VwGH vom 22.10.2019, Ra 2018/10/0149
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Rigler sowie die Hofräte Dr. Lukasser, Dr. Hofbauer, Dr. Fasching und die Hofrätin Dr. Leonhartsberger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Bleiweiss, über die Revision 1. des A B und 2. der J B, beide in W, beide vertreten durch Dr. Christoph Naske, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Wipplingerstraße 21, gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes Wien vom , Zlen. VGW-141/021/8470/2018-5, VGW- 141/V/021/8594/2018, betreffend Mindestsicherung (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Magistrat der Stadt Wien), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.
Das Land Wien hat den Revisionswerbern Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
I.
1 1. Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom erkannte das Verwaltungsgericht - im Beschwerdeverfahren - aufgrund eines gemeinsamen Antrags der Revisionswerber dem Erstrevisionswerber Leistungen der Bedarfsorientierten Mindestsicherung in bestimmter Höhe zu, während der Zweitrevisionswerberin keine Leistungen gewährt wurden. Die Revision gegen dieses Erkenntnis ließ das Verwaltungsgericht nicht zu.
2 Das Verwaltungsgericht stellte fest, die Zweitrevisionswerberin sei deutsche Staatsangehörige und seit durchgehend mit Hauptwohnsitz in Wien gemeldet. Sie führe mit dem Erstrevisionswerber (einem österreichischen Staatsbürger), mit dem sie zusammenwohne, eine Lebensgemeinschaft. Von Mai 2012 bis Februar 2013 (somit 10 Monate lang) sei die Zweitrevisionswerberin in Österreich beschäftigt gewesen. 3 Davon ausgehend verneinte das Verwaltungsgericht eine Gleichstellung der Zweitrevisionswerberin mit österreichischen Staatsbürgern gemäß § 5 Abs. 2 Z 2 Wiener Mindestsicherungsgesetz - WMG, weil diese weder erwerbstätig noch ihre Erwerbstätigeneigenschaft nach § 51 Abs. 2 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz - NAG erhalten geblieben sei. Auch habe sie das Recht auf Daueraufenthalt gemäß § 53a NAG nicht erworben. 4 In der Zeit von März 2011 bis Mai 2012 und von Jänner 2013 bis Februar 2018 habe die Zweitrevisionswerberin jeweils durchgehend Leistungen der Bedarfsorientierten Mindestsicherung bezogen.
5 Die Zweitrevisionswerberin weise daher - so das Verwaltungsgericht weiter - nur in einem Zeitraum von 7 Monaten ( bis ) einen rechtmäßigen bzw. erlaubten Aufenthalt in Österreich mit Versicherungsschutz über die Mitversicherung beim Erstrevisionswerber und ohne Sozialhilfebezug auf (vgl. Art. 9 Abs. 3 des Abkommens zwischen der Republik Österreich und der Bundesrepublik Deutschland über Fürsorge und Jugendwohlfahrtspflege; im Folgenden: Fürsorgeabkommen). Sie verwirkliche daher nicht den "Aufenthaltstatbestand" des Art. 8 Fürsorgeabkommen, weshalb sie auch keinen Anspruch auf Leistungen der Bedarfsorientierten Mindestsicherung aus Art. 2 Abs. 1 Fürsorgeabkommen ableiten könne.
6 2. Dagegen richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die das Verwaltungsgericht samt den Akten des Verfahrens vorgelegt hat.
7 Die belangte Behörde hat mitgeteilt, sie sehe von der Erstattung einer Revisionsbeantwortung ab.
II.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
8 1. Die Revision bringt in ihrem Zulässigkeitsvorbringen vor, nach dem Fürsorgeabkommen wäre eine Ausweisung der Zweitrevisionswerberin jedenfalls aus "Gründen der Menschlichkeit" iSd Art. 8 Fürsorgeabkommen unzulässig, woraus zwangsläufig folge, dass deren Aufenthalt rechtmäßig gewesen sei.
9 2. § 5 Wiener Mindestsicherungsgesetz, LGBl. Nr. 38/2010 idF
LGBl. Nr. 2/2018, lautet auszugsweise:
"Personenkreis
§ 5. (1) Leistungen nach diesem Gesetz stehen grundsätzlich nur volljährigen österreichischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern zu.
(2) Den österreichischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern sind folgende Personen gleichgestellt, wenn sie volljährig sind, sich rechtmäßig im Inland aufhalten und die Einreise nicht zum Zweck des Sozialhilfebezuges erfolgt ist:
(...)
2. Staatsangehörige eines EU- oder EWR-Staates oder der Schweiz, wenn sie erwerbstätig sind oder die Erwerbstätigeneigenschaft nach § 51 Abs. 2 Bundesgesetz über die Niederlassung und den Aufenthalt in Österreich (Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz - NAG) erhalten bleibt oder sie das Recht auf Daueraufenthalt nach § 53a NAG erworben haben und deren Familienangehörige;
(...)"
10 Das Abkommen zwischen der Republik Österreich und der Bundesrepublik Deutschland über Fürsorge und Jugendwohlfahrtspflege, BGBl. Nr. 258/1969 (Fürsorgeabkommen), lautet in seinen hier relevanten Teilen:
"Artikel 2
(1) Staatsangehörigen der einen Vertragspartei, die sich im Hoheitsgebiet der anderen Vertragspartei aufhalten, wird Fürsorge und Jugendwohlfahrtspflege in gleicher Weise, in gleichem Umfang und unter den gleichen Bedingungen wie den Staatsangehörigen des Aufenthaltsstaates gewährt.
(...)
Artikel 8
(1) Der Aufenthaltsstaat darf einem Staatsangehörigen der anderen Vertragspartei nicht allein aus dem Grunde der Hilfsbedürftigkeit den weiteren Aufenthalt versagen oder ihn rückschaffen, es sei denn, daß er sich noch nicht ein Jahr ununterbrochen erlaubt in seinem Hoheitsgebiet aufhält. Sprechen Gründe der Menschlichkeit gegen eine solche Maßnahme, so hat sie ohne Rücksicht auf die Dauer der Anwesenheit im Aufenthaltsstaat zu unterbleiben.
(2) Die Vorschriften dieses Abkommens stehen in keiner Weise dem Recht zur Ausweisung aus einem anderen als dem im vorstehenden Absatz erwähnten Grunde entgegen.
Artikel 9
(...)
(2) Der Aufenthalt im Sinne des Artikels 8 Absatz 1 gilt bei Abwesenheit bis zur Dauer eines Monates nicht als unterbrochen.
(3) Bei Berechnung der Aufenthaltsdauer nach Artikel 8 Absatz 1 werden Zeiträume, in denen der Lebensunterhalt ganz oder teilweise aus Mitteln der Fürsorge des Aufenthaltsstaates gewährt worden ist, nicht berücksichtigt.
(...)
Artikel 16
Das diesem Abkommen beiliegende Schlußprotokoll ist
Bestandteil des Abkommens.
(...)
SCHLUSSPROTOKOLL
zum Abkommen zwischen der Republik Österreich und der Bundesrepublik Deutschland über Fürsorge und Jugendwohlfahrtspflege
A. Bei Unterzeichnung des Abkommens über Fürsorge und Jugendwohlfahrtspflege stellen die Bevollmächtigten der beiden Vertragsparteien übereinstimmend folgendes fest:
(...)
6. Gründe der Menschlichkeit, die einer Rückschaffung gemäß
Artikel 8 Absatz 1 entgegenstehen, liegen insbesondere dann vor, wenn hiedurch enge Bindungen im Aufenthaltsstaat, vor allem eine Familiengemeinschaft, getrennt würden.
(...)"
11 3. Die Revision ist zulässig. Sie erweist sich im Ergebnis
auch als berechtigt.
12 4. Einen Anspruch der Zweitrevisionswerberin auf Leistungen der Bedarfsorientierten Mindestsicherung aufgrund einer Gleichstellung mit österreichischen Staatsbürgern gemäß § 5 Abs. 2 Z 2 WMG hat das Verwaltungsgericht mangels aufrechter bzw. aufrecht gebliebener Erwerbstätigkeit (vgl. § 51 Abs. 2 NAG) sowie mangels eines Daueraufenthaltsrechtes (vgl. § 53a NAG) der Zweitrevisionswerberin verneint. Dem tritt die Revision nicht substantiiert entgegen.
13 5. Es bleibt allerdings zu prüfen, ob der Zweitrevisionswerberin aus dem Fürsorgeabkommen ein Anspruch auf Mindestsicherungsleistungen erwachsen könnte.
14 5.1. Beim Fürsorgeabkommen handelt es sich um einen - unionsrechtlichen Bestimmungen vorgehenden - unmittelbar anwendbaren völkerrechtlichen Vertrag, der eine unmittelbare Grundlage für innerstaatliche Vollzugsakte - hier: für die mit dem Vollzug des Mindestsicherungsrechts befassten Behörden - darstellt. Die Gleichstellung der vom Fürsorgeabkommen erfassten, in Österreich aufhältigen deutschen Staatsangehörigen mit österreichischen Staatsbürgern in Angelegenheiten der Mindestsicherung ergibt sich sohin unmittelbar aus Art. 2 Fürsorgeabkommen (vgl. , mwH). 15 Art. 2 Abs. 1 Fürsorgeabkommen nennt jene Staatsangehörigen der einen Vertragspartei als die aus diesem Abkommen Berechtigten, die sich im Hoheitsgebiet der anderen Vertragspartei "aufhalten", wobei unter "aufhalten" nicht ein bloß "tatsächlicher", sondern vielmehr ein "rechtmäßiger" Aufenthalt zu verstehen ist. Davon ausgehend können nur deutsche Staatsangehörige, die sich rechtmäßig in Österreich aufhalten, als von Art. 2 Abs. 1 Fürsorgeabkommen erfasst angesehen werden. Nur sie haben Anspruch auf Mindestsicherung wie Österreicher (vgl. erneut VwGH Ro 2015/10/0051).
16 Der Zweitrevisionswerberin käme daher nur im Falle eines rechtmäßigen Aufenthaltes in Österreich ein Anspruch auf Leistungen der Bedarfsorientierten Mindestsicherung zu. 17 5.2. Art. 8 Abs. 1 erster Satz Fürsorgeabkommen bestimmt in diesem Zusammenhang, dass dem Staatsangehörigen einer Vertragspartei nicht allein aus dem Grunde der Hilfsbedürftigkeit der weitere Aufenthalt versagt oder er rückgeschafft werden dürfe, es sei denn, dass er sich noch nicht ein Jahr ununterbrochen erlaubt im Hoheitsgebiet einer Vertragspartei aufhalte. Sprächen "Gründe der Menschlichkeit" gegen eine solche Maßnahme, so habe sie ohne Rücksicht auf die Dauer der Anwesenheit im Aufenthaltsstaat zu unterbleiben.
18 Die Materialien (RV,1024 BlgNR, XI. GP, S. 18) führen zu
dieser Bestimmung u.a. aus:
"Zu Artikel 8:
Hier wird der Grundsatz des Verzichtes auf die fremdenpolizeiliche Heimschaffung allein aus dem Grunde der Hilfsbedürftigkeit näher umschrieben. Danach soll aus diesem Grund allein einem Hilfsbedürftigen weder eine begehrte Verlängerung der Aufenthaltsberechtigung versagt, noch gegen ihn mit fremdenpolizeilichen Zwangsmaßnahmen (Aufenthaltsverbot) vorgegangen werden.
(...)"
19 Liegen daher die Voraussetzungen des Art. 8 Abs. 1 erster Satz Fürsorgeabkommen vor (ununterbrochener einjähriger erlaubter Aufenthalt in Österreich; vgl. zur Berechnung Art. 9 Abs. 2 und 3 Fürsorgeabkommen), so darf der - weitere - Aufenthalt eines deutschen Staatsangehörigen nicht aus dem Grund der Hilfsbedürftigkeit versagt werden (vgl. dazu ). Ebenso darf einem deutschen Staatsangehörigen nach einem kürzeren (als einem einjährigen) erlaubten Aufenthalt in Österreich der Aufenthalt nicht aus dem Grund der Hilfsbedürftigkeit verweigert werden, wenn Gründe der Menschlichkeit dagegen sprechen (vgl. Art. 8 Abs. 1 zweiter Satz Fürsorgeabkommen).
20 Dementsprechend haben die Behörden bzw. Verwaltungsgerichte - bei Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 8 Abs. 1 erster oder zweiter Satz Fürsorgeabkommen - bei der Prüfung, ob einem deutschen Staatsangehörigen nach den fremdenrechtlichen (bzw. aufenthaltsrechtlichen) Bestimmungen ein Aufenthaltsrecht zukommt, die Frage der Hilfsbedürftigkeit nicht zu berücksichtigen. Die Frage, ob sich der Aufenthalt des deutschen Staatsangehörigen nach den fremdenrechtlichen - bzw. aufenthaltsrechtlichen - Bestimmungen als rechtmäßig erweist, darf in diesem Fall daher nicht mit dem Argument der Hilfsbedürftigkeit verneint werden (vgl. wiederum VwGH 97/21/0546).
21 5.3. Die Auffassung des Verwaltungsgerichtes, dass die Zweitrevisionswerberin keinen einjährigen "erlaubten" Aufenthalt im Sinne des Art. 8 Abs. 1 iVm Art. 9 Abs. 3 Fürsorgeabkommen aufweisen könne, wird von den Revisionswerbern nicht bekämpft. Allerdings behauptet die Revision, dass in der Lebensgemeinschaft der Zweitrevisionswerberin und des (österreichischen) Erstrevisionswerbers gelegene Gründe der Menschlichkeit gegen eine Ausweisung der Zweitrevisionswerberin sprächen.
22 Gemäß Punkt A. 6. des Schlussprotokolls zum Fürsorgeabkommen liegen Gründe der Menschlichkeit, die einer Rückschaffung gemäß Art. 8 Abs. 1 Fürsorgeabkommen entgegenstehen, insbesondere dann vor, wenn hiedurch enge Bindungen im Aufenthaltsstaat, vor allem eine Familiengemeinschaft, getrennt würden (zu dem verfassungsrechtlich gebotenen weiten Begriff des "Familienlebens" vgl. etwa die Nachweise aus der Rechtsprechung des EGMR bei Mayer/Muzak, B-VG5, Anm. II.2. zu Art. 8 MRK). 23 Das Verwaltungsgericht hat bei seiner Prüfung, ob sich die Zweitrevisionswerberin rechtmäßig in Österreich aufhält, die von ihm festgestellte Lebensgemeinschaft der Revisionswerber völlig außer Acht gelassen und sich nicht damit befasst, ob vor deren Hintergrund Gründe der Menschlichkeit gegen eine Versagung des Aufenthaltsrechts der Zweitrevisionswerberin allein wegen deren Mittellosigkeit (vgl. dazu oben Rz 19 und 20) sprechen. 24 5.4. Indem das Verwaltungsgericht die Notwendigkeit einer derartigen Auseinandersetzung für die Beurteilung des Aufenthalts der Zweitrevisionswerberin verkannt hat, hat es das angefochtene Erkenntnis mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet. 25 6. Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
26 Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am
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ECLI: | ECLI:AT:VWGH:2019:RA2018100149.L00 |
Schlagworte: | Besondere Rechtsgebiete Individuelle Normen und Parteienrechte Rechtsanspruch Antragsrecht Anfechtungsrecht VwRallg9/2 |
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