VwGH vom 18.04.2012, 2008/10/0338
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Mizner und die Hofräte Mag. Nussbaumer-Hinterauer und Dr. Hofbauer als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Uhlir, über die Beschwerde des mj. J G, vertreten durch die Kindesmutter A G, beide in G, vertreten durch Dr. Johann Lutz, Rechtsanwalt in 6020 Innsbruck, Bozner Platz 1/IV, gegen den Bescheid der Tiroler Landesregierung vom , Zl. Va-459-17513/1/8, betreffend Kostenübernahme für Rehabilitationsmaßnahmen, zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Das Land Tirol hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.326,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Mit dem angefochtenen Bescheid hat die Tiroler Landesregierung den Antrag des Beschwerdeführers auf Kostenübernahme für eine Therapie bei einer bestimmt genannten Rehabilitationseinrichtung gemäß § 2 Tiroler Rehabilitationsgesetz (TRG), LGBl. Nr. 58/1983, abgewiesen.
Begründend führte die belangte Behörde aus, der Amtsarzt sei nach Einsicht in die beigebrachten medizinischen Unterlagen zum Ergebnis gelangt, aus den vorliegenden Befundberichten sei keine Behinderung im Sinne des TRG ableitbar. Aus der gegenständlichen Befundlage sei weder eine manifeste körperliche, noch eine geistige oder seelische Behinderung im Sinne eines "Dauerzustandes, der durch geeignete Therapiemaßnahmen per se nicht mehr relevant gebessert werden könne", ableitbar. Damit sei im gegenständlichen Fall von einem im ungünstigsten Fall krankheitswertigen Zustandsbild auszugehen. Über dessen Vorliegen habe jedoch der zuständige Sozialversicherungsträger zu entscheiden. Somit liege aber keine Behinderung iSd § 2 TRG vor.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde mit dem Begehren, ihn wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes oder Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
Die belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor und erstattete eine Gegenschrift mit dem Antrag, die Beschwerde als unbegründet abzuweisen.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z. 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
Der Beschwerdeführer bringt zusammengefasst vor, er habe Befunde und medizinische Gutachten vorgelegt, aus denen sich die Voraussetzungen für einen Anspruch auf die begehrte Heilbehandlung nach dem TRG ergäben. Mit diesen Unterlagen habe sich die belangte Behörde nicht in nachvollziehbarer Weise auseinander gesetzt. Sie habe keine Feststellungen getroffen und ihre Ansicht, der Beschwerdeführer sei nicht behindert, nicht begründet.
Die hier maßgeblichen Bestimmungen des TRG lauten auszugsweise:
"§ 1
Aufgaben
Rehabilitation im Sinne dieses Gesetzes bedeutet die Anwendung zusammenwirkender Maßnahmen, durch die die physischen, psychischen, sozialen, beruflichen und wirtschaftlichen Fähigkeiten eines Behinderten entfaltet und erhalten werden mit dem Ziel, den Behinderten in die Gesellschaft einzugliedern oder wieder einzugliedern.
§ 2
Personenkreis
Behinderte im Sinne dieses Gesetzes sind Personen, die wegen eines physischen oder psychischen Leidens oder Gebrechens in ihrer Fähigkeit dauernd wesentlich beeinträchtigt sind, ein selbständiges Leben in der Gesellschaft zu führen, insbesondere eine angemessene Erziehung, Schulbildung oder Berufsausbildung zu erhalten oder eine ihnen auf Grund ihrer Schul- und Berufsausbildung zumutbare Beschäftigung zu erlangen oder zu behalten.
§ 3
Anspruch
(1) Voraussetzung für die Gewährung von Rehabilitationsmaßnahmen ist, dass der Behinderte
Tabelle in neuem Fenster öffnen
a) | die österreichische Staatsbürgerschaft besitzt, |
b) | in Tirol seinen Hauptwohnsitz hat, |
c) | rehabilitationsfähig ist, |
d) | rehabilitationswillig ist, |
e) | keine Möglichkeit hat, nach anderen Rechtsvorschriften gleichartige oder ähnliche Leistungen zu erhalten. |
(2) Der Behinderte ist rehabilitationsfähig, wenn bei Gewährung von geeigneten Rehabilitationsmaßnahmen seine physische, psychische, soziale, berufliche und wirtschaftliche Eingliederung in die Gesellschaft zu erwarten ist.
...
(5) Auf Leistungen nach diesem Gesetz, mit Ausnahme von Leistungen nach § 14 und § 15 Abs. 1 und 2, besteht ein Anspruch. Ein Anspruch auf Gewährung einer bestimmten Rehabilitationsmaßnahme besteht nicht.
§ 25
Behörden und Verfahren
(1) Der Landesregierung obliegt die Entscheidung und Verfügung in allen Angelegenheiten dieses Gesetzes.
(2) Rehabilitationsmaßnahmen dürfen nur auf Antrag gewährt werden. Anträge auf Gewährung von Rehabilitationsmaßnahmen sind schriftlich beim Amt der Landesregierung oder bei der Bezirksverwaltungsbehörde, in der der Antragsteller seinen Hauptwohnsitz hat, einzubringen.
(3) Vor der Entscheidung über einen Antrag nach Abs. 2 sind der Amtsarzt und bei Bedarf weitere Sachverständige zu hören. Die Sachverständigen können ein gemeinsames Gutachten (Gesamtplan) erstellen.
..."
Nach der Aktenlage hat der Beschwerdeführer einen Antrag auf Gewährung einer Rehabilitationsmaßnahme nach dem TRG (Ergotherapie) gestellt. Im Zuge des Verfahrens hat er u.a. einen psychodiagnostischen Befund und eine Stellungnahme eines Facharztes für Kinderheilkunde vorgelegt:
Der psychodiagnostische Befund der Psychologen Dr. S. und Mag. W vom gelangte zum Ergebnis, beim Beschwerdeführer liege eine Entwicklungs- und eine Wahrnehmungsstörung vor. Die Leistung betreffend das visuelle Kurzzeitgedächtnis sei schwach. Eine signifikante Schwäche zeige sich auch hinsichtlich der visuo-konstruktiven Fähigkeiten. Betreffend Motorik erreiche der Beschwerdeführer ein extrem unterdurchschnittliches Ergebnis hinsichtlich der grobmotorischen Geschicklichkeit. Die feinmotorischen Leistungen seien ebenfalls nicht altersadäquat. Hinsichtlich der Visuomotorik liege ein deutlich unterdurchschnittliches Ergebnis vor. Die Menschzeichnung sei ebenfalls nicht altersgemäß. Das Überkreuzen der Mittellinie gelinge nicht, der Beschwerdeführer könne kein Viereck, Dreieck oder Kreuz nachzeichnen. Zudem wechsle er die Hände beim Zeichnen, die Stifthaltung sei auffällig. Es ergebe sich ein signifikanter Gesamtproblemwert mit auffälligen Skalenwerten hinsichtlich "emotionalen Problemen", "Verhaltensproblemen" sowie "prosozialem Verhalten". Als grenzwertig sei die Skala "Hyperaktivität" einzustufen.
Die Stellungnahme der Fachärztin für Kinderheilkunde Dr. H. vom gelangt zum Ergebnis, es liege ein chronischer Leidensverlauf mit voraussichtlicher relevanter Besserung in 24 Monaten vor.
Im Aktenvermerk vom wird festgehalten, der Fall sei in der Clearingsitzung vom besprochen worden. Aus den vorliegenden Befundberichten sei keine Behinderung im Sinne des TRG ersichtlich. Die Landeszuständigkeit sei daher nicht gegeben. Die Tiroler Gebietskrankenkasse übernehme vorerst sechs Einheiten Ergotherapie je 45 Minuten.
Der Inhalt dieses Aktenvermerkes wurde der Kindesmutter mit Schreiben vom mitgeteilt und die Möglichkeit der Erstattung einer Stellungnahme eingeräumt.
Mit Eingabe vom nahm die vom Beschwerdeführer ins Auge gefasste Therapieeinrichtung Stellung.
Die Frage, ob beim Beschwerdeführer eine Behinderung iSd § 2 TRG vorliegt, ist eine Frage, zu deren Beantwortung die Beiziehung eines medizinischen Sachverständigen geboten ist. In diesem Sinn bestimmt auch § 25 Abs. 3 TRG, dass vor einer Entscheidung über einen Antrag auf Gewährung von Rehabilitationsmaßnahmen "der Amtsarzt und bei Bedarf weitere Sachverständige zu hören" sind.
In der Begründung des angefochtenen Bescheides wird zwar darauf hingewiesen, der Amtsarzt sei zu dem Ergebnis gelangt, es liege eine Behinderung nicht vor. Es werden aber die Gründe, aus denen der Amtsarzt aus der vorliegenden (vom Beschwerdeführer beigebrachten) Befundlage - im Gegensatz zu den vom Beschwerdeführer befassten Sachverständigen - das Vorliegen einer Behinderung iSd TRG verneinte, nicht dargelegt.
Aus den vorgelegten Verwaltungsakten ist eine Befassung des Amtsarztes bzw. eines anderen medizinischen Amtssachverständigen überhaupt nicht ersichtlich. Vielmehr heißt es in einem Aktenvermerk vom , "der Fall" sei in einer "Clearingsitzung" besprochen worden, und weiters - ohne nähere Begründung -, aus den vorliegenden Befundberichten sei keine Behinderung iSd TRG ableitbar. Weder ist jedoch ersichtlich, dass an dieser "Clearingsitzung" der Amtsarzt oder ein anderer medizinischer Sachverständiger teilgenommen hätte, noch, dass die Auffassung, aus den vorgelegten Befundberichten sei keine Behinderung des Beschwerdeführers iSd TRG ableitbar, auf der Grundlage medizinischen Fachwissens gewonnen worden wäre.
Die belangte Behörde weist nun in ihrer Gegenschrift darauf hin, dass es sich bei der "Clearingsitzung" um eine Koordinationsstelle der Rehabilitationsträger handle, der verschiedene Fachvertreter angehörten und deren Zweck es sei, "Grenzfälle" an Hand von ärztlichen Gutachten der Gebietskrankenkasse (bei Krankheit) bzw. der Landesregierung (bei Behinderung) zuzuordnen. Der Klient erspare sich dadurch unnötige Wege.
Dieses Vorbringen ändert allerdings - abgesehen davon, dass Ausführungen in der Gegenschrift dem angefochtenen Bescheid anhaftende Begründungsmängel nicht sanieren (vgl. z.B. das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2010/10/0098) nichts daran, dass eine medizinisch fundierte Begründung für die dem angefochtenen Bescheid zu Grunde liegende Auffassung, beim Beschwerdeführer bestehe im Gegensatz zu den von ihm vorgelegten Unterlagen keine Behinderung iSd TRG, weder aus dem Bescheid selbst ersichtlich ist noch den vorgelegten Verwaltungsakten entnommen werden kann.
Die belangte Behörde hat somit, indem sie eine ordnungsgemäße Begründung des angefochtenen Bescheides schuldig blieb, Verfahrensvorschriften verletzt, bei deren Einhaltung sie zu einem anderen Verfahrensergebnis hätte gelangen können (vgl. das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2009/10/0009). Sie hat den angefochtenen Bescheid daher mit Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften belastet, was gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und lit. c VwGG zu seiner Aufhebung zu führen hatte.
Der Spruch über den Aufwandersatz gründet auf den §§ 47ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung, BGBl. II Nr. 455/2008, insbesondere deren § 3 Abs. 2.
Wien, am
Fundstelle(n):
HAAAE-77632