VwGH vom 27.04.2020, Ra 2018/11/0214
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Schick sowie die Hofrätin Mag. Hainz-Sator und den Hofrat Dr. Faber als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Soyer, über die Revision der Wiener Gebietskrankenkasse, vertreten durch Dr. Heinz Edelmann, Rechtsanwalt in 1060 Wien, Windmühlgasse 30/3, gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts Niederösterreich vom , Zl. LVwG-S-739/004-2018, betreffend Übertretungen des AVRAG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht:
Bezirkshauptmannschaft Mistelbach; mitbeteiligte Partei: L P in S (Ungarn), vertreten durch Dr. Norbert Berczi, Rechtsanwalt in 1051 Budapest, Sas utca 10), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Antrag auf Aufwandersatz wird abgewiesen.
Begründung
1 1. Mit Straferkenntnis der belangten Behörde vom wurde der Mitbeteiligte schuldig erkannt, er habe es als das gemäß § 9 VStG zur Vertretung nach außen berufene Organ einer näher bezeichneten ungarischen Gesellschaft zu verantworten, dass diese Firma als Arbeitgeber sechs namentlich genannte Arbeitnehmer zu jeweils näher angeführten Zeiten in den Monaten Februar bis April 2016 auf einer näher genannten Baustelle in Österreich beschäftigt habe, ohne ihnen den zustehenden Grundlohn unter Beachtung der jeweiligen Einstufungskriterien geleistet zu haben, wobei die Unterentlohnung je Arbeitnehmer einen näher genannten Geldbetrag in der Höhe von jeweils 9,5 % betragen habe. 2 Dadurch habe der Mitbeteiligte § 7i Abs. 5 Arbeitsvertragsrec hts-Anpassungsgesetz - AVRAG übertreten, weswegen gegen ihn eine Geldstrafe von EUR 16.000,-- (Ersatzfreiheitsstrafe von 120 Stunden) verhängt sowie ein Verfahrenskostenbeitrag vorgeschrieben werde.
3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis gab das Verwaltungsgericht der Beschwerde des Revisionswerbers "gemäß § 50 VwGVG dahingehend Folge ..., dass das angefochtene Straferkenntnis aufgehoben wird", und sprach aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
4 Begründend führte das Verwaltungsgericht aus, dem Mitbeteiligten sei von der belangten Behörde die Möglichkeit, den im Straferkenntnis angeführten Arbeitnehmern den Differenzbetrag binnen einer von der Behörde festzusetzenden Frist zu bezahlen, nicht eingeräumt worden. Daher sei diese "Strafvoraussetzung" des § 7i Abs. 6 AVRAG nicht erfüllt, sodass die Voraussetzungen zur Erlassung des angefochtenen Straferkenntnisses nicht gegeben seien. Der angefochtene Bescheid sei daher aufzuheben. Aus "verfahrensökonomischen Gründen" werde darauf hingewiesen, dass die belangte Behörde statt einer für jeden einzelnen betroffenen Arbeitnehmer zu verhängenden Geldstrafe unzulässigerweise eine Gesamtstrafe verhängt habe.
5 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende (außerordentliche) Revision. Der Mitbeteiligte hat eine Revisionsbeantwortung erstattet.
6 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision erwogen:
7 2. Die für den vorliegenden Fall gemäß § 19 Abs. 1 Z 38 AVRAG maßgeblichen Bestimmungen des Arbeitsvertragsrechts-Anpassungsgesetzes - AVRAG, BGBl. Nr. 459/1993, in der Fassung der Novelle BGBl. I Nr. 44/2016, lauten (auszugsweise):
"Strafbestimmungen
§ 7i. ...
(5) Wer als Arbeitgeber/in einen/e Arbeitnehmer/in beschäftigt oder beschäftigt hat, ohne ihm/ihr zumindest das nach Gesetz, Verordnung oder Kollektivvertrag zustehende Entgelt unter Beachtung der jeweiligen Einstufungskriterien, ausgenommen die in § 49 Abs. 3 ASVG angeführten Entgeltbestandteile, zu leisten, begeht eine Verwaltungsübertretung und ist von der Bezirksverwaltungsbehörde mit einer Geldstrafe zu bestrafen. ... Sind von der Unterentlohnung höchstens drei Arbeitnehmer/innen betroffen, beträgt die Geldstrafe für jede/n Arbeitnehmer/in 1 000 Euro bis 10 000 Euro, im Wiederholungsfall 2 000 Euro bis 20 000 Euro, sind mehr als drei Arbeitnehmer/innen betroffen, für jede/n Arbeitnehmer/in 2 000 Euro bis 20 000 Euro, im Wiederholungsfall 4 000 Euro bis 50 000 Euro.
...
(6) Stellt die Bezirksverwaltungsbehörde fest, dass
1. der/die Arbeitgeber/in dem/der Arbeitnehmer/in die Differenz zwischen dem tatsächlich geleisteten und dem dem/der Arbeitnehmer/in nach den österreichischen Rechtsvorschriften gebührenden Entgelt binnen einer von der Behörde festzusetzenden Frist nachweislich leistet, und
2. die Unterschreitung des nach Abs. 5 Z 1 maßgeblichen Entgelts unter Beachtung der jeweiligen Einstufungskriterien gering ist oder
3. das Verschulden des/der Arbeitgebers/in oder des/der zur Vertretung nach außen Berufenen (§ 9 Abs. 1 VStG) oder des/der verantwortlichen Beauftragten (§ 9 Abs. 2 oder 3 VStG) leichte Fahrlässigkeit nicht übersteigt,
hat sie von der Verhängung einer Strafe abzusehen. Ebenso ist von der Verhängung einer Strafe abzusehen, wenn der/die Arbeitgeber/in dem/der Arbeitnehmer/in die Differenz zwischen dem tatsächlich geleisteten und dem dem/der Arbeitnehmer/in nach den österreichischen Rechtsvorschriften gebührende Entgelt vor der Aufforderung durch die Bezirksverwaltungsbehörde nachweislich leistet und die übrigen Voraussetzungen nach dem ersten Satz vorliegen. In Verwaltungsstrafverfahren nach Abs. 5 ist § 45 Abs. 1 Z 4 und letzter Satz VStG nicht anzuwenden. Weist der/die Arbeitgeber/in der Bezirksverwaltungsbehörde nach, dass er/sie die Differenz zwischen dem tatsächlich geleisteten und dem dem/der Arbeitnehmer/in nach den österreichischen Rechtsvorschriften gebührenden Entgelt geleistet hat, ist dies bei der Strafbemessung strafmildernd zu berücksichtigen."
8 3.1. Die Revisionslegitimation der Revisionswerberin ergibt sich aus § 7i Abs. 8 Z 1 AVRAG.
9 3.2. Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit vor, das Verwaltungsgericht habe durch die bloße Aufhebung des Straferkenntnisses die Verwaltungsstrafsache entgegen § 50 VwGVG nicht in der Sache entschieden. Das Verwaltungsgericht hätte in der Sache selbst entscheiden und dabei anstelle einer Gesamtstrafe jeweils einzelne Strafen je Arbeitnehmer verhängen müssen. Auch habe das Verwaltungsgericht keine Erwägungen zu den für ein Absehen von der Strafe nach § 7i Abs. 6 AVRAG erforderlichen Voraussetzungen einer bloß geringen Unterentlohnung und einer bloß leichten Fahrlässigkeit getroffen.
10 3.3. Die Revision ist im Sinn ihres Vorbringens zulässig, weil sie zutreffend ein Abweichen von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes geltend macht.
11 4. Die Revision ist auch begründet.
12 4.1. In Verwaltungsstrafsachen haben die Verwaltungsgerichte jedenfalls, also ohne dass die ausnahmsweise nach § 28 VwGVG bestehende Möglichkeit zur Aufhebung des Bescheids zum Tragen kommen könnte, in der Sache selbst zu entscheiden (sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist). Diese grundsätzliche Verpflichtung zu einer reformatorischen Entscheidung ist schon verfassungsgesetzlich vorgegeben (Art. 130 Abs. 4 erster Satz B-VG) und wird einfachgesetzlich in § 50 VwGVG wiederholt bzw. konkretisiert (vgl. etwa ).
13 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt mithin in Verwaltungsstrafsachen gemäß § 50 VwGVG eine (bloße) Aufhebung des vor dem Verwaltungsgericht angefochtenen Bescheids nicht in Betracht. Es macht dabei keinen Unterschied, ob das Verwaltungsgericht das angefochtene Straferkenntnis nur (ersatzlos) behebt oder zusätzlich ausspricht, dass die Angelegenheit an die belangte Behörde zur Erlassung eines neuen Bescheids zurückverwiesen wird; in beiden Fällen wird die Verwaltungsstrafsache nicht abschließend erledigt (vgl. , mwN).
14 Fallbezogen hat das Verwaltungsgericht weder die Beschwerde zurückgewiesen, noch in der Sache selbst - sei es durch Einstellung des Strafverfahrens oder im Sinn eines Schuldspruches -
entschieden, sondern das angefochtene Straferkenntnis der belangten Behörde lediglich aufgehoben. Schon damit hat es sein Erkenntnis mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet (vgl. ).
15 4.2. Zutreffend ist auch das Revisionsvorbringen, dass das Verwaltungsgericht nicht alle Voraussetzungen für das Absehen von der Strafe (§ 7i Abs. 6 AVRAG) geprüft hat.
16 Ein Absehen von der Verhängung einer Strafe kommt nach § 7i Abs. 6 erster Satz AVRAG nur in Betracht, wenn a) die Unterschreitung des maßgeblichen Entgelts unter Beachtung der jeweiligen Einstufungskriterien gering ist oder das Verschulden des Arbeitgebers (des zur Vertretung nach außen Berufenen bzw. des verantwortlichen Beauftragten) leichte Fahrlässigkeit nicht übersteigt und b) er die Differenz zum gebührenden Entgelt binnen einer von der Behörde festzusetzenden Frist nachweislich geleistet hat (vgl. , zur Vorgängerbestimmung des § 7i Abs. 4 AVRAG idF BGBl. I Nr. 24/2011).
17 Fallbezogen hat sich das Verwaltungsgericht aber lediglich darauf gestützt, dass die belangte Behörde dem Revisionswerber keine Frist zur Leistung des noch ausstehenden Entgelts gesetzt hat (vgl. dazu ), ohne darauf einzugehen, ob die Entgeltunterschreitung gering ist oder das Verschulden des Mitbeteiligten leichte Fahrlässigkeit nicht überstiegen hat (vgl. dazu ; , Ro 2014/11/0071; , 2013/11/0121). 18 5. Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben. 19 Die Abweisung des Antrags der Revisionswerberin auf Aufwandersatz beruht auf § 47 Abs. 4 VwGG.
Wien, am
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ECLI: | ECLI:AT:VWGH:2020:RA2018110214.L00 |
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