VwGH vom 28.11.2019, Ra 2018/19/0203
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Zens sowie den Hofrat Dr. Pürgy und die Hofrätin Dr.in Lachmayer als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Schweinzer, über die Revision 1. der K S,
2. der A V und 3. des G V, alle in G und alle vertreten durch Mag. Ronald Frühwirth, Rechtsanwalt in 8020 Graz, Grieskai 48, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom , Zlen. 1. L523 2148090-1/13E, 2. L523 2148086- 1/11E und 3. L523 2148088-1/10E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat den revisionswerbenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von jeweils EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Die revisionswerbenden Parteien sind armenische Staatsangehörige, die Erstrevisionswerberin ist die Mutter der zweit- und drittrevisionswerbenden Parteien. Sie verließen Armenien gemeinsam mit dem Ehemann der Erstrevisionswerberin bzw. Vater der zweit- und drittrevisionswerbenden Parteien im September 2014 und stellten am Anträge auf internationalen Schutz.
2 Mit Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) jeweils vom wurden diese Anträge zur Gänze abgewiesen, den revisionswerbenden Parteien keine "Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz" gemäß § 57 AsylG 2005 erteilt, Rückkehrentscheidungen gegen sie erlassen und die Zulässigkeit ihrer Abschiebung nach Armenien festgestellt. 3 Dagegen erhoben die revisionswerbenden Parteien Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht, in der sie im Wesentlichen das Ermittlungsverfahren, die Beweiswürdigung sowie die rechtliche Beurteilung des Bescheides bemängelten und einen Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung stellten. 4 In der am durchgeführten mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht wurden die Erstrevisionswerberin und ihr Ehemann zum Fluchtvorbringen, ihren familiären Verhältnissen in Armenien und ihrer bisherigen Integration in Österreich befragt.
5 In der Folge teilten die revisionswerbenden Parteien dem Bundesverwaltungsgericht in einer Stellungnahme vom mit, dass der Ehemann bzw. Kindsvater beabsichtige, nach Armenien zurückzukehren. Weiters führten sie aus, die Erstrevisionswerberin werde von diesem in Österreich beschimpft und bedroht. In Armenien habe er sie geschlagen. Die revisionswerbenden Parteien hätten die begründete und nachvollziehbare Befürchtung, dass sie in Armenien keinerlei staatlichen Schutz gegen allfällige Übergriffe des Ehemannes bzw. Kindsvaters in Anspruch nehmen könnten. Dort hielten sich zudem keine Verwandten der Erstrevisionswerberin auf und verfüge sie über keine existenzielle Grundlage. Sie ziehe es in Erwägung, sich von ihrem Ehemann scheiden zu lassen.
Mit dieser Stellungnahme wurden zwei psychiatrische Befunde vom und vom vorlegt. Ersterem ist zu entnehmen, dass die Erstrevisionswerberin berichtet habe, von ihrem Ehemann in Armenien geschlagen worden zu sein. In Österreich schlage er sie zwar nicht, es komme jedoch öfters zum Streit, weshalb auch die zweit- und drittrevisionswerbenden Parteien Angst vor ihrem Vater hätten. Eine Scheidung von der Erstrevisionswerberin lehne dieser ab. Dem zweiten Bericht ist zu entnehmen, dass die Erstrevisionswerberin mitgeteilt habe, nun nicht länger mit ihrem Ehemann zusammenleben zu können, weil sie dies ihren Kindern nicht antun wolle. Er habe in letzter Zeit zwar keinen Alkohol getrunken, sei aber trotzdem stets reizbar gewesen, habe die Erstrevisionswerberin beschimpft und bedroht, sie jedoch nicht geschlagen. Sie könne nicht nach Armenien zurück, weil sie dort ungeschützt sei.
6 Der Ehemann bzw. Kindsvater reiste am unter Gewährung von Rückkehrhilfe freiwillig aus dem Bundesgebiet aus.
7 Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde der revisionswerbenden Parteien als unbegründet ab und erklärte die Revision an den Verwaltungsgerichtshof für nicht zulässig.
Es legte seinen Feststellungen auch vom BFA herangezogene Länderberichte zur allgemeinen Lage in Armenien zu Grunde. Daran anschließend hielt es "vollständigkeitshalber" fest, das armenische Parlament habe am ein Gesetz gegen häusliche Gewalt verabschiedet, das - neben der Prävention häuslicher Gewalt und dem Schutz und der Sicherheit der Opfer - auch deren "notwendige psychologische, rechtliche, soziale und gegebenenfalls vorübergehende finanzielle Unterstützung" garantiere. Weiters stellte das Bundesverwaltungsgericht fest, auf Grund der bereits erfolgten Trennung zwischen der Erstrevisionswerberin und ihrem Ehemann sei nicht davon auszugehen, dass die revisionswerbenden Parteien im Fall ihrer Rückkehr nach Armenien von häuslicher Gewalt betroffen wären. In rechtlicher Hinsicht gelangte das Bundesverwaltungsgericht zum Ergebnis, eine gegen die revisionswerbenden Parteien gerichtete Verfolgungsgefahr sei weder im verwaltungsbehördlichen Verfahren noch im Beschwerdeverfahren glaubhaft gemacht worden. Ihre Befürchtung, im Fall der Rückkehr nach Armenien gewalttätigen Übergriffen des Ehemannes bzw. Kindsvaters ausgesetzt zu sein, wäre nur insofern asylrelevant, als der Staat aus einem Konventionsgrund der GFK nicht willig bzw. fähig wäre, den revisionswerbenden Parteien Schutz zu gewähren. Dies könne jedoch im konkreten Fall vor dem Hintergrund der Länderfeststellungen zu Armenien nicht angenommen werden. Auch das im Dezember 2017 verabschiedete Gesetz gegen häusliche Gewalt untermauere die Schutzfähigkeit und -willigkeit der armenischen Behörden. Auf Grund der bereits erfolgten Trennung zwischen der Erstrevisionswerberin und ihrem Ehemann sei aber "ohnehin davon auszugehen", dass die revisionswerbenden Parteien im Fall ihrer Rückkehr nach Armenien "mangels gemeinsamen Haushalts" nicht von häuslicher Gewalt betroffen sein würden. Sie seien weder Zeugen noch Opfer strafbarer Handlungen und auch keine Opfer von Gewalt im Sinn des § 57 Abs. 2 Z 1 AsylG 2005 geworden. Die Voraussetzungen für die amtswegige Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 lägen daher nicht vor, "wobei dies weder im Verfahren noch in der Beschwerde behauptet" worden sei.
8 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen dieses Erkenntnis gerichtete außerordentliche Revision nach Einleitung des Vorverfahrens - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
9 In der Revision wird zur Begründung ihrer Zulässigkeit unter anderem vorgebracht, das Bundesverwaltungsgericht habe keine Feststellungen zu den von der Erstrevisionswerberin behaupteten Übergriffen ihres Ehemannes getroffen und sei daher der sich aus § 58 AsylG 2005 ergebenden Verpflichtung, die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 von Amts wegen zu prüfen, nicht nachgekommen. Es hätte sich dabei näher mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob eine einstweilige Verfügung nach § 382b oder § 382e EO hätte erlassen werden können und ob in weiterer Folge die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 57 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 zum Schutz vor weiterer Gewalt durch den Ehemann erforderlich wäre.
Das Bundesverwaltungsgericht habe zudem durch die Verneinung der Asylrelevanz des Vorbringens der Erstrevisionswerberin die Rechtslage verkannt und sei auch dahingehend von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen. Denn auch eine auf keinem Konventionsgrund beruhende Verfolgung durch Private habe asylrelevanten Charakter, wenn der Herkunftsstaat der betroffenen Person aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründen nicht bereit sei, Schutz zu gewähren. Drohe einer Person bei Rückkehr in den Herkunftsstaat die reale Gefahr einer Verletzung ihrer durch Art. 2 und 3 EMRK geschützten Rechte, so wäre ihr zumindest subsidiärer Schutz zuzuerkennen. 10 Die Revision ist zulässig und auch begründet. 11 Nach § 57 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 ist im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine "Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz" zu erteilen, wenn der Drittstaatsangehörige, der im Bundesgebiet nicht rechtmäßig aufhältig oder nicht niedergelassen ist, Opfer von Gewalt wurde, eine einstweilige Verfügung nach § 382b oder 382e EO erlassen wurde oder erlassen hätte werden können und der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, dass die Erteilung der "Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz" zum Schutz vor weiterer Gewalt erforderlich ist.
Dass eine derartige einstweilige Verfügung tatsächlich erlassen wurde, ist somit nicht zwingende Voraussetzung für die Erteilung der Aufenthaltsberechtigung gemäß § 57 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 (vgl. zur im Wesentlichen gleichlautenden Vorgängerbestimmung des § 69a Abs. 1 NAG bis 0164). 12 Gemäß § 58 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 hat das BFA - und im Beschwerdeverfahren das Bundesverwaltungsgericht - die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 von Amts wegen zu prüfen, wenn der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird. Die Prüfung, ob die Voraussetzungen für eine "Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz" nach § 57 AsylG 2005 gegeben sind, hat der allfälligen Erlassung einer Rückkehrentscheidung voranzugehen. Ist nämlich ein Titel nach § 57 AsylG 2005 zu erteilen, so erweist sich die Erlassung einer Rückkehrentscheidung als unzulässig (vgl. und 0024).
13 Das mit Beschwerde angerufene Bundesverwaltungsgericht war daher zur Prüfung der Voraussetzungen des § 57 AsylG 2005 berufen. Hinsichtlich der Voraussetzungen des § 57 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 ist im vorliegenden Fall zwar unstrittig, dass bis zur Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses keine einstweilige Verfügung gegen den Ehemann der Erstrevisionswerberin auf Grund der von ihr vorgebrachten Vorfälle erlassen wurde. Das Bundesverwaltungsgericht hätte angesichts des in der Stellungnahme vom erstatteten Vorbringens jedoch nähere Feststellungen dazu treffen müssen, ob eine einstweilige Verfügung gemäß § 382b oder 382e EO gegen den Ehemann bzw. Vater hätte erlassen werden können (vgl. zu den Voraussetzungen für die Erlassung einer solchen Verfügung und 0118, mwN).
14 Bejahendenfalls hätte es weiters erheben müssen, ob der Aufenthaltstitel nach § 57 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 zum Schutz vor weiterer Gewalt erforderlich ist (vgl. dazu erneut VwGH Ra 2015/21/0023 und 0024). Diesbezüglich erweist es sich jedenfalls als verfehlt, so wie das Bundesverwaltungsgericht davon auszugehen, dass die revisionswerbenden Parteien auf Grund der bereits erfolgten räumlichen Trennung vom Ehemann bzw. Vater und "mangels gemeinsamen Haushalts" nicht von häuslicher Gewalt betroffen sein würden. Vielmehr wäre die Situation im Herkunftsland einer genaueren Untersuchung zu unterziehen gewesen, ob den revisionswerbenden Parteien - folgt man ihren Behauptungen im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht - im Fall der Abschiebung von dem bereits nach Armenien ausgereisten Ehemann bzw. Vater Gewalt drohe.
15 Sollte die Behauptung der revisionswerbenden Parteien zutreffen, wäre der Aufenthaltstitel nach § 57 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 nur dann nicht zum Schutz vor weiterer Gewalt erforderlich, wenn feststünde, dass in Armenien ausreichender staatlicher Schutz vor derartigen Bedrohungen gewährleistet ist. Wie der Verwaltungsgerichtshof bereits ausgesprochen hat, ist die Schutzfähigkeit und -willigkeit der staatlichen Behörden grundsätzlich daran zu messen, ob im Heimatland wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung oder einen ernsthaften Schaden darstellen, vorhanden sind und ob die schutzsuchende Person Zugang zu diesem Schutz hat. Dabei muss auch bei Vorhandensein von Strafnormen und Strafverfolgungsbehörden im Einzelfall geprüft werden, ob die revisionswerbenden Parteien unter Berücksichtigung ihrer besonderen Umstände in der Lage sind, an diesem staatlichen Schutz wirksam teilzuhaben ( bis 0121).
16 Dieser Vorgabe hat das Bundesverwaltungsgericht mit dem bloßen Hinweis auf das am verabschiedete armenische Gesetz gegen häusliche Gewalt und der darauf aufbauenden Beurteilung, die revisionswerbenden Parteien könnten demnach staatlichen Schutz in Anspruch nehmen, im vorliegenden Fall nicht entsprochen und somit seine Entscheidung mit einem Begründungsmangel belastet (vgl. zur Frage der staatlichen Schutzfähigkeit und -willigkeit armenischer Behörden in Fällen häuslicher Gewalt ausführlich VwGH Ra 2017/18/0119 bis 0121, sowie , wo zuletzt klargestellt wurde, dass auch die Aufnahme eines Staates in die Liste sicherer Herkunftsstaaten nicht zu einer gesetzlichen Vermutung führt, die nicht - durch ein entsprechendes Vorbringen des Fremden - widerlegbar wäre).
17 Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehenden, auf einem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintan zu halten. Auch eine auf keinem Konventionsgrund beruhende Verfolgung durch Private hat asylrelevanten Charakter, wenn der Heimatstaat des Betroffenen aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründen nicht bereit ist, Schutz zu gewähren (vgl. , mwN).
18 Ausgehend davon kommt der Frage, ob die revisionswerbenden Parteien gegen gewaltsame Übergriffe des Ehemanns bzw. Vaters im Herkunftsstaat Schutz finden können und - verneinendenfalls - aus welchen Gründen kein Schutz geboten wird, für die Beurteilung der Berechtigung ihrer Anträge auf internationalen Schutz entscheidende Bedeutung zu (vgl. abermals VwGH Ra 2017/18/0119 bis 0121). Wie bereits dargelegt, tragen die Feststellungen des angefochtenen Erkenntnisses die Beurteilung des Bundesverwaltungsgerichts, die revisionswerbenden Parteien könnten in Armenien staatlichen Schutz gegen die behaupteten drohenden Übergriffe in Anspruch nehmen, nicht, weshalb sich auch die Entscheidung über die Anträge auf internationalen Schutz als mangelhaft begründet erweist.
19 Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben. 20 Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die § 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am
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ECLI: | ECLI:AT:VWGH:2019:RA2018190203.L00 |
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