des Zuständigkeitsübergangs auf Österreich zielführende Rechtsmittel der Beschwerde an das BVwG" am zurückgezogen. Er habe sohin während seines Aufenthalts in Österreich den von ihm nunmehr ins Treffen geführten Ablauf der Überstellungsfrist nicht geltend gemacht. Die Anordnung der Außerlandesbringung sei sohin vor der Abschiebung am nicht außer Kraft getreten. Das BFA sei daher zutreffend davon ausgegangen, dass der Revisionswerber seiner Ausreiseverpflichtung nicht zeitgerecht nachgekommen (§ 46 Abs. 1 Z 2 FPG) und zu befürchten sei, er würde seiner Ausreiseverpflichtung nicht nachkommen (§ 46 Abs. 1 Z 3 FPG). Die Voraussetzungen für die Abschiebung des Revisionswerbers seien somit vorgelegen.
9 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung eines Vorverfahrens - Revisionsbeantwortungen wurden nicht erstattet - erwogen hat:
10 Die Revision ist - wie sich aus den weiteren Ausführungen ergibt - entgegen dem vom BVwG getroffenen Ausspruch nach § 25a Abs. 1 VwGG über die Unzulässigkeit einer Revision, der den Verwaltungsgerichtshof jedoch gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindet, im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig; sie ist auch berechtigt.
11 Nach Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 der Dublin III-VO erfolgt die Überstellung der betreffenden Person, sobald dies praktisch möglich ist und spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese aufschiebende Wirkung hat.
12 Mit dem Einlangen des mit datierten Aufnahmegesuchs wurde die zweimonatige Frist für die Antwort des ersuchten Mitgliedstaates gemäß Art. 22 Abs. 1 Dublin III-VO ausgelöst. Da die zuständigen italienischen Behörden nicht innerhalb dieser Frist auf das Aufnahmegesuch antworteten, wurde die Republik Italien mit Fristablauf infolge der Zustimmungsfiktion des Art. 22 Abs. 7 Dublin III-VO (stillschweigende Annahme) zuständig. Dieser Zeitpunkt wiederum erweist sich, weil eine aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs zu keiner Zeit vorlag, als fristauslösend für den Lauf der sechsmonatigen Überstellungsfrist gemäß Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 der Dublin III-VO. Das war unbestritten am der Fall, sodass die genannte Überstellungsfrist mit Ablauf des endete.
13 Nach Art. 29 Abs. 2 erster Satz Dublin III-VO ist der zuständige Mitgliedstaat, wenn die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten durchgeführt wird, nicht mehr zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person verpflichtet und die Zuständigkeit geht auf den ersuchenden Mitgliedstaat über. Im Urteil EuGH (Große Kammer) , Shiri, C-201/16, hielt der Gerichtshof der Europäischen Union dazu fest, schon aus dem Wortlaut dieser Bestimmung ergebe sich, dass sie "von Rechts wegen" einen Übergang der Zuständigkeit auf den ersuchenden Mitgliedstaat vorsehe, ohne dies von irgendeiner Reaktion des zuständigen Mitgliedstaats abhängig zu machen (Rn. 30). Werde der Antragsteller nicht vor Ablauf der Überstellungsfrist vom ersuchenden Mitgliedstaat in den zuständigen Mitgliedstaat überstellt, gehe die Zuständigkeit "von Rechts wegen" auf den ersuchenden Mitgliedstaat über (Rn. 39), wobei die Überstellungsfrist auch nach Erlassung der Überstellungsentscheidung ablaufen könne (Rn. 42). In einer solchen Situation dürften die zuständigen Behörden des ersuchenden Mitgliedstaats den Betroffenen nicht in einen anderen Mitgliedstaat überstellen, sondern seien verpflichtet, von Amts wegen die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um die Zuständigkeit des erstgenannten Mitgliedstaats anzuerkennen und unverzüglich mit der Prüfung des von dieser Person gestellten Antrags auf internationalen Schutz zu beginnen (Rn. 43). 14 In diesem Sinn hatte der Verwaltungsgerichtshof schon zur im Wesentlichen inhaltsgleichen Bestimmung des Art. 19 Abs. 4 der Dublin II-VO die Auffassung vertreten, werde die Überstellungsfrist versäumt, so dürfe der Betroffene nicht mehr in den ersuchten Mitgliedstaat überstellt werden. Die Republik Österreich sei zur Prüfung seines hier gestellten Asylantrages zuständig geworden; die in Art. 3 Abs. 1 Dublin II-VO zum Ausdruck gebrachte unionsrechtliche Verpflichtung, den Antrag zu prüfen, sei auf Österreich übergegangen, das nunmehr die Prüfung des Asylantrags abzuschließen gehabt hätte. Dem dargestellten Zuständigkeitsübergang bzw. der entstandenen Prüfpflicht sei dadurch Rechnung zu tragen, dass die ursprüngliche (nicht fristgerecht umgesetzte) Zurückweisung des Antrags auf internationalen Schutz nach § 5 AsylG 2005 von den Asylbehörden wieder aufzuheben sei. Diese Aufhebung sei unverzüglich nach fruchtlosem Ablauf der jeweiligen Überstellungsfrist, auch von Amts wegen, vorzunehmen (, mit dem Hinweis auf die grundlegenden Ausführungen in Punkt 3. und 4., insbesondere Punkt 4.2., der Entscheidungsgründe des Erkenntnisses ; siehe in diesem Sinn zur Dublin III-VO unter Bezugnahme auf das schon genannte EuGH-Urteil "Shiri" etwa auch , Rn. 26 iVm Rn. 23). 15 Es bedarf keiner weiteren Begründung, dass die oben in Rn. 8 wiedergegebenen Überlegungen des BVwG, die im Wesentlichen nur auf das Vorliegen der Voraussetzungen nach § 46 Abs. 1 FPG, insbesondere auf die Durchführbarkeit und auf die Rechtskraft der Anordnung zur Außerlandesbringung vom und auf das Fehlen ihrer förmlichen Aufhebung, abstellen, der dargestellten Rechtslage nicht Rechnung tragen. Infolge dieser - sowohl der Rechtsprechung des EuGH als auch des Verwaltungsgerichtshofes widersprechenden - untauglichen Begründung war das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG jedenfalls aufzuheben. Im fortgesetzten Verfahren wird sich das BVwG somit mit der im angefochtenen Erkenntnis nicht behandelten (vorgelagerten) Frage auseinanderzusetzen haben, ob es - wie vom BFA ins Treffen geführt wurde - im Hinblick auf die gerichtlich angeordnete Unterbringung des Revisionswerbers zu einer Verlängerung der Überstellungsfrist im Sinne des Art. 29 Abs. 2 zweiter Satz Dublin III-VO gekommen ist.
16 Der Kostenzuspruch gründet sich auf die § 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014. 17 Von der in der Revision beantragten Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4, 5 und 6 VwGG abgesehen werden.
Wien, am
Zusatzinformationen
Tabelle in neuem Fenster öffnen
ECLI: | ECLI:AT:VWGH:2019:RA2018210173.L00 |
Dieses Dokument entstammt dem Rechtsinformationssystem des Bundes.