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VwGH vom 17.04.2013, 2012/22/0235

VwGH vom 17.04.2013, 2012/22/0235

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Bernegger, die Hofräte Dr. Robl und Mag. Eder, die Hofrätin Mag. Dr. Maurer-Kober und den Hofrat Dr. Mayr als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Perauer, über die Beschwerde des M, vertreten durch Mag. Dr. Ralf Heinrich Höfler, Rechtsanwalt in 1090 Wien, Türkenstraße 25/11, gegen den Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien vom , Zl. E1/362.390/2010, betreffend Aufenthaltsverbot, zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.326,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid erließ die belangte Behörde gegen den Beschwerdeführer, einen türkischen Staatsangehörigen, gemäß § 87 iVm § 86 Abs. 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 - FPG ein auf sechs Jahre befristetes Aufenthaltsverbot.

Zur Begründung verwies die belangte Behörde im Wesentlichen darauf, dass der Beschwerdeführer am eine österreichische Staatsbürgerin türkischer Abstammung geheiratet habe, wenig später nach Österreich eingereist sei und einen Aufenthaltstitel beantragt habe. Kurz nach Erteilung eines Niederlassungsnachweises sei diese Ehe am geschieden worden.

Da die frühere Ehefrau des Beschwerdeführers in den Verdacht geraten sei, außer den Beschwerdeführer noch zwei weitere Männer "zum Schein" geheiratet zu haben, seien polizeiliche Ermittlungen aufgenommen worden. An der Wohnanschrift habe eine Frau angetroffen werden können, die seit über 30 Jahren in diesem Haus wohne. Diese habe sich über die "Gattin" gut informiert gezeigt und gewusst, dass diese mit ihrem Ex-Mann und Vater ihrer vier Kinder immer wieder Probleme wegen der Alimente und auch einmal einen Freund gehabt hätte, den sie hin und wieder gesehen hätte. Den Beschwerdeführer und auch die beiden nachfolgenden Ehemänner habe sie auf vorgelegten Lichtbildern nicht wiedererkennen können und habe bestritten, diese jemals gesehen zu haben. Sie habe ausgeschlossen, dass der Beschwerdeführer jemals in der Wohnung seiner damaligen Ehefrau gewohnt hätte. Dies habe eine weitere Nachbarin bestätigt.

Die damalige Ehefrau des Beschwerdeführers sei am vernommen worden und habe das Vorliegen einer "Scheinehe" mit dem Beschwerdeführer bestritten. Sie hätte sich von ihm scheiden lassen, weil er eine andere, jüngere Frau genommen hätte und er außerdem zu jung für sie gewesen wäre.

"Solcherart" habe die Erstbehörde zu Recht festgestellt, dass der Beschwerdeführer eine "Scheinehe" eingegangen sei, um einen Aufenthaltstitel und den Zugang zum heimischen Arbeitsmarkt zu erwirken. Es widerspreche jeglicher Lebenserfahrung, dass zwei informierte Hausbewohner, die die damalige Ehefrau sehr wohl gekannt hätten, den Beschwerdeführer nur deshalb nicht kennen sollten, weil dieser einer regelmäßigen Beschäftigung nachgegangen (und deshalb im Haus nicht wahrzunehmen gewesen) wäre. Weiters sei die Ehefrau mehr als neun Jahre älter als der Beschwerdeführer gewesen, was angesichts des kulturellen Hintergrunds der Ehepartner wohl als ungewöhnlich bezeichnet werden könne. Auch sei die Ehefrau jahrelang Notstandshilfebezieherin gewesen, was hinsichtlich österreichischer Ehepartner bei Scheinehen ein überaus häufig anzutreffendes Phänomen darstelle.

Von der Vernehmung der geltend gemachten Zeugen sei abzusehen gewesen. Zum einen stehe die rechtliche Würdigung eines Sachverhalts einem Zeugen nicht zu, zum anderen zeige der Beschwerdeführer keinen - gegebenenfalls durch die Aussage der Zeugen belegbaren - auf ein gelebtes gemeinsames Familienleben hindeutenden konkreten Umstand auf. Weiters sei auch die nachfolgende Ehe der früheren Ehefrau des Beschwerdeführers als "Scheinehe" festgestellt und gegen den betreffenden Fremden ein Aufenthaltsverbot erlassen worden.

Somit sei der in § 60 Abs. 2 Z 9 FPG normierte Sachverhalt verwirklicht. Das Fehlverhalten des Beschwerdeführers gefährde tatsächlich, gegenwärtig und erheblich maßgebliche öffentliche Interessen, weshalb die Voraussetzungen zur Erlassung des Aufenthaltsverbotes gegeben seien.

Der Beschwerdeführer sei seit mit einer österreichischen (vormals türkischen) Staatsangehörigen verheiratet, der Ehe entstamme ein am geborenes Kind. Mit dem Aufenthaltsverbot sei zweifelsfrei ein Eingriff in das Privat- und Familienleben des Beschwerdeführers verbunden. Dieser Eingriff sei jedoch zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung auf dem Gebiet des Fremdenwesens dringend geboten und zulässig. Dem Aufenthalt und sämtlichen Beschäftigungsverhältnissen des Beschwerdeführers liege grob rechtsmissbräuchliches Verhalten zu Grunde, weshalb die ihm solcherart zuzuschreibende Integration entsprechend relativiert zu betrachten sei. Zweifelsfrei erschienen die familiären Bindungen zur Ehefrau und zum gemeinsamen Kind gewichtig. Familiäre Bindungen könne er, wenn auch eingeschränkt, vom Ausland aus aufrechterhalten und allfälligen Sorgepflichten vom Ausland aus nachkommen. Der Beschwerdeführer sei ein erwachsener, offenbar gesunder Mann im arbeitsfähigen Alter, weshalb ihm eine Reintegration in seiner Heimat durchaus zuzumuten sei.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde nach Aktenvorlage samt Gegenschrift durch die belangte Behörde erwogen:

Eingangs ist anzumerken, dass angesichts der Zustellung des angefochtenen Bescheides im November 2010 die Bestimmungen des FPG in der Fassung BGBl. I Nr. 135/2009 maßgebend sind.

In der Beschwerde wird vorgebracht, dass dem Beschwerdeführer zweifelsfrei die Rechtsstellung gemäß Art. 6 oder Art. 7 ARB zukomme und somit über die gegenständliche Berufung nicht die belangte Behörde, sondern der Unabhängige Verwaltungssenat für das Bundesland Wien zu entscheiden gehabt hätte.

Dem ist zu entgegnen, dass grundsätzlich eine durch eine Aufenthaltsehe rechtsmissbräuchlich erlangte Bewilligung zum Aufenthalt und zur Beschäftigung in Österreich nicht zu einer Berechtigung nach Art. 6 des Beschlusses des - durch das Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei errichteten - Assoziationsrates vom , Nr. 1/80, über die Entwicklung der Assoziation (ARB) führen kann (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom , 2007/18/0005). In einem solchen Verfahren durfte - ein mängelfreies Verfahren vorausgesetzt - die Sicherheitsdirektion ein Aufenthaltsverbot verhängen (vgl. das hg. Erkenntnis vom , 2006/21/0373).

Soweit in einem nachträglichen Schriftsatz unter Hinweis auf das hg. Erkenntnis vom , 2011/22/0097, neuerlich Unzuständigkeit der belangten Behörde geltend gemacht wird, ist auch dies nicht zielführend, weil das Erfordernis eines Tribunals im Anwendungsbereich der Richtlinie 2008/115/EG (erst) solche Bescheide betrifft, die nach Ablauf der Umsetzungsfrist der genannten Richtlinie mit erlassen wurden. Der hier angefochtene Bescheid wurde jedoch bereits am zugestellt und somit erlassen.

Mit dem Hinweis, dass die belangte Behörde die namhaft gemachten Zeugen nicht vernommen habe, zeigt die Beschwerde aber zutreffend einen dem angefochtenen Bescheid anhaftenden Verfahrensmangel auf.

Der Beschwerdeführer hat die Vernehmung namentlich genannter Zeugen zum Beweis "für das Vorbringen in der Berufung und wider der Annahme, wonach die Ehe lediglich zum Schein geschlossen wurde" beantragt. Die belangte Behörde begründet die Unterlassung der Vernehmung der Zeugen damit, dass der Beschwerdeführer keine konkreten Umstände als Beweisthema angegeben habe, mit denen die Annahme des Vorliegens einer Aufenthaltsehe in Frage hätte gestellt werden können.

Diesem Einwand kommt unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falls jedoch keine Berechtigung zu. Die belangte Behörde hat erst im Jahr 2010 Erhebungen gepflogen, ob die in den Jahren 2001 bis 2003 aufrecht gewesene Ehe des Beschwerdeführers eine Aufenthaltsehe war. Zu der diesbezüglichen Feststellung verwertete sie eine Befragung zweier Hausbewohner, die angegeben haben, den Beschwerdeführer nicht im Haus gesehen zu haben. Weiters befragte die belangte Behörde die damalige Ehefrau des Beschwerdeführers mit dem Vorhalt, dass eine spätere Ehe rechtskräftig als Aufenthaltsehe festgestellt worden sei. Die belangte Behörde begnügte sich mit der Aussage, dass die Ehe keine Scheinehe gewesen wäre, der Beschwerdeführer eine jüngere Frau genommen hätte und zu jung für die damalige Ehefrau gewesen wäre. Darüber hinaus hat sie jegliche Ermittlungstätigkeit hinsichtlich von Umständen unterlassen, die eine Ehe als Aufenthaltsehe qualifizieren können. So wurde die damalige Ehefrau des Beschwerdeführers etwa nicht zu den Umständen der Eheschließung und zu einem anschließenden Familienleben befragt. Obwohl der Beschwerdeführer ein Foto vorgelegt hat, das ihn und seine damalige Ehefrau bei der Hochzeitsfeier seines Bruders in der Türkei zeigt, bezog die belangte Behörde dieses Foto in keiner Weise in ihre Beweiswürdigung ein und stellte auch sonst keine konkreten Ermittlungen zum Vorliegen oder Nichtvorliegen eines Familienlebens an. Allein die Vernehmung zweier Hausparteien über einen sieben Jahre zurückliegenden Sachverhalt stellt keine ordnungsgemäße Ermittlungstätigkeit zum Vorliegen einer Aufenthaltsehe dar. Die belangte Behörde hat somit den angefochtenen Bescheid mit einem relevanten Verfahrensmangel belastet.

Dazu kommt, dass der Bindung eines Fremden an einen österreichischen Ehepartner im Rahmen der Abwägung nach Art. 8 EMRK große Bedeutung zukommt. In einem solchen Fall müssen nähere Feststellungen zu den Lebensverhältnissen des Fremden und seines Ehepartners sowie zur Möglichkeit der Führung eines Familienlebens außerhalb Österreichs getroffen werden (vgl. etwa die hg. Erkenntnis vom , 2011/23/0301, und vom , 2012/22/0218) . Diesen Anforderungen entspricht der angefochtene Bescheid nicht, der konkrete Feststellungen zu dem seit dem Jahr 2008 geführten Familienleben des Beschwerdeführers mit einer österreichischen Staatsbürgerin und einem gemeinsamen Kind vermissen lässt. Im Übrigen wird die Behörde allfällig auch die Gefährdungsprognose aktuell vorzunehmen haben.

Wegen dieser vorrangig wahrzunehmenden Rechtswidrigkeit war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG aufzuheben.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

Wien, am