TEL.: +43 1 246 30-801  |  E-MAIL: support@lindeverlag.at
Suchen Hilfe
VwGH vom 05.07.2012, 2012/21/0034

VwGH vom 05.07.2012, 2012/21/0034

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Novak und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Dobner, über die Beschwerde des M in W, vertreten durch Mag. Nadja Lorenz, Rechtsanwältin in 1070 Wien, Kirchengasse 19, gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates Wien vom , Zl. UVS- 01/17/5194/2011-3, betreffend Schubhaft (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der aus Eritrea stammende Beschwerdeführer reiste am aus Italien, wo er zumindest zwei Jahre lang gelebt und - ebenso wie bei einem zwischenzeitig erfolgten Aufenthalt in Deutschland - einen Antrag auf Gewährung von Asyl gestellt hatte, illegal nach Österreich ein. Hier hielt er sich bis zu seiner Festnahme am unangemeldet und ohne mit den Behörden in Kontakt zu treten auf.

Mit - am selben Tag in Vollzug gesetztem - Bescheid vom ordnete die Bundespolizeidirektion Wien über ihn gemäß § 76 Abs. 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 - FPG die Schubhaft zur Sicherung des Verfahrens zur Erlassung eines Aufenthaltsverbotes sowie der Abschiebung nach § 46 FPG an. Begründend verwies sie darauf, dass der Beschwerdeführer ohne Visum oder Aufenthaltsberechtigung in das Bundesgebiet eingereist sei und sich hier nicht rechtmäßig aufhalte. Auch vermöge er nicht den Besitz der Mittel zu seinem Unterhalt nachzuweisen. Die Anordnung eines gelinderen Mittels gemäß § 77 FPG sei nicht in Betracht gekommen, weil kein Grund zur Annahme bestehe, dass der Zweck der Schubhaft durch dessen Anwendung erreicht werden könnte. Der Beschwerdeführer sei in Österreich unangemeldet aufhältig gewesen und habe sich bis zu seiner Festnahme im Verborgenen aufgehalten. Auch verfüge er über kein Reisedokument oder einen sonstigen Identitätsnachweis. Er weise "zum österreichischen Bundesgebiet" weder familiäre, berufliche oder sonstige Bindungen auf, sodass eine Integration fehle.

Mit - unbekämpft in Rechtskraft erwachsenem - Bescheid vom erließ die Bundespolizeidirektion Wien sodann gegenüber dem Beschwerdeführer gemäß § 60 Abs. 1 und 2 Z. 7 FPG, also gestützt auf seine Mittellosigkeit, ein auf die Dauer von fünf Jahren befristetes Aufenthaltsverbot.

Am erhob der Beschwerdeführer erstmals eine Schubhaftbeschwerde. Mit Bescheid vom wies die belangte Behörde diese Beschwerde gemäß § 83 FPG als unbegründet ab und stellte fest, dass die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen weiterhin vorlägen. In ihrer Begründung bejahte die belangte Behörde das Vorliegen des im Schubhaftbescheid dargelegten Sicherungsbedarfs und verneinte das Ausreichen einer Anwendung gelinderer Mittel zu dessen Abdeckung. Gemäß § 80 Abs. 4 Z. 1 FPG könne die Schubhaft aufrecht erhalten werden, sofern der Fremde nicht abgeschoben werden könne, weil die Feststellung seiner Identität und Staatsangehörigkeit nicht möglich sei.

Am beantragte der - nach wie vor in Schubhaft angehaltene - Beschwerdeführer die Gewährung von internationalem Schutz.

Am teilte das Bundesasylamt der Fremdenpolizeibehörde gemäß § 29 Abs. 3 Z. 4 AsylG 2005 mit, es sei beabsichtigt, den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz zurückzuweisen. Es würden nämlich seit "Dublinkonsultationen" mit Italien geführt.

Mit Bescheid vom wies das Bundesasylamt den erwähnten Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig zurück und sprach aus, dass für die Prüfung des gegenständlichen Antrages gemäß Art. 16/2 der Verordnung Nr. 343/2003 (EG) des Rates (Dublin II-Verordnung) Italien zuständig sei. Gleichzeitig wies es den Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs. 1 Z. 1 AsylG 2005 aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Italien aus und stellte fest, dass demzufolge seine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Italien gemäß § 10 Abs. 4 leg. cit. zulässig sei. In der Folge hielt die Fremdenpolizeibehörde mit Aktenvermerk vom fest, dass sich die vorliegende Schubhaft nach § 76 Abs. 2 Z. 1 FPG richte.

Der Beschwerdeführer erhob gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom rechtzeitig Beschwerde. Dieser wurde mit Beschluss des Asylgerichtshofes vom gemäß § 37 Abs. 1 AsylG 2005 die aufschiebende Wirkung zuerkannt. Mit Erkenntnis vom behob der Asylgerichtshof den genannten Bescheid gemäß § 41 Abs. 3 AsylG 2005. Er hielt eine nähere Prüfung für erforderlich, ob vom Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II-Verordnung Gebrauch zu machen sei. Der Beschwerdeführer habe nämlich vorgebracht, er hätte in Italien einen Aufenthaltstitel aus humanitären Gründen erhalten, jedoch sei ihm weder Versorgung, Unterkunft noch medizinische Betreuung gewährt worden, sodass er auf der Straße habe schlafen und sich von Abfällen anderer Menschen habe ernähren müssen. Insoweit erwiesen sich die "Länderfeststellungen" und die Ausführungen des Bundesasylamtes zum Aufenthaltsstatus des Beschwerdeführers in Italien als unzureichend. Auch sei, obgleich der Beschwerdeführer vorgebracht habe, an Asthma und Diabetes zu leiden sowie psychische Probleme zu haben, seine Überstellungsfähigkeit nach Italien ungeprüft geblieben.

Am hatte der Beschwerdeführer eine (zweite) Schubhaftbeschwerde - erkennbar bezogen auf seine Anhaltung ab - erhoben. Diese wies die belangte Behörde mit Bescheid vom gemäß § 83 FPG als unbegründet ab und stellte fest, dass die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorlägen. Die Behandlung einer dagegen erhobenen Beschwerde wurde mit Beschluss vom heutigen Tag, Zl. 2011/21/0106, abgelehnt.

Am brachte der - nach wie vor seit in Schubhaft angehaltene - Beschwerdeführer neuerlich eine (dritte) Schubhaftbeschwerde, erkennbar bezogen auf seine Anhaltung ab , ein. Darin verwies er darauf, dass der Asylgerichtshof seiner Beschwerde gegen die Zurückweisung seines Asylantrages mit Beschluss vom die aufschiebende Wirkung zuerkannt habe. Es könne daher nicht mehr davon ausgegangen werden, dass seine Überstellung nach Italien in naher Zukunft zu erwarten sei. Auch bestünde kein Grund zur Annahme, dass er sich dem fremdenpolizeilichen Verfahren entziehen würde. Ebenso sei kein Grund dafür ersichtlich, weshalb er sich dem Asylverfahren, dessen Ausgang er in einer Grundversorgungsstelle des Bundes untergebracht abwarten könnte, entziehen sollte. Dies hätte nämlich eine Einstellung des Asylverfahrens zur Folge, sodass es schon deshalb nicht zu dem von ihm angestrebten Selbsteintritt Österreichs bei der Prüfung der inhaltlichen Berechtigung seines Asylbegehrens käme. Allgemeine Annahmen oder "Erfahrungswerte" reichten nicht aus, um die Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit einer Freiheitsentziehung im Einzelfall zu begründen. Mittlerweile habe sich auch sein Gesundheitszustand (bisher angeführt waren Erkrankungen an Asthma und Diabetes sowie psychische Probleme) maßgeblich verschlechtert. Er habe suizidale Gedanken, sodass nicht ausgeschlossen werden könne, dass er Gewalt gegen die eigene Person anwende. Schließlich seien auch die Möglichkeit und das Ausreichen einer Anwendung gelinderer Mittel, vor allem im Rahmen der Grundversorgung, ungeprüft geblieben.

Nach eigenem, vor dem Verwaltungsgerichtshof erstatteten Vorbringen wurde der Beschwerdeführer am aus der Schubhaft entlassen. Aus dem im Verwaltungsakt erliegenden Entlassungsschein geht eine Anordnung der Enthaftung erst am hervor.

Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom wies die belangte Behörde die Beschwerde gemäß § 83 Fremdenpolizeigesetz 2005 - FPG als unbegründet ab und stellte fest, dass die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorlägen.

Begründend verwies sie auf die zu erwartende fehlende Kooperation des Beschwerdeführers trotz des anhängigen Asylverfahrens und führte näher aus, der Schubhafttatbestand des § 76 Abs. 2 Z. 1 FPG sei - ungeachtet der Zuerkennung aufschiebender Wirkung durch den Asylgerichtshof - nach wie vor zu bejahen. Gegen den Beschwerdeführer bestehe ein rechtskräftiges Aufenthaltsverbot und eine durchsetzbare Ausweisung nach § 10 AsylG 2005. Eine Entscheidung des - insoweit angerufenen - Asylgerichtshofes sei kurzfristig zu erwarten, sodass einer baldigen Überstellung des Beschwerdeführers nach Italien auf Grund der bereits durchgeführten Konsultationen keine Hindernisse entgegenstünden. Der Beschwerdeführer habe deutlich zum Ausdruck gebracht, dass er nicht bereit sei, nach Italien zurückzukehren. Dem Vorbringen zur Verschlechterung seines Gesundheitszustandes sei zu entgegnen, dass die Haftfähigkeit in Schubhaft notorisch durch Amtsärzte laufend überwacht werde. Es sei daher davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer uneingeschränkt haftfähig sei. Aktuelle Befunde, die diese Annahme widerlegen könnten, lägen nicht vor. Für eine Haftunfähigkeit hätten sich auch "auf Grund des eher allgemein gehaltenen Vorbringens" keine Anhaltspunkte ergeben. Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung habe unterbleiben können, weil der Sachverhalt auf Grundlage des Verwaltungsaktes und des Beschwerdevorbringens ausreichend geklärt erscheine.

Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der deren Behandlung mit Beschluss vom , B 770/11-10, ablehnte und sie mit weiterem Beschluss vom dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat.

Über die im vorliegenden Verfahren ergänzte Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage durch die belangte Behörde erwogen:

Zunächst wäre angesichts der bereits mehr als fünfmonatigen Dauer der Schubhaft eine nähere Abklärung geboten gewesen, ob diese auch unter Berücksichtigung des Fortganges der "Dublinkonsultationen mit Italien" und des Asylverfahrens noch als verhältnismäßig angesehen werden konnte (vgl. dazu etwa das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2008/21/0527, mwN).

Dazu kommt, dass die belangte Behörde ihre Feststellung zur uneingeschränkten Haftfähigkeit des Beschwerdeführers nicht auf Grund eines mängelfreien Verfahrens getroffen hat: Der Beschwerdeführer hat - zuletzt in der am eingebrachten Administrativbeschwerde - massive psychische Probleme näher beschrieben. Den vorgelegten Verwaltungsakten ist keine Grundlage zu entnehmen, die geeignet wäre, dieses Vorbringen zu widerlegen. Die bestrittene Haftfähigkeit wäre daher von der belangten Behörde näher zu prüfen gewesen.

Dem Unterbleiben dieser Prüfung kann Relevanz für den Ausgang des Verfahrens zukommen. Einerseits wäre die Vollstreckung der Schubhaft trotz Haftunfähigkeit gesetzwidrig. Andererseits könnte eine erhebliche Beeinträchtigung des Gesundheitszustandes, selbst wenn daraus keine Haftunfähigkeit resultiert hätte, im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung zum Ergebnis führen, dass unter Berücksichtigung des psychischen Zustandes des (unbestritten an Asthma und Diabetes leidenden) Beschwerdeführers und der bisherigen Dauer der Schubhaft die Anwendung gelinderer Mittel ausreichend gewesen wäre (vgl. dazu etwa das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2011/21/0066, mwN).

Auf Grund des eingangs dargelegten Fehlens einer Abklärung der Verhältnismäßigkeit der Haft war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG wegen prävalierender Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008. Wien, am