VwGH vom 22.08.2019, Ra 2018/21/0134
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer, die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision 1. des A S M, und 2. der S S, beide in W und beide vertreten durch Mag. Eva Velibeyoglu, Rechtsanwältin in 1100 Wien, Columbusgasse 65/22, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom , L519 1400366-3/13E und L519 2134548-2/8E, betreffend Nichterteilung von Aufenthaltstiteln gemäß § 57 AsylG 2005 sowie Erlassung von Rückkehrentscheidungen und befristeten Einreiseverboten samt Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl),
Spruch
1. den Beschluss gefasst:
Die Revision der Zweitrevisionswerberin wird zur Gänze zurückgewiesen. Die Revision des Erstrevisionswerbers wird insoweit zurückgewiesen, als sie sich gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels nach § 57 AsylG 2005 richtet.
2. zu Recht erkannt:
Im Übrigen, betreffend Rückkehrentscheidung und Einreiseverbot gegen den Erstrevisionswerber sowie betreffend die Feststellung der Zulässigkeit seiner Abschiebung, wird das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Erstrevisionswerber Aufwendungen in der Höhe von 1.106,40 EUR binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.
Begründung
1 Die Revisionswerber sind pakistanische Staatsangehörige.
2 Der 1977 geborene Erstrevisionswerber reiste spätestens im Mai 2005 nach Österreich ein und stellte hier einen Asylantrag. Das Bundesasylamt wies diesen Antrag mit Bescheid vom ab, erklärte (insbesondere) die Abschiebung des Revisionswerbers nach Pakistan für zulässig und wies ihn aus Österreich nach Pakistan aus. Die dagegen erhobene Berufung, die dann als Beschwerde zu behandeln war, wurde mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom abgewiesen.
3 Der Erstrevisionswerber verblieb in Österreich und stellte am einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels "Niederlassungsbewilligung" nach dem (damaligen) § 43 Abs. 3 NAG. Dieser Antrag wurde letztlich mit Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes Wien vom abgewiesen, und zwar im Ergebnis deshalb, weil die Erteilung des beantragten Aufenthaltstitels zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens des Erstrevisionswerbers nicht im Sinne des Art. 8 EMRK geboten sei. Die gegen dieses Erkenntnis erhobene außerordentliche Revision wurde mit , mangels Darlegung einer grundsätzlichen Rechtsfrage im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG, zurückgewiesen. 4 Mittlerweile hatte der Erstrevisionswerber die zunächst noch in Pakistan lebende Zweitrevisionswerberin (nach den von beiden erstatteten Angaben: am per Telefon) geheiratet. Die Zweitrevisionswerberin war dann - ihrer Darstellung zufolge - im August 2012 zu ihrem Onkel nach Italien gereist, wo sie sich in der Folge auf Basis eines Aufenthaltstitels bis Februar 2015 aufhielt. Schon ab 2013 war sie aber immer wieder, zum Teil auch längerfristig, beim Erstrevisionswerber zu Besuch in Österreich; sie wurde schwanger und brachte am in Wien eine gemeinsame Tochter zur Welt.
5 Seit Februar 2015 befinden sich die Zweitrevisionswerberin und die Tochter der Revisionswerber durchgehend beim Erstrevisionswerber in Österreich. Sie stellten Anträge auf internationalen Schutz, die vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vollinhaltlich abgewiesen wurden; außerdem wurden Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt und Rückkehrentscheidungen samt Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung nach Pakistan und Festsetzung einer Frist für die freiwillige Ausreise erlassen. Die gegen die Bescheide des BFA erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit am mündlich verkündetem und am schriftlich ausgefertigtem Erkenntnis als unbegründet ab. 6 Bei einer nachfolgenden Einvernahme durch das BFA am erklärten beide Revisionswerber, nicht dazu bereit zu sein, "ein Formerfordernis zur Erlangung eines Reisedokuments" auszufüllen. Mit Bescheiden vom erließ das BFA hierauf gegen beide Revisionswerber - vorweg aussprechend, dass Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt werden - jeweils gemäß § 10 Abs. 2 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 1 Z 1 FPG sowie gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 Z 6 FPG ein fünfjähriges Einreiseverbot. Außerdem stellte das BFA jeweils fest, dass eine Abschiebung nach Pakistan zulässig sei und aberkannte einer Beschwerde gegen die Rückkehrentscheidungen die aufschiebende Wirkung.
7 Den dagegen erhobenen Beschwerden gewährte das BVwG zunächst mit Beschlüssen vom die aufschiebende Wirkung. Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis vom wies es die Beschwerden dann allerdings gemäß § 57 und 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG sowie § 52 Abs. 2 Z 2 und Abs. 9, § 46, 55 und 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 Z 6 FPG als unbegründet ab. Außerdem erklärte es gemäß § 25a Abs. 1 VwGG Revisionen gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.
8 Über die gegen dieses Erkenntnis von beiden Revisionswerbern gemeinsam erhobene Revision hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung eines Vorverfahrens - Revisionsbeantwortungen wurden nicht erstattet - erwogen:
9 Hat das Verwaltungsgericht - so wie hier das BVwG - in seinem Erkenntnis ausgesprochen, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig ist, hat die Revision zufolge § 28 Abs. 3 VwGG auch gesondert die Gründe zu enthalten, aus denen entgegen dem Ausspruch des Verwaltungsgerichtes die Revision für zulässig erachtet wird (außerordentliche Revision). Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof dann im Rahmen dieser vorgebrachten Gründe zu überprüfen (§ 34 Abs. 1a zweiter Satz VwGG).
10 In ihren einheitlich erstatteten Zulässigkeitsausführungen bringen die Revisionswerber vor, sie hätten einen Antrag "auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung sowohl gemäß § 55 AsylG als auch gemäß § 57 AslyG" gestellt und "auf diesen Antrag" sei nicht eingegangen worden.
11 Das ist unrichtig. Über den schon mit Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes Wien vom rechtskräftig erledigten Antrag des Erstrevisionswerbers vom Mai 2012 (siehe dazu Rn. 3) hinaus wurde kein (weiterer) Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels - welcher Art auch immer - gestellt und es wurde ein derartiger Antrag - anders als die Revisionswerber ausführen - (daher) auch nie erstinstanzlich abgewiesen. Insofern gehen die erwähnten Zulässigkeitsausführungen ins Leere. 12 Im Übrigen beschränken sich diese Ausführungen darauf, auf die Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zur Relevanz eines mehr als zehnjährigen Inlandsaufenthaltes für die Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG hinzuweisen, der das angefochtene Erkenntnis widerspreche. Das kann sich aber von vornherein nur auf den Erstrevisionswerber beziehen, weil nur dieser einen zehn Jahre übersteigenden Inlandsaufenthalt aufzuweisen vermag (er befindet sich unstrittig seit Mai 2005 in Österreich), während sich die Zweitrevisionswerberin nach vorangegangenen Besuchen ab dem Jahr 2013 unstrittig erst seit Februar 2015 durchgehend im Bundesgebiet aufhält. In Bezug auf die Zweitrevisionswerberin gehen die Zulässigkeitsausführungen daher auch insoweit am Fall vorbei und vermögen somit in Bezug auf die gegen sie ergangene Entscheidung keine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG aufzuzeigen. Der Vollständigkeit halber sei in diesem Zusammenhang erwähnt, dass dann auch in der Darstellung der Revisionsgründe im Wesentlichen nur auf den Erstrevisionswerber Bezug genommen wird. Betreffend die Zweitrevisionswerberin war die Revision daher gemäß § 34 Abs. 1 und 3 VwGG - in einem gemäß § 12 Abs. 2 VwGG gebildeten Senat -zur Gänze als unzulässig zurückzuweisen. Ebenso war in Bezug auf die den Erstrevisionswerber betreffende Entscheidung nach § 57 AsylG 2005 vorzugehen, weil es auch diesbezüglich an einem tauglichen Zulässigkeitsvorbringen mangelt.
13 Hinsichtlich der gegen den Erstrevisionswerber ergangenen Rückkehrentscheidung samt Einreiseverbot und Feststellung der Zulässigkeit seiner Abschiebung nach Pakistan erweist sich die Revision aber im Grunde der angesprochenen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zur Bedeutung eines mehr als zehnjährigen Inlandsaufenthaltes für die Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG als zulässig und berechtigt.
14 Dem BVwG ist zunächst in rein formaler Hinsicht anzulasten, dass es die Abweisung der Beschwerde in Bezug auf die Rückkehrentscheidung spruchgemäß auf § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 und § 52 Abs. 2 Z 2 FPG gründete. Eine Rückkehrentscheidung nach den genannten Bestimmungen knüpft nämlich an die vollständige Abweisung eines Antrags auf internationalen Schutz an und ist mit dieser Entscheidung zu verbinden (§ 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005) bzw. "unter einem" (§ 52 Abs. 2 Z 2 FPG) zu erlassen. 15 Eine derartige Konstellation liegt hier aber nicht vor, weshalb das BFA seinerseits die Rückkehrentscheidung - dem Grunde nach zutreffend - auf § 10 Abs. 2 AsylG 2005 sowie auf § 52 Abs. 1 Z 1 FPG, wofür jeweils der unrechtmäßige Aufenthalt im Bundesgebiet maßgeblich ist, gestützt hatte.
16 Auch an anderer Stelle des angefochtenen Erkenntnisses - so unter Punkt II.3.4.2., wo es einleitend heißt, "der gegenständliche, nach nicht rechtmäßiger Einreise in Österreich gestellte Antrag auf internationalen Schutz war abzuweisen", oder in der Begründung des Ausspruchs nach § 25a Abs. 1 VwGG über die Unzulässigkeit einer Revision, wo u.a. auf den Flüchtlingsbegriff Bezug genommen wird - geht das BVwG so vor, als hätte es über einen Antrag auf internationalen Schutz entschieden. Das allein verletzt den Erstrevisionswerber aber noch nicht in Rechten, weil das angefochtene Erkenntnis in sonst noch ausreichender Weise die Sache des Beschwerdeverfahrens trifft bzw. die Beschwerde des Erstrevisionswerbers gegen den Bescheid des BFA vom behandelt (zur fehlenden Rechtsverletzung durch den Spruchfehler siehe sinngemäß , Punkt 2.4. der Entscheidungsgründe).
17 Gegen den Erstrevisionsweber war mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom eine Ausweisung ergangen. Diese galt gemäß § 75 Abs. 23 zweiter Satz AsylG 2005 als aufenthaltsbeendende Maßnahme gemäß dem ersten Abschnitt des achten Hauptstückes des FPG und damit fallbezogen als Rückkehrentscheidung nach § 52 FPG. Das BFA hielt aber - ungeachtet seither eingetretener Änderungen in den privaten und familiären Verhältnissen des Erstrevisionswerbers - die neuerliche Erlassung einer Rückkehrentscheidung, nunmehr in Verbindung mit einem Einreiseverbot, für erforderlich, und zwar im Wesentlichen deshalb, weil der Erstrevisionswerber nicht am Verfahren zur Erwirkung eines Heimreisezertifikates mitgewirkt habe und weil eine von ihm ausgeübte selbständige Erwerbstätigkeit rechtswidrig sei, sodass trotz Einkünften aus dieser Erwerbstätigkeit von Mittellosigkeit und damit von der Verwirklichung des Einreiseverbotstatbestandes nach § 53 Abs. 2 Z 6 FPG auszugehen sei.
18 Das BVwG schloss sich im angefochtenen Erkenntnis dieser Ansicht an und führte sowohl im Rahmen der gebotenen Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG als auch bezüglich der Gründe für die Erlassung eines Einreiseverbotes noch ergänzend ins Treffen, dass der Erstrevisionswerber "seine Identität nach wie vor verschleiert". Angesichts dessen habe die - vom BVwG im angefochtenen Erkenntnis als "äußerst diskussionswürdig" bezeichnete - Judikatur des Verwaltungsgerichtshofs zur Bedeutung eines mehr als zehnjährigen Inlandsaufenthaltes zurückzustehen. 19 Die angesprochene Judikaturlinie knüpft daran an, dass bei der Beurteilung der Frage, ob die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 zur Aufrechterhaltung des Privat- und/oder Familienlebens im Sinn des Art. 8 EMRK geboten ist bzw. ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte darstellt, unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles eines gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen ist. Dabei geht der Verwaltungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen ist. Nur wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, wurde eine aufenthaltsbeendende Maßnahme bzw. die Nichterteilung eines humanitären Aufenthaltstitels ausnahmsweise nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen.
20 Allerdings ist auch bei einem mehr als zehnjährigen Inlandsaufenthalt in Verbindung mit dem Vorliegen gewisser integrationsbegründender Aspekte dann nicht zwingend von einem Überwiegen des persönlichen Interesses auszugehen, wenn dem Umstände entgegenstehen, die das gegen einen Verbleib im Inland sprechende öffentliche Interesse verstärken bzw. die Länge der Aufenthaltsdauer im Inland relativieren (vgl. zum Ganzen grundlegend , Rn. 11 bis 16, und darauf verweisend neben vielen aus jüngerer Zeit etwa , Rn. 11 und 14, sowie , Rn. 12 und 17).
21 Soweit erkennbar ging auch das BVwG nicht davon aus, dass beim Erstrevisionswerber überhaupt keine Integration vorliege. Eine derartige Annahme wäre schon im Hinblick auf das Vorliegen von Deutschkenntnissen auf Basis A2 - derartige Kenntnisse hat das BVwG mit den Ausführungen, der Erstrevisionswerber sei "im Asylverfahren nicht in der Lage" gewesen, seine Anträge ohne die Beiziehung eines Dolmetschers zu begründen, letztlich nicht mit ausreichender Deutlichkeit in Frage gestellt - und im Hinblick auf die 2010 begonnene selbständige Erwerbstätigkeit des Erstrevisionswerbers auch verfehlt. Was Letzteres anlangt, so wird darauf noch im Detail zurückzukommen sein. Im gegebenen Zusammenhang genügt es zunächst festzuhalten, dass diese Erwerbstätigkeit nach den mit der Aktenlage übereinstimmenden Feststellungen des BVwG bereits während des Asylverfahrens begonnen wurde, insoweit vorerst rechtmäßig war und mithin eine erste berufliche Integration im Bundesgebiet belegt. 22 Das BVwG ging aber offenkundig davon aus, dass die schon angeführten Gründe (Nichtmitwirkung bei der Erlangung eines Heimreisezertifikates, Fortsetzung der selbständigen Erwerbstätigkeit nach Abschluss des Asylverfahrens und Verschleierung der Identität) Umstände darstellten, die das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung des Erstrevisionswerbers entscheidungswesentlich verstärkten. 23 In diesem Zusammenhang ist allerdings einleitend zunächst darauf hinzuweisen, dass sich der Erstrevisionswerber bei Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses bereits länger als 13 Jahre im Bundesgebiet befunden hat, was gegenüber einem zehn Jahre nur um wenige Monate übersteigenden Aufenthalt, wie er in dem Ra 2016/22/0011 zugrunde liegenden, den Erstrevisionswerber betreffenden Fall (siehe Rn. 3) zu beurteilen war, seine privaten Interessen an einem Verbleib in Österreich weiter erhöhte. Allein aus diesem längeren Inlandsaufenthalt hat sich demgegenüber keine ins Gewicht fallende Vergrößerung öffentlicher Interessen an einer Aufenthaltsbeendigung ergeben. Im Übrigen ist dann aber noch anzumerken, dass der Erstrevisionswerber im Oktober 2011 noch dazu bereit war, an den Formalitäten zur Erwirkung eines Heimreisezertifikates mitzuwirken. Das damals noch laufende Asylverfahren verhinderte allerdings eine erfolgreiche "Umsetzung" dieser Bereitschaft, die der Erstrevisionswerber dann seinerseits nach der Aktenlage im März 2013 erstmals widerrief. Das mag darauf zurückzuführen sein, dass die Ehefrau des Erstrevisionswerbers mittlerweile (im August 2012) zu ihrem Onkel nach Italien gezogen und schwanger geworden war. Jedenfalls ist insofern auch die lange Dauer des Asylverfahrens mitverantwortlich dafür, dass es bis dato letztlich nicht gelang, ein Heimreisezertifikat zu erwirken. 24 Das ändert nichts daran, dass sich der Erstrevisionswerber seit März 2013 - wie es im angefochtenen Erkenntnis formuliert wird - "beharrlich weigert, freiwillig das Bundesgebiet zu verlassen oder an der Ausstellung eines (Heimreisezertifikates) mitzuwirken" (siehe zuletzt, wie unter Rn. 6 erwähnt, die diesbezügliche ablehnende Äußerung aus Anlass der Einvernahme vom ). Das mag die Länge des Inlandsaufenthaltes des Erstrevisionswerbers relativieren. Dem steht allerdings gegenüber, dass sich das BFA mit der Weigerung, an der Erlangung eines Heimreisezertifikates mitzuwirken, über Jahre hindurch schlichtweg abgefunden hat.
25 Das BVwG hat dem Erstrevisionswerber auch vorgeworfen, dass er nach wie vor seine Identität verschleiere und eine Aliasidentität aufweise. Letzteres stimmt nur insofern, als der Erstrevisionswerber ursprünglich auch mit anderen Vornamen und mit einer Ergänzung seines Zunamens behördlich erfasst worden ist. Näheres dazu lässt sich den Verwaltungsakten nicht entnehmen, der Erstrevisionswerber ist aber - soweit erkennbar - schon seit 2005 ausschließlich mit der von ihm auch jetzt geführten Identität in Erscheinung getreten. Davon ausgehend wurde ihm, soweit ersichtlich, auch bislang nie vorgeworfen, seine Identität zu verschleiern, und wird diesbezüglich im Bescheid des BFA vom auch bezeichnenderweise in Bezug auf den Erstrevisionswerber festgestellt, es "dürfte ihre Identität feststehen". Das ist umso mehr indiziert, als in den Verwaltungsakten die Kopie eines auf den Erstrevisionswerber ausgestellten pakistanischen Führerscheins (Grundlage für die dann erfolgte Ausstellung eines österreichischen Führerscheins) erliegt und die pakistanische Botschaft in Wien ausdrücklich die pakistanische Staatsangehörigkeit des Erstrevisionswerbers - unter der von ihm geführten Identität - bestätigte. Der die Identität des Erstrevisionswerbers betreffende Vorwurf des BVwG hat daher keine ausreichende Grundlage.
26 Damit verbleibt von den vom BVwG gegen den Erstrevisionswerber ins Treffen geführten Umständen, die die Bedeutung seines langjährigen Inlandsaufenthaltes entscheidend minderten, jener, dass er über den rechtskräftigen Abschluss seines Asylverfahrens hinaus seine bereits 2010 begonnene selbständige Erwerbstätigkeit - Ausübung des freien Gewerbes der Güterbeförderung mit Kraftfahrzeugen oder Kraftfahrzeugen mit Anhängern, deren höchstzulässiges Gesamtgewicht insgesamt 3.500 kg nicht übersteigt - fortsetzte.
27 Dass die selbständige Tätigkeit des Erstrevisionswerbers in Form der Ausübung des umschriebenen Gewerbes während laufenden Asylverfahrens rechtmäßig war, hat auch das BVwG nicht in Frage gestellt und ergibt sich aus § 7 Abs. 2 Grundversorgungsgesetz-Bund 2005, wonach die Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit in den ersten drei Monaten nach Einbringung des Asylantrages unzulässig ist. E contrario bedeutet das nämlich, dass eine ab Beginn des vierten Monats nach Einbringung eines Asylantrags ausgeübte selbständige Erwerbstätigkeit rechtmäßig ist (in diesem Sinn auch Grabler/Stolzlechner/Wendl, GewO3 (2011), § 14 Rz 9 a.E.).
28 Mit rechtskräftigem Abschluss des Asylverfahrens - insofern ist das BVwG grundsätzlich im Recht - wurde die selbständige Erwerbstätigkeit des Erstrevisionswerbers im Grunde des § 32 NAG aus fremdenrechtlicher Sicht unrechtmäßig (; , Punkt 5.1. der Begründung), woran auch das Vorliegen einer Gewerbeberechtigung nichts zu ändern vermag. Das wurde zuletzt auch in dem das Titelverfahren des Erstrevisionswerbers betreffenden Zurückweisungsbeschluss , Punkt 6.2. der Begründung, (siehe oben Rn. 3) bestätigt. 29 Gleichwohl ist aber anzumerken, dass die Behörden auch in diesem Zusammenhang säumig geworden sind. Zu einer Entziehung der Gewerbeberechtigung nach § 88 Abs. 1 GewO 1994, die in einer solchen Situation zu erfolgen hätte (sinngemäß Grabler/Stolzlechner/Wendl, aaO., § 88 Rz 2 mit Verweis auf die Gesetzesmaterialien; der Verlust der Gewerbeberechtigung tritt nicht automatisch ein, vgl. Hanusch, Kommentar zur GewO, § 88 Rz 1), ist es nämlich bis dato nicht gekommen, eine dies unter praktischen Gesichtspunkten ermöglichende Verständigung der Gewerbebehörden durch die Fremdenbehörden (siehe dazu nochmals Grabler/Stolzlechner/Wendl, aaO., § 14 Rz 21) ist aus den Verwaltungsakten nicht ersichtlich.
30 Vor diesem Hintergrund vermochte die nach rechtskräftigem Abschluss des Asylverfahrens vom Erstrevisionswerber weiterhin in Form eines Gewerbes ausgeübte selbständige Erwerbstätigkeit zwar "keine nachhaltige Integration in den heimischen Arbeitsmarkt mehr" (nochmals , Punkt 6.2. der Begründung) zu begründen, dieser Umstand ist aber auch nicht von einem solchen Gewicht, dass er die Bedeutung des mehr als 13- jährigen Aufenthalts des Erstrevisionswerbers im Bundesgebiet maßgeblich zu relativieren vermöchte. Unter dem Aspekt des Einreiseverbotstatbestandes der Mittellosigkeit nach § 53 Abs. 2 Z 6 FPG bzw. der aus der Mittellosigkeit resultierenden Gefahr der Unterhaltsbeschaffung aus illegalen Quellen ist schließlich noch hinzuzufügen, dass es für den Fall der Feststellung der dauerhaften Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung zur Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 zu kommen hätte, der die Ausübung einer selbständigen Tätigkeit erlaubt (§ 54 Abs. 1 AsylG 2005). Von daher würde sich die Problematik der Mittellosigkeit bzw. die daraus ableitbare Gefährdung nicht mehr länger realisieren.
31 Nach dem Gesagten ergeben sich zusammenfassend keine ausreichend (gesicherten) Grundlagen dafür, die Bedeutung des mehr als 13-jährigen Inlandsaufenthaltes des Erstrevisionswerbers in Frage zu stellen. Im Sinn der schon erwähnten Judikaturlinie des Verwaltungsgerichtshofes (siehe Rn. 19) ist damit auch im vorliegenden Fall von einem Überwiegen der persönlichen Interessen des Erstrevisionswerbers an einem Verbleib in Österreich auszugehen, sodass die gebotene Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG zu seinen Gunsten auszufallen gehabt hätte. Das hat das BVwG verkannt, weshalb das angefochtene Erkenntnis, soweit es den Erstrevisionswerber betrifft - ausgenommen die Versagung eines Aufenthaltstitels nach § 57 AsylG 2005 - gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben war. 32 Von der Durchführung der beantragten Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 1 bzw. Z 5 VwGG abgesehen werden.
33 Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die § 47 ff, insbesondere auch auf die § 50 und 52 Abs. 1 VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014. Das über den in dieser Verordnung vorgesehenen Ersatz für Schriftsatzaufwand hinausgehende Mehrbegehren war abzuweisen.
Wien, am
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ECLI: | ECLI:AT:VWGH:2019:RA2018210134.L00 |
Schlagworte: | Besondere Rechtsgebiete |
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