VwGH vom 28.02.2011, 2010/17/0281
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pallitsch und die Hofräte Dr. Holeschofsky und Dr. Köhler sowie die Hofrätinnen Dr. Zehetner und Mag. Nussbaumer-Hinterauer als Richter, im Beisein der Schriftführerin MMag. Gold, über die Beschwerde des KK in G, vertreten durch Mag. Susanna Ecker, Rechtsanwältin in 8010 Graz, Herrengasse 22/II, gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenats in Tirol vom , Zl. uvs-2009/30/2023-5, betreffend Zurückweisung einer Maßnahmenbeschwerde wegen Zuständigkeit des Gerichts nach § 106 StPO, zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.326,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.
Begründung
1.1. Mit der vorliegenden Beschwerde bekämpft der Beschwerdeführer die Zurückweisung seiner Beschwerde vor dem Unabhängigen Verwaltungssenat in Tirol betreffend die zwangsweise Vornahme einer erkennungsdienstlichen Behandlung und einer Personendurchsuchung gemäß § 67a Abs. 1 Z 2 iVm § 67c Abs. 1 und 3 AVG.
Gegenstand der Beschwerde an die belangte Behörde war eine Amtshandlung der Bundespolizeidirektion Innsbruck anlässlich von Demonstrationen am . Nach den Feststellungen im angefochtenen Bescheid kesselte die Polizei wegen des Wegreißens einer Kopfbedeckung eines der Teilnehmer an einer Veranstaltung eine Gruppe von Demonstranten ein und teilte den anwesenden Personen mit, dass ihre Identität festgestellt werden solle und Personendurchsuchungen durchgeführt würden. Der Beschwerdeführer erklärte sich zwar zur Bekanntgabe der Identität bereit, nicht aber zu Duldung der Personendurchsuchung. In der Folge kam es zu einem Wegzerren des Beschwerdeführers unter Feststellung seiner Identität an Hand des von ihm in der Hand gehaltenen Passes, dem ihm ein Beamter aus der Hand riss. Es wurde zwangsweise eine Personendurchsuchung und eine Durchsuchung seines Rucksacks vorgenommen. Außerdem wurden Fotoaufnahmen vom Beschwerdeführer gemacht.
1.2. Mit Schriftsatz vom brachte der Beschwerdeführer (nachdem er am bereits Einspruch nach § 106 Abs. 1 StPO erhoben hatte) eine Beschwerde wegen Verletzung subjektiver Rechte gemäß § 88 Abs. 1 und 2 SPG durch die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt durch die Bundespolizeidirektion Innsbruck am ein. Er sei in seinen subjektiven Rechten durch die zwangsweise Vornahme der erkennungsdienstlichen Behandlung und der Personendurchsuchung verletzt. Auch der Aufforderung zum Mitkommen und der Durchsuchung wohne bereits eine sicherheitspolizeiliche Komponente inne.
Die Bundespolizeidirektion Innsbruck vertrat im Verfahren vor der belangten Behörde die Auffassung, dass hinsichtlich der Identitätsfeststellung, der erkennungsdienstlichen Behandlung und der Personendurchsuchung keine Maßnahmenbeschwerde oder sonstige Beschwerde im Sinn des SPG zulässig sei, weil die Amtshandlung "von Vornherein auf Grund der Bestimmungen der Strafprozessordnung" und nicht auf der Grundlage des SPG geführt worden sei.
1.3. Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde die Beschwerde als unzulässig zurück (Spruchpunkt I.) und verpflichtete den Beschwerdeführer gemäß der UVS-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. II Nr. 456, zum Kostenersatz gegenüber der "belangten Behörde (Bundespolizeidirektion Innsbruck)".
Begründend führte die belangte Behörde aus, die Bundespolizeidirektion Innsbruck sei zu Recht davon ausgegangen, dass die beanstandete zwangsweise Vornahme einer erkennungsdienstlichen Behandlung und einer Personendurchsuchung ausschließlich auf der Rechtsgrundlage der StPO durchgeführt worden sei. Eine über den bereits eingebrachten Einspruch nach § 106 StPO an das Landesgericht Innsbruck hinausgehende Beschwerdeerhebung im Sinne des SPG sei unzulässig.
Dass es sich beim Einschreiten der Organe der Bundespolizeidirektion Innsbruck um eine kriminalpolizeiliche Tätigkeit gehandelt habe, sei auch vom Beschwerdeführer selbst in seinem Einspruch an das Gericht festgehalten worden. Darüber hinaus habe das Gericht den Einspruch auch zugelassen. Die in Beschwerde gezogenen Amtshandlungen seien somit nicht in Ausübung der Sicherheitspolizei, sondern der Kriminalpolizei erfolgt. Die Beschwerde sei daher gemäß § 88 Abs. 1 und 2 SPG zurückzuweisen gewesen.
1.4. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer die zur hg. Zl. 2009/17/0273 protokollierte Beschwerde.
Die belangte Behörde hat die Akten vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet, in der sie die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde beantragt.
Aus Anlass dieser Beschwerde stellte der Verwaltungsgerichtshof an den Verfassungsgerichtshof gemäß Art. 140 Abs. 1 iVm Art. 89 Abs. 2 B-VG den Antrag, in § 106 Abs. 1 der Strafprozessordnung 1975, BGBl. Nr. 631, in der Fassung BGBl. I Nr. 19/2004, im Eingang die Worte "oder Kriminalpolizei" als verfassungswidrig aufzuheben.
1.5. Mit Erkenntnis vom , G 259/09-12 u.a. (betreffend den hier vorliegenden Beschwerdefall zu G 20/10-13), hob der Verfassungsgerichtshof die Wortfolge "oder Kriminalpolizei" im ersten Satz des § 106 Abs. 1 der Strafprozessordnung 1975, BGBl. Nr. 631 idF des Strafprozessreformgesetzes BGBl. I Nr. 19/2004, wegen Verstoßes gegen Art. 94 B-VG auf.
Der Verfassungsgerichtshof sprach aus, dass die aufgehobene Wortfolge nicht mehr anzuwenden sei und frühere gesetzliche Bestimmungen nicht wieder in Kraft träten.
Begründend führte der Verfassungsgerichtshof aus, dass nach ständiger Rechtsprechung der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts die Maßnahmenbeschwerde nach Art. 129a Abs. 1 Z 2 B-VG iVm § 67a Abs. 1 Z 2 AVG einen subsidiären Rechtsbehelf darstelle, der in Bezug auf Zwangsakte zum Tragen komme, wenn es sich um solche handle, die der Staatsfunktion Verwaltung zuzurechnen seien (Hinweis auf VfSlg. 16.815/2003 und das hg. Erkenntnis vom , Zl. 95/02/0506), hinsichtlich derer keine andere Rechtsschutzmöglichkeit bestehe. Der Wortlaut der Bestimmung des Art. 129a Abs. 1 Z 2 B-VG bzw. jener des § 67a AVG habe zwar durch das Strafprozessreformgesetz keine Änderung erfahren; dennoch sei davon auszugehen, dass das mit dem Strafprozessreformgesetz eingeführte (einheitliche) Rechtsschutzsystem Auswirkungen auf die - subsidiäre - Zuständigkeit der Unabhängigen Verwaltungssenate im Fall der Vornahme amtswegiger polizeilicher Zwangsmaßnahmen im Dienste der Strafjustiz entfalten könne.
Die Anträge des Verwaltungsgerichtshofes bzw. des Unabhängigen Verwaltungssenats Wien wurden daher, soweit sie sich auf die Aufhebung der Wendung "oder Kriminalpolizei" richteten, als zulässig angesehen (im Übrigen aber zurückgewiesen).
In der Sache führte der Verfassungsgerichtshof aus, dass die dem Erkenntnis zu Grunde liegenden Anträge des Unabhängigen Verwaltungssenats Wien und des Verwaltungsgerichtshofes "(schon) mit Blick auf Art. 94 B-VG" begründet seien. § 106 Abs. 1 StPO eröffne in Bezug auf polizeiliches Handeln bei (behaupteter) Verletzung der Bestimmungen der StPO den Rechtszug an das Gericht. Im Dienste der Strafjustiz (also zur Aufklärung des Verdachts einer Straftat) durchgeführte Akte der Kriminalpolizei seien demnach von Anfang an nach § 106 Abs. 1 StPO im Wege der Staatsanwaltschaft (vor dem Hintergrund ihrer potenziellen Leitungsbefugnis - § 101 StPO) mittels Einspruchs gerichtlich überprüfbar. Der Verfassungsgerichtshof teilte die Auffassung, dass Handlungen der Kriminalpolizei im Dienste der Strafrechtspflege ohne staatsanwaltschaftlichen Auftrag oder ohne gerichtliche Ermächtigung weiterhin als Verwaltungsakte im Sinn des Art. 20 Abs. 1 B-VG anzusehen seien. Mit dem im Strafprozessreformgesetz eingeführten Einspruchsrecht werde daher im Hinblick auf hier (allein) maßgebliche polizeiliche (Zwangs )Maßnahmen einfach-gesetzlich die Überprüfung verwaltungsbehördlicher Akte durch die ordentlichen Gerichte angeordnet. Ein solcher Rechtszug verletze aber nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (vgl. z.B. VfSlg. 10.452/1985 - gerichtliche Überprüfung verwaltungsbehördlich festgesetzter Entschädigungen nach dem Kärntner Naturschutzgesetz) das in Art. 94 B-VG angelegte Verbot der Behandlung einer identen Sache durch Vollziehungsorgane verschiedenen Typs. Wie die (Gesetzes )Materialien zeigten, habe der Gesetzgeber die diesbezügliche Problematik auch erkannt und eine - letztlich jedoch nicht zustande gekommene - verfassungsgesetzliche Absicherung angestrebt (Hinweis auf RV 25 BlgNR 22. GP, 17, 22).
Ausnahmen vom Grundsatz der Trennung der Justiz von der Verwaltung nach Art. 94 B-VG bedürften einer expliziten verfassungsrechtlichen Regelung. Eine solche liege hinsichtlich jener Angelegenheiten vor, in denen die Überprüfung von Verwaltungshandeln durch ein Gericht im B-VG ausnahmsweise vorgesehen sei (z.B. Justizverwaltungsangelegenheiten - Art. 87 Abs. 2 B-VG; die Gerichtsbarkeit des öffentlichen Rechts - Art. 131, 144 B-VG; die Kompetenz des Asylgerichtshofes - Art. 129c B-VG; Schadenersatzansprüche gegen Verwaltungshandeln nach dem Amtshaftungsgesetz - Art. 23 iVm Art. 82 ff. B-VG).
Der einfach-gesetzlichen Vorschrift des gerichtlichen Einspruchsrechts nach § 106 Abs. 1 StPO fehle jedoch eine derartige verfassungsrechtliche Grundlage. Diese wäre auch deshalb erforderlich, weil der unverändert gebliebene Art. 129a Abs. 1 Z 2 B-VG die Überprüfung verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsmaßnahmen jeder Art - ausgenommen solche "in Finanzstrafsachen des Bundes" - der Zuständigkeit der unabhängigen Verwaltungssenate zuordne.
Auf die unter dem Gesichtspunkt des Legalitätsprinzips erhobenen Bedenken ging der Verfassungsgerichtshof im Hinblick auf das Durchschlagen der Bedenken unter dem Blickwinkel des Art. 94 B-VG nicht ein.
2. Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
2.1. Gemäß Art. 140 Abs. 7 B-VG sind alle Gerichte und Verwaltungsbehörden an den Spruch des Verfassungsgerichtshofes gebunden, wenn ein Gesetz wegen Verfassungswidrigkeit aufgehoben worden ist. Auf die vor der Aufhebung verwirklichten Tatbestände mit Ausnahme des Anlassfalles ist das Gesetz weiterhin anzuwenden, sofern der Verfassungsgerichtshof nicht in seinem aufhebenden Erkenntnis anderes ausspricht.
Da der vorliegende Beschwerdefall Anlassfall zum Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom ist und überdies der Verfassungsgerichtshof in diesem Erkenntnis ausgesprochen hat, dass die aufgehobene Wortfolge nicht mehr anzuwenden ist, ist im Beschwerdefall § 106 Abs. 1 StPO in der durch die Aufhebung des Verfassungsgerichtshofes bewirkten bereinigten Fassung anzuwenden.
2.2. Die beschwerdegegenständlichen Handlungen der Bundespolizeidirektion Innsbruck ergingen unbestrittenermaßen ohne Anordnung des Gerichts oder der Staatsanwaltschaft. Die Zurückweisung der Maßnahmenbeschwerde des Beschwerdeführers wurde von der belangten Behörde ausdrücklich darauf gestützt, dass sich nach § 106 Abs. 1 StPO auch bei einer derartigen kriminalpolizeilichen Tätigkeit die Beschwerdemöglichkeit an das Gericht eröffne.
Da durch die Aufhebung der Wortfolge "oder Kriminalpolizei" in § 106 Abs. 1 StPO die Rechtsgrundlage, auf die die belangten Behörde die mit Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides vorgenommene Zurückweisung der Beschwerde des Beschwerdeführers gestützt hat, nicht mehr gegeben ist, erweist sich der angefochtene Bescheid insoweit als inhaltlich rechtswidrig.
Auf Grund der Rechtswidrigkeit des Spruchpunktes I. des angefochtenen Bescheides entfallen auch die Voraussetzungen für die unter Spruchpunkt II. vorgenommene Verpflichtung zum Kostenersatz.
Der angefochtene Bescheid war daher (zur Gänze) gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
2.3. Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. II Nr. 455.
Die Abweisung des Mehrbegehrens betrifft im Wesentlichen den angesprochenen Ersatz für im Verwaltungsverfahren zu entrichtende Eingabengebühren, deren Ersatz nach dem VwGG nicht vorgesehen ist. Im Übrigen war ein Betrag von 24 Cent nicht zuzusprechen, da das Kostenbegehren insoweit über den Pauschalsatz nach den genannten Regelungen hinausging.
Wien, am
Fundstelle(n):
GAAAE-79864