VwGH vom 22.11.2012, 2012/23/0030
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Stöberl sowie die Hofräte Dr. Sulzbacher, Mag. Haunold, Mag. Feiel und Dr. Mayr als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Dobner, über die Beschwerde des F in W, vertreten durch Dr. Peter Stoff, Rechtsanwalt in 1070 Wien, Neustiftgasse 3/4, gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates Wien vom , Zl. UVS-FRG/46/4775/2009, betreffend Erlassung eines befristeten Aufenthaltsverbots (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.326,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Der Beschwerdeführer, ein 1965 geborener rumänischer Staatsangehöriger, reiste am illegal in das Bundesgebiet ein, wo er einen Asylantrag stellte. Nach rechtskräftig negativem Abschluss seines Asylverfahrens wurden ihm ab November 1991 zunächst befristete Sichtvermerke und anschließend weitere Aufenthaltstitel erteilt.
Mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid vom erließ die belangte Behörde gegen den Beschwerdeführer gemäß § 86 Abs. 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) ein auf zehn Jahre befristetes Aufenthaltsverbot.
Dies begründete sie - nach Wiedergabe des Verfahrensgangs - zusammengefasst damit, dass der Beschwerdeführer drei Mal wegen des Vergehens des (in zwei Fällen: versuchten) Diebstahls rechtskräftig verurteilt worden sei, und zwar am zu einer teilbedingten Geldstrafe von 20 Tagessätzen, am - unter gleichzeitigem Widerruf der zuvor gewährten bedingten Strafnachsicht - zu einer Geldstrafe von 70 Tagessätzen und am zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von zwei Monaten. Weiters sei der Beschwerdeführer am vom Landesgericht für Strafsachen Wien wegen des Vergehens der Veruntreuung nach § 133 Abs. 1 und 2 erster Fall StGB zu einer bedingten Freiheitsstrafe von vier Monaten und am wegen der Vergehen der schweren Körperverletzung nach den §§ 83 Abs. 1, 84 Abs. 1 StGB und der gefährlichen Drohung gemäß § 107 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten verurteilt worden. Trotz einer fremdenpolizeilichen Verwarnung am und einer weiteren Verwarnung am sei der Beschwerdeführer am erneut vom Landesgericht für Strafsachen Wien wegen des Vergehens des schweren Betrugs (als Beteiligter) nach den §§ 12 zweiter Fall, 146, 147 Abs. 1 Z 1 StGB zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt worden.
Nach näherer Darstellung der den Verurteilungen zu Grunde liegenden Straftaten stellte die belangte Behörde fest, dass der Beschwerdeführer seit mit einer rumänischen Staatsangehörigen verheiratet sei. Der Ehe entstammten zwei - vierzehn und fünf Jahre alte - Söhne. Die Familie lebe in Wien, wo die Kinder Schule bzw. Kindergarten besuchten. Der Beschwerdeführer, ein ausgebildeter Elektromechaniker, sei als Angestellter beschäftigt, seine Ehefrau arbeite als Köchin. Der Beschwerdeführer spreche - seinem langjährigen Aufenthalt im Bundesgebiet entsprechend - gut deutsch. Seine Eltern seien bereits verstorben. Zu Blutsverwandten in Rumänien bestehe nur noch wenig Kontakt. Seine Ehefrau habe jedoch einen Nebenwohnsitz in Rumänien, wo die Familie regelmäßig den Urlaub verbringe.
Rechtlich führte die belangte Behörde aus, dass das Aufenthaltsverbot nach den Kriterien des § 86 Abs. 1 erster bis vierter Satz FPG zu beurteilen sei, wobei als Orientierungsmaßstab der Katalog des § 60 Abs. 2 FPG heranzuziehen sei. Angesichts der sich steigernden Eigentumsdelikte, die allesamt auf derselben schädlichen Neigung beruhten, liege eine bestimmte Tatsache im Sinn des § 60 Abs. 2 Z 1 FPG vor. Der Beschwerdeführer habe sich weder durch vorangegangene strafgerichtliche Verurteilungen zu bedingten Haftstrafen noch durch fremdenpolizeiliche Ermahnungen davon abhalten lassen, im Jahr 2008 neuerlich ein Eigentumsdelikt zu begehen. Bereits das Gewaltdelikt aus dem Jahr 2003 für sich sei jedoch ausreichend, gegen den Beschwerdeführer - unbeschadet seiner Stellung als Unionsbürger - ein Aufenthaltsverbot zu erlassen. Auch die dafür verhängte Freiheitsstrafe von acht Monaten begründe eine bestimmte Tatsache im Sinn des § 60 Abs. 2 Z 1 FPG. Der Beschwerdeführer habe hinsichtlich seiner letzten drei Verurteilungen überdies keinerlei Reue oder Schuldeinsicht gezeigt, sondern gemeint, in all diesen Fällen zu Unrecht verurteilt worden zu sein, sodass davon auszugehen sei, dass von ihm nach wie vor eine große Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgehe. Diese Gefahr sei in Anbetracht seiner Uneinsichtigkeit "in den gesellschaftlichen Unwert und das rechtlich Verpönte seines Verhaltens" als unmittelbar gegenwärtig einzustufen und erfordere daher die Verhängung der aufenthaltsbeendenden Maßnahme.
In ihrer Interessenabwägung nach § 66 FPG kam die belangte Behörde auf Grund näher dargelegter Erwägungen zum Ergebnis, dass das Aufenthaltsverbot zwar massiv in das Privat- und Familienleben des Beschwerdeführers eingreife, die öffentlichen Interessen an der Verhängung des Aufenthaltsverbots die entgegenstehenden Interessen des Beschwerdeführers an einem Verbleib im Bundesgebiet aber deutlich überwiegen würden.
Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der deren Behandlung mit Beschluss vom , B 67/10-3, abgelehnt und sie dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abgetreten hat.
Der Verwaltungsgerichtshof hat über die nach Aufforderung ergänzte Beschwerde nach Aktenvorlage erwogen:
Vorauszuschicken ist, dass der Verwaltungsgerichtshof den angefochtenen Bescheid auf Basis der Sach- und Rechtslage bei seiner Erlassung zu überprüfen hat. Wird daher im Folgenden auf Bestimmungen des FPG Bezug genommen, so handelt es sich dabei um die zu diesem Zeitpunkt (Dezember 2009) geltende Fassung.
Die Beschwerde macht im Wesentlichen geltend, dass die Verurteilungen weder für sich noch im Zusammenhang mit den anderen Delikten die Verhängung eines Aufenthaltsverbots gegen einen EWR-Bürger begründen könnten, womit sie eine Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheids aufzeigt.
Der Beschwerdeführer ist als rumänischer Staatsangehöriger EWR-Bürger. Im Hinblick darauf ist gegen ihn die Erlassung eines Aufenthaltsverbots gemäß § 86 Abs. 1 FPG nur zulässig, wenn auf Grund seines persönlichen Verhaltens die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet ist. Das persönliche Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Strafrechtliche Verurteilungen allein können nicht ohne weiteres diese Maßnahme begründen. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig.
Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits wiederholt ausgeführt, dass das FPG ein System abgestufter Gefährdungsprognosen enthält (vgl. grundlegend das Erkenntnis vom , Zl. 2008/21/0603), wobei § 86 Abs. 1 FPG gegenüber dem - bei Aufenthaltsverboten im Wege des § 61 Z 2 FPG anzuwendenden - § 56 Abs. 1 FPG und mehr noch gegenüber § 60 Abs. 1 FPG ein höheres Maß an Gefährdung, die vom Fremden ausgehen muss, verlangt (vgl. etwa das Erkenntnis vom , Zl. 2011/23/0134).
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist bei der Erstellung der für jedes Aufenthaltsverbot zu treffenden Gefährlichkeitsprognose das Gesamtverhalten des Fremden in Betracht zu ziehen und auf das sich aus der Art und der Schwere der zu Grunde liegenden Straftaten ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen. Dies gilt für die nach § 60 Abs. 1 FPG vorzunehmende Gefährdungsprognose ("Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit" oder "Zuwiderlaufen anderen im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten öffentlichen Interessen") und umso mehr für die gegenüber § 60 Abs. 1 FPG einen strengeren Maßstab gebietenden Gefährdungsprognosen nach § 56 Abs. 1 FPG ("schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit") und § 86 Abs. 1 erster und zweiter Satz FPG ("tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt") sowie des fünften Satzes des § 86 Abs. 1 FPG ("nachhaltige und maßgebliche Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit"). Dass die bloße Tatsache des Vorliegens von Verurteilungen für sich genommen ein Aufenthaltsverbot nach § 86 Abs. 1 FPG nicht zu tragen vermag, ergibt sich im Übrigen bereits aus dem Wortlaut dieser Bestimmung (vgl. zum Ganzen das Erkenntnis vom , Zl. 2007/21/0297, mwN).
Die belangte Behörde beschränkte sich bei ihrer Prüfung - insoweit zutreffend - zwar nicht allein auf die Tatsache der Bestrafung, sondern bejahte die nach § 86 Abs. 1 FPG anzustellende Gefährdungsprognose mit Blick auf das den Verurteilungen zu Grunde liegende (Fehl )Verhalten des Beschwerdeführers. Dabei hätte die belangte Behörde aber zu beachten gehabt, dass die Verurteilung vom zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten zwar die erste Alternative des Tatbestands des § 60 Abs. 2 Z 1 FPG erfüllt. Ebenso begründet die zeitlich letzte Verurteilung des Beschwerdeführers vom im Hinblick auf die Verurteilungen aus den Jahren 1991 bis 2002, weil diese wegen auf der gleichen schädlichen Neigung beruhender strafbarer Handlungen erfolgten, die vierte Alternative des § 60 Abs. 2 Z 1 FPG. Die ausschließlich wegen Vergehen nach dem Strafgesetzbuch erfolgten Verurteilungen vermögen hingegen für sich keine schwere Gefahr im Sinn des § 56 Abs. 1 iVm Abs. 2 Z 1 FPG zu indizieren. Sie erfüllen in ihrer Gesamtheit aber auch nicht den in § 56 Abs. 2 Z 2 FPG normierten Tatbestand, wurde der Beschwerdeführer doch in keinem Fall wegen einer auf derselben schädlichen Neigung (§ 71 StGB) wie eine andere von ihm begangene strafbare Handlung, deren Verurteilung noch nicht getilgt war, beruhender Vorsatztat zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von mehr als sechs Monaten verurteilt.
Soweit die belangte Behörde besonders die Verurteilung vom wegen des Vergehens der schweren Körperverletzung und der gefährlichen Drohung zur Begründung der Gefährdungsprognose heranzog, übersah sie, dass dies das einzige Gewaltdelikt des Beschwerdeführers blieb, das bei Erlassung des angefochtenen Bescheides zudem bereits etwa sechseinhalb Jahre zurücklag. Nach dieser Verurteilung, die - wie bereits ausgeführt wurde - ebenfalls keine Tatsache im Sinn des § 56 Abs. 2 FPG darstellt, wurde von den Fremdenpolizeibehörden im Übrigen von der Verhängung eines Aufenthaltsverbots gegen den Beschwerdeführer bereits abgesehen und mit einer Verwarnung vorgegangen. Die danach ausschließlich hinzugekommene letzte Verurteilung des Beschwerdeführers im Jahr 2008 war dazu nicht einschlägig und erfüllt für sich genommen noch nicht einmal den Tatbestand des § 60 Abs. 2 Z 1 FPG.
Da somit schon ein Tatbestand für ein Aufenthaltsverbot nach § 56 FPG nicht erfüllt wurde, ist nicht nachvollziehbar, inwiefern eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit im Sinn des § 86 Abs. 1 FPG bejaht werden könnte, ist doch dabei - wie ausgeführt - ein (nochmals) erhöhter Gefährdungsmaßstab anzulegen.
Der angefochtene Bescheid war daher schon deshalb wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.
Wien, am