VwGH vom 15.12.2011, 2010/18/0248
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pallitsch, den Hofrat Mag. Eder, die Hofrätinnen Mag. Merl und Mag. Dr. Maurer-Kober sowie den Hofrat Mag. Straßegger als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Krawarik, über die Beschwerde von 1. S A, 2. N A, 3. mj. X X, geboren am , und 4. mj. Y Y, geboren am , alle in W, alle vertreten durch die Reiffenstuhl Reiffenstuhl Rechtsanwaltspartnerschaft OG in 1010 Wien, Franz-Josefs-Kai 41/9, gegen den Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien vom ,
1. Zl. E1/128.565/2010, 2. Zl. E1/128.576/2010, 3. Zl. E1/128.568/20 10 und 4. Zl. E1/128.580/2010, jeweils betreffend Ausweisung gemäß § 53 Abs. 1 FPG, zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat den beschwerdeführenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von EUR 2.386,68 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.
Begründung
I.
Mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid wies die belangte Behörde die beschwerdeführenden Parteien, der Erstbeschwerdeführer ist serbischer Staatsangehöriger, die zweit-, dritt- und viertbeschwerdeführenden Parteien sind mazedonische Staatsangehörige, gemäß § 53 Abs. 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 - FPG aus dem Bundesgebiet aus.
Begründend führte sie im Wesentlichen aus, die erst- und zweitbeschwerdeführenden Parteien seien die Eltern der Dritt- und Viertbeschwerdeführer. Der Erstbeschwerdeführer sei (gemeinsam mit der Zweitbeschwerdeführerin) im Jahr 1991 nach Deutschland geflüchtet, wo der Dritt- und Viertbeschwerdeführer geboren worden seien. 1998 sei der Erstbeschwerdeführer nach Mazedonien abgeschoben worden, wo er sich in der Folge aufgehalten habe.
Eigenen Angaben der beschwerdeführenden Parteien zufolge seien sie am unter Umgehung der Grenzkontrolle in das Bundesgebiet gelangt und hätten Asylanträge - beide Kinder hätten von ihrer Mutter abgeleitete Asylerstreckungsanträge - gestellt, die in der Folge mit Erkenntnissen des Asylgerichtshofes vom unter gleichzeitiger Feststellung, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Erstbeschwerdeführers nach Serbien bzw. der übrigen beschwerdeführenden Parteien nach Mazedonien zulässig sei, rechtskräftig abgewiesen worden seien. Gegen den Erstbeschwerdeführer sei im Übrigen von der Bundesrepublik Deutschland ein Einreise- und Aufenthaltsverbot "im Schengengebiet" mit einer Gültigkeit bis erlassen worden.
Seit rechtskräftig negativer Beendigung der Asylverfahren halte sich die gesamte Familie unrechtmäßig im Bundesgebiet auf. Am hätten die beschwerdeführenden Parteien Anträge auf Erteilung von Niederlassungsbewilligungen aus humanitären Gründen gestellt; über diese sei noch nicht entschieden worden.
Die Kinder besuchten die Volks- bzw. kooperative Mittelschule, für die Eltern lägen für den Fall der Erteilung eines Aufenthaltstitels jeweils Arbeitszusagen vor. Derzeit seien alle beschwerdeführenden Parteien noch sozialversichert. Der Erstbeschwerdeführer sei wiederholt, aber nicht durchgehend zwischen Juli 2002 und Juli 2009, die Zweitbeschwerdeführerin zwischen August 2003 und dem Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides teilweise geringfügig beschäftigt gewesen. Eine Beschäftigungsbewilligung sei lediglich für den Erstbeschwerdeführer für den Zeitraum zwischen Juni und Dezember 2007 vorgelegen. Prüfungszeugnisse für die behaupteten guten Sprachkenntnisse der erst- und zweitbeschwerdeführenden Parteien seien nicht vorgelegt worden. Familiäre Bindungen bestünden zu den leiblichen Eltern des Erstbeschwerdeführers in Serbien, die Zweitbeschwerdeführerin habe keinerlei Bindungen mehr zu ihrem Heimatland. In Österreich bestünden familiäre Bindungen zu einem Cousin sowie einem Cousin des Vaters des Erstbeschwerdeführers. Sechs verschiedene Familien bzw. Personen hätten den beschwerdeführenden Parteien bestätigt, sozial gut integriert zu sein.
In rechtlicher Hinsicht führte die belangte Behörde aus, die beschwerdeführenden Parteien wären ihrer Ausreiseverpflichtung "bis dato geradezu beharrlich nicht nachgekommen", wodurch sie gegen die die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Vorschriften und deren Befolgung durch den Normadressaten, denen aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung ein besonders hoher Stellenwert zukomme, verstoßen hätten. Die Zweitbeschwerdeführerin sei zu keiner Zeit einer legalen Beschäftigung nachgegangen und gehe auch derzeit einer "Schwarzarbeit" nach. Auch der Erstbeschwerdeführer hätte nur für die Dauer eines halben Jahres eine Erwerbstätigkeit ausüben dürfen, alle anderen Erwerbstätigkeiten seien aus fremdenrechtlicher Sicht ebenso als "Schwarzarbeit" zu werten.
Die von den beschwerdeführenden Parteien angeführten persönlichen Bindungen - etwa auch die schulische Integration der beiden Kinder in Österreich - stellten keine besonderen Umstände im Sinn des Art. 8 EMRK dar, die es ihnen unzumutbar machen würden, für die Dauer eines ordnungsgemäß geführten Verfahrens zur Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Österreich auszureisen. Die Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien habe im Übrigen eine negative Stellungnahme hinsichtlich der Erteilung humanitärer Aufenthaltstitel für die beschwerdeführenden Parteien abgegeben.
Die gesamte Familie habe - wenngleich den beiden Kindern auf Grund ihres jugendlichen Alters dies nur gemindert vorwerfbar sei -
gegen fremdenrechtliche und die Eltern zudem auch qualifiziert gegen arbeitsmarktrechtliche Bestimmungen verstoßen und ihre Missachtung maßgeblicher, für sie bedeutender Normen klar und deutlich zu erkennen gegeben. Die aus der Dauer ihres inländischen Aufenthaltes ableitbare Integration sei in ihrem Gewicht dadurch entscheidend gemindert, dass ihr Aufenthalt im Bundesgebiet nur auf Grund asylrechtlicher Bestimmungen vorläufig berechtigt und nach rechtskräftiger Abweisung der Asylanträge unrechtmäßig gewesen sei. Die gesamte Familie hätte sich bereits bei ihrer illegalen Einreise ihres unsicheren aufenthaltsrechtlichen Status bewusst sein müssen. Der Schulbesuch des Dritt- und Viertbeschwerdeführers erfolge in Ausübung einer gesetzlichen (Schul)Pflicht, was nicht als besonders begünstigend gewertet werden könne. Auch aus den für die Eltern vorliegenden "Arbeitszusagen" könne keine entscheidungsrelevante berufliche Integration abgeleitet werden, weil die (bisher) ausgeübten Erwerbstätigkeiten fast zur Gänze als "Schwarzarbeit" zu werten seien. Die erst- und zweitbeschwerdeführenden Parteien könnten auch in Serbien erwerbstätig sein. Dass der Kontakt zu den leiblichen Eltern des Erstbeschwerdeführers abgebrochen worden sei, dort keine Wohnmöglichkeiten bestünden bzw. die im Inland aufhältigen Verwandten die beschwerdeführenden Parteien im Ausland nicht besuchen könnten, sei nicht vorgebracht worden. Auch die gerichtliche bzw. verwaltungsstrafgerichtliche Unbescholtenheit sowie der offenbar gezeigte Integrationswille stünden den gegenständlichen Ausweisungen nicht entgegen.
Mangels sonstiger, besonders zu Gunsten der beschwerdeführenden Parteien sprechender Umstände habe die belangte Behörde keine Veranlassung gesehen, von der Erlassung der Ausweisungen im Rahmen des ihr zustehenden Ermessens Abstand zu nehmen.
II.
Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diesen Bescheid gerichtete Beschwerde nach Vorlage der Verwaltungsakten und Erstattung einer Gegenschrift durch die belangte Behörde erwogen:
Die beschwerdeführenden Parteien verfügen unstrittig über keine Berechtigung zum Aufenthalt in Österreich und halten sich sohin hier unrechtmäßig auf. Der Ausweisungstatbestand des § 53 Abs. 1 FPG ist daher erfüllt.
Würde durch eine Ausweisung in das Privat- oder Familienleben eines Fremden eingegriffen, so ist sie gemäß § 66 Abs. 1 FPG nur dann zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist. Bei Beurteilung dieser Frage ist eine gewichtende Gegenüberstellung der öffentlichen Interessen an einer Aufenthaltsbeendigung mit dem persönlichen Interesse des Fremden an einem weiteren Verbleib in Österreich vorzunehmen. Dieses Interesse nimmt grundsätzlich mit der Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden zu. Die bloße Aufenthaltsdauer ist freilich nicht allein maßgeblich, sondern es ist anhand der jeweiligen Umstände des Einzelfalls vor allem zu prüfen, inwieweit der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit dazu genützt hat, sich sozial und beruflich zu integrieren. Bei der Einschätzung der besagten persönlichen Interessen ist aber auch auf die Auswirkungen, die eine Ausweisung auf die familiären oder sonstigen Bindungen des Fremden hätte, Bedacht zu nehmen.
Im Hinblick auf § 66 FPG bzw. das von der belangten Behörde gemäß § 53 Abs. 1 FPG auszuübende Ermessen verweist die Beschwerde u. a. darauf, dass die Dritt- und Viertbeschwerdeführer "mehr oder weniger" in Österreich aufgewachsen seien, hier quasi ihre Kindheit verbracht hätten und zur Schule gingen. Ihre eigene Muttersprache hätten sie mittlerweile verlernt. Die gesamte Familie habe sich mehr als siebeneinhalb Jahre legal im Bundesgebiet aufgehalten, der unrechtmäßige Aufenthalt beschränke sich auf wenige Monate. Da sich die Familie vor der Einreise nach Österreich viele Jahre in Deutschland aufgehalten habe, seien sie von ihrem Heimatland bereits entfremdet.
Dieses Vorbringen ist berechtigt. Die belangte Behörde hat sich mit der besonderen Situation der Dritt- und Viertbeschwerdeführer in keiner Weise auseinandergesetzt. Diese wurden unbestritten in Deutschland geboren und kamen im Alter von fünf bzw. acht Jahren nach Österreich, wo sie nunmehr erfolgreich die Schule besuchen. Ihr Aufenthalt war zwischen April 2002 und November 2009 - und damit fast zur Gänze - auf Grund asylrechtlicher Bestimmungen rechtmäßig. Dass die Kinder zu irgendeiner Zeit in M gelebt hätten, hat die belangte Behörde nicht festgestellt, obwohl sich aus den Verwaltungsakten Hinweise ergeben, dass nicht nur der Erstbeschwerdeführer, sondern die gesamte Familie 1998 von Deutschland nach M abgeschoben worden sei und sich dort vier Jahre aufgehalten habe.
Mit einer dem Beschwerdefall vergleichbaren Konstellation hat sich der Verfassungsgerichtshof im Erkenntnis vom , B 950 bis 954/10-8, auseinandergesetzt. Auch in diesem Fall sollte die gesamte Familie, die im März 2002 nach Österreich kam und deren Asylanträge erst im Februar 2009 rechtskräftig abgeschlossen wurden, gemäß § 53 Abs. 1 FPG ausgewiesen werden. Der Verfassungsgerichtshof erkannte darin eine Verletzung des Art. 8 EMRK, u.a. weil erst nach sieben Jahren eine rechtskräftige Entscheidung über die Asylanträge der beschwerdeführenden Parteien ergangen sei (wobei keine Folgeanträge gestellt wurden) und die Behörde dem Umstand, dass die minderjährigen Beschwerdeführer den Großteil ihres Lebens in Österreich verbracht und beinahe auch die gesamte Schullaufbahn in Österreich absolviert hätten, zu wenig Gewicht beigemessen habe. In dem Erkenntnis vom , B 1565/10 u.a., betont der Verfassungsgerichtshofes nochmals, dass sich die belangte Behörde in ihren Abwägungsgründen mit dem Umstand, dass ein Minderjähriger im Alter von acht Jahren mit seinen Eltern nach Österreich gekommen ist, den Großteil seines Lebens in Österreich verbracht und beinahe auch die gesamte Schullaufbahn hier absolviert hat, eingehend auseinandersetzen muss.
Auch im vorliegenden Fall hat das Verfahren bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Asyl(Erstreckungs)anträge der beschwerdeführenden Parteien etwa siebeneinhalb Jahre gedauert; dass diese Folgeanträge gestellt hätten, wurde nicht festgestellt und ist auch den vorgelegten Verwaltungsakten nicht zu entnehmen. Die besonderen Umstände betreffend die Dritt- und Viertbeschwerdeführer hat die belangte Behörde in Verkennung der Rechtslage gänzlich außer Acht gelassen, weshalb der angefochtene Bescheid schon aus diesem Grund keinen Bestand haben konnte.
Darüber hinaus hat sich die belangte Behörde in keiner Weise damit auseinandergesetzt, dass der Erstbeschwerdeführer serbischer Staatsangehöriger ist, während die übrigen beschwerdeführenden Parteien die mazedonische Staatsangehörigkeit besitzen. Es ist somit nicht ohne Weiteres erkennbar, dass die beschwerdeführenden Parteien im Fall ihrer Ausweisung aus dem Bundesgebiet ein gemeinsames Familienleben in einem der beiden Herkunftsstaaten - dass ein anderer Staat in Betracht käme, ist fallbezogen nicht ersichtlich - führen können.
Der angefochtene Bescheid war daher wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG aufzuheben.
Die Kostenentscheidung beruht - im begehrten Umfang - auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. II Nr. 455/2008.
Wien, am
Fundstelle(n):
FAAAE-80306