VwGH vom 06.05.2020, Ra 2018/11/0219
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Schick und den Hofrat Dr. Grünstäudl sowie die Hofrätin Dr. Pollak als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Vitecek, über die Revision des Mag. W O in L, vertreten durch Dr. Wolfram Wutzel, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Promenade 6/II, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom , Zl. L517 2184475-1/4E, betreffend Ausstellung eines Behindertenpasses (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Sozialministeriumservice, Landesstelle Oberösterreich), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Der Revisionswerber stellte einen Antrag auf Ausstellung eines Behindertenpasses, Vornahme der Zusatzeintragung "Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel und Ausstellung eines Parkausweises gemäß § 29b StVO 1960, welcher am bei der belangten Behörde einlangte. Er legte folgendes Schreiben des Orthopäden Dr. M vom vor:
"Befundbericht
Bei dem 60jährigen Patienten handelt es sich um ein massives HWS Syndrom mit Ausstrahlungen in beide Hände zum Teil Sensibilitätsstörungen, Kraftlosigkeit. Im Bereiche der LWS zunehmende Kreuzbeschwerden mit Ausstrahlungen in die Beine, verstärkt wird das Ganze durch längeres Stehen. Es sind nur kurze Wegstrecken von maximal 100 Metern, ohne Schmerz zu bewältigen. Er muss dann stehen bleiben. Fehlbelastung der Hüfte, Bewegungseinschränkungen beider Hüften, insbesondere bei längerem Stehen.
Hauptdiagnose
HWS Syndrom mit radikulärer und pseudoradikulärer Symptomatik, C5/C6 Bandscheibenschaden mit motorischer Läsion; Bandscheibenschäden L3 bis L5 auch mit radikulärer und pseudoradikulärer Symptomatik, sekundäres Wirbelsäulen bedingtes claudicatio Syndrom, Hüftcoxalgie, Coxarthrose, Spreizfüße.
Neben medikamentöser Behandlung auch Physiotherapie, CT gezielte Infiltrationen im Bereiche der WS vorgesehen.
Zusammenfassung
Hochgradige Bewegungseinschränkungen WS und Hüfte, deshalb sind Wegstrecken von nur maximal 100 Meter möglich. Es liegt deshalb eine unzumutbare Benützung von öffentlichen Verkehrsmitteln vor.
Bei anhaltenden Beschwerden ist auch an operative Maßnahmen
der Wirbelsäule zu denken.
..."
2 Die belangte Behörde wies diesen Antrag mit Bescheid vom unter Verweis auf ein orthopädisches Amtssachverständigengutachten vom , das sie dem Bescheid beilegte, ab. Der Sachverständige bezog sich auf den Befundbericht Dris. M wie folgt:
..."Hauptdiagnose: HWS Syndrom mit radikulärer und pseudoradikulärer Symptomatik, C5/C6 Bandscheibenschaden mit motorischer Läsion; Bandscheibenschäden L3 bis L5 auch mit radikulärer und pseudoradikulärer Symptomatik, sekundäres wirbelsäulenbedingtes Claudicatiosyndrom, Hüftcoxalgie, Coxarthrose, Spreizfüße",
und kam nach einer klinischen Untersuchung des Revisionswerbers zum Ergebnis, der Gesamtgrad der Behinderung betrage 20 %. Dies wurde im Gutachten unter Heranziehung der Anlage zur Einschätzungsverordnung, BGBl. II Nr. 261/2010 idF BGBl. II Nr. 251/2012, folgendermaßen begründet:
"Ergebnis der durchgeführten Begutachtung:
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Lfd.Nr. | Bezeichnung der körperlichen, geistigen oder sinnesbedingten Funktionseinschänkungen, welche voraussichtlich länger als sechs Monate andauern werden:Begründung der Positionsnummer und des Rahmensatzes: | Pos.Nr. | Gdb % |
1 | Wirbelsäulenschmerzen Da keine radiologischen Befunde vorhanden sind, wird die Einschätzung durchgeführt. | 20 | |
2 | Kniegelenk - Untere Extremitäten, Zustand nach Unterschenkelkopfbruch linksKeine Entzündungszeichen und keine wesentliche Bewegungseinschränkung, daher wird die Einschätzung durchgeführt | 10 | |
Gesamtgrad der Behinderung 20 v. H.
Begründung für den Gesamtgrad der Behinderung:
keine Erhöhung wegen Geringfügigkeit
Folgende beantragten bzw. in den zugrunde gelegten Unterlagen diagnostizierten Gesundheitsschädigungen erreichen keinen Grad der Behinderung:
Hüftcoxalgie, Coxarthrose, Spreizfüße
...
1. Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel - Welche der festgestellten Funktionsbeeinträchtigungen lassen das Zurücklegen einer kurzen Wegstrecke, das Ein- und Aussteigen sowie den sicheren Transport in einem öffentlichen Verkehrsmittel nicht zu und warum?
Das Knie- und Wirbelsäulenleiden schränkt die Mobilität ein, eine kurze Wegstrecke (300-400m) kann aber zurückgelegt werden. Die Beweglichkeit der Gelenke ermöglicht das sichere Ein- und Aussteigen und die Beförderung im öffentlichen Verkehrsmittel.
2. ..."
3 In der dagegen erhobenen Beschwerde wurde (als Verletzung des Parteiengehörs) gerügt, dass dem Revisionswerber keine Möglichkeit eingeräumt worden sei, zu dem Gutachten Stellung zu nehmen oder weitere Beweisanträge zu stellen. Überdies fehle eine Auseinandersetzung mit dem Befundbericht vom , zu dem das Gutachten im Widerspruch stehe. Die Beibringung eines (weiteren) Gutachtens wurde angekündigt und die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung beantragt.
4 Das Bundesverwaltungsgericht wies die Beschwerde - ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung - mit dem angefochtenen Erkenntnis ab, stellte fest, "dass der Gesamtgrad der Behinderung 20 v.H. beträgt", und sprach aus, dass die Revision an den Verwaltungsgerichtshof gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG unzulässig sei. 5 Die in der Begründung des angefochtenen Erkenntnisses enthaltenen Feststellungen beschränken sich auf die Darstellung des Verfahrensgangs und eine Wiedergabe des Amtssachverständigengutachtens vom . Beweiswürdigend führte das Verwaltungsgericht aus, das Gutachten sei schlüssig, nachvollziehbar und weise keine Widersprüche auf. Es basiere "auf den im Rahmen der persönlichen Untersuchung eingehend erhobenen klinischen Befunden, entsprechend den festgestellten Funktionseinschränkungen" und stehe nicht im Widerspruch zum vorgelegten Befundbericht. Dieser sei vom Gutachter "berücksichtigt, gewürdigt" worden und habe in das Gutachten Eingang gefunden. Das in der Beschwerde angekündigte Privatgutachten sei nie vorgelegt worden.
Zum Entfall der mündlichen Verhandlung führte das Bundesverwaltungsgericht unter Bezugnahme auf § 24 Abs. 4 VwGVG aus, der festgestellte Sachverhalt erscheine nicht ergänzungsbedürftig und eine mündliche Erörterung lasse keine weitere Klärung der Rechtsfrage erwarten.
6 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, zu der das Bundesverwaltungsgericht die Verfahrensakten vorlegte. Die belangte Behörde erstattete keine Revisionsbeantwortung.
7 Zur Zulässigkeit der Revision bringt der Revisionswerber vor, das Bundesverwaltungsgericht habe sich nicht mit den Widersprüchen zwischen dem Amtssachverständigengutachten und dem vorgelegten Befundbericht, auseinandergesetzt. Auch das am vorgelegte Gutachten Dris. M vom sei nicht berücksichtigt worden. Zum Beweis für die Vorlage dieses Gutachtens war der Revision eine Bestätigung der belangten Behörde angeschlossen, nach der Letztere das Gutachten am auf elektronischem Wege an das Verwaltungsgericht weitergeleitet habe, jedoch nicht nachvollziehen könne, ob es dort auch eingelangt sei.
8 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
9 Die Revision ist aus dem von ihr genannten Grund zulässig, sie ist auch begründet.
10 Eingangs ist darauf hinzuweisen, dass das angefochtene Erkenntnis den Anforderungen an eine ordnungsgemäße Begründung (§ 17 VwGVG iVm § 58 und 60 AVG) nicht gerecht wird, fehlen darin doch schon die in einem ersten Schritt (im Indikativ) zu treffenden eindeutigen, eine Rechtsverfolgung durch die Partei und eine nachprüfende Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts ermöglichenden konkreten Feststellungen über die - vom Verwaltungsgericht als erwiesen angenommene - konkrete Art und den Umfang der Leidenszustände des Revisionswerbers. Die bloße Zitierung von Beweisergebnissen ist, wie der Verwaltungsgerichtshof schon wiederholt betont hat, nicht hinreichend ( mit Hinweis auf , und die dort zitierte Vorjudikatur). Das Verwaltungsgericht hat im gegenständlichen Fall im Punkt "Feststellungen (Sachverhalt)" nach Darstellung des Verfahrensgangs und Wiedergabe des Amtssachverständigengutachtens zur Leidenssituation des Revisionswerbers jedoch keinerlei Feststellungen getroffen.
11 Wie die Revision zu Recht rügt, fehlt eine Auseinandersetzung mit dem Befundbericht Dris. M sowohl im Gutachten des Amtssachverständigen als auch im angefochtenen Erkenntnis. Im Gutachten wird lediglich die im Befundbericht angegebene Diagnose zitiert, jedoch nicht weiter darauf Bezug genommen. Vielmehr wird, anders als in dieser - mehrere Funktionsbeeinträchtigungen umfassenden - Diagnose lediglich von "Wirbelsäulenschmerzen" ausgegangen und eine dementsprechende Einstufung vorgenommen.
Der Ansicht des Verwaltungsgerichts, das gegenständliche Gutachten stehe nicht im Widerspruch zum vorgelegten Befundbericht, welcher vom Gutachter "berücksichtigt, gewürdigt" worden sei und in das Gutachten Eingang gefunden habe, ist daher nicht zu folgen. 12 Schließlich verkennt das Verwaltungsgericht aber auch die Rechtslage, wenn es meint, dass im vorliegenden Fall auf die Durchführung einer Verhandlung, die in der Beschwerde beantragt worden war, habe verzichtet werden können. Dazu genügt es, gemäß § 43 Abs. 2 VwGG auf das bereits zitierte hg. Erkenntnis, Ra 2016/1 1/0057 und das dort angeführte Erkenntnis vom , Ra 2015/11/0036, zu verweisen, in welchem auch auf die relevante Rechtsprechung des EGMR Bezug genommen wurde. Angesichts der unterschiedlichen vom Revisionswerber durch Vorlage des Befundberichts behaupteten Funktionsbeeinträchtigungen ist evident, dass die Durchführung einer Verhandlung gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG in Anwesenheit des ärztlichen Sachverständigen zur weiteren Klärung der Rechtssache und zu einem für den Revisionswerber allenfalls günstigeren Ergebnis hätte führen können. Überdies hätte dabei auch eine Auseinandersetzung mit dem am der belangten Behörde vorgelegten und beim Verwaltungsgericht möglicherweise nicht eingelangten Gutachten Dris. M vom erfolgen können.
Schließlich entspricht auch die Feststellung des Verwaltungsgerichts, "dass der Gesamtgrad der Behinderung 20 v.H. beträgt", nicht dem Gesetz. Letzterem kann nämlich nicht entnommen werden, dass der Grad der Behinderung auch ohne Vorliegen der Voraussetzungen des § 2 Abs. 1 BEinstG, also wenn der Grad der Behinderung mit weniger als 50 v.H. eingeschätzt wird, im Spruch der Entscheidung festzustellen sei. Vielmehr ist nach dem letzten Satz des § 14 Abs. 2 BEinstG in einem solchen Fall lediglich der Wegfall der Voraussetzungen für die Zugehörigkeit zum Kreis der begünstigten Behinderten auszusprechen (vgl. etwa , mwN).
13 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen vorrangig wahrzunehmender Rechtswidrigkeit des Inhalts aufzuheben.
14 Eine mündliche Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 VwGG unterbleiben.
15 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die § 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am
Zusatzinformationen
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ECLI: | ECLI:AT:VWGH:2020:RA2018110219.L00 |
Schlagworte: | Besondere Rechtsgebiete |
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