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VwGH vom 24.04.2018, Ra 2018/03/0008

VwGH vom 24.04.2018, Ra 2018/03/0008

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Präsident Dr. Thienel und die Hofräte Dr. Handstanger, Dr. Lehofer, Mag. Nedwed und Mag. Samm als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Dr. Zeleny, über die Revision des Mag. R H in I, vertreten durch Dr. Roland Kometer, Rechtsanwalt in 6020 Innsbruck, Maria-Theresien-Straße 5/II, gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts Tirol vom , LVwG- 2017/23/1739-10, betreffend eine Maßnahmenbeschwerde in einer Angelegenheit des Tiroler Landes-Polizeigesetzes (TLPG), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufgehoben.

Das Land Tirol hat der revisionswerbenden Partei Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 I. Gegenstand

2 A. Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Landesverwaltungsgericht Tirol (LVwG) nach § 28 Abs. 6 VwGVG iVm Art. 130 Abs. 1 Z 2 B-VG die Maßnahmenbeschwerde des Revisionswerbers wegen der Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt am gegen 22:15 Uhr durch Organe der Landespolizeidirektion Tirol als unbegründet ab.

3 Seiner Entscheidung legte das LVwG zusammengefasst folgenden Sachverhalt zugrunde:

4 Am Abend des hätten sich der Revisionswerber und sein Freund G neben zehn weiteren Personen im Gastgarten eines näher bezeichneten Lokals in I aufgehalten. Gegen 22:15 Uhr seien näher genannte Organe der Landespolizeidirektion Tirol aufgrund von Lärm zum Lokal beordert worden, wo diese zunächst die Kellnerin und den Wirt informiert hätten, dass es Beschwerden wegen Lärm gebe und sie ihre Gäste ersuchen sollten, sich ruhiger zu verhalten. Die Gäste seien dieser Aufforderung nachgekommen, nur der Revisionswerber habe sich weiterhin laut verhalten und sich in das Gespräch mit den einschreitenden Polizeibeamten eingemischt, worauf ein Streitgespräch zwischen dem Revisionswerber und den Polizeibeamten entstanden sei. Der Revisionswerber sei offenbar leicht alkoholisiert gewesen und habe zu den Polizeibeamten sinngemäß gesagt, sie sollten in einen näher genannten Park gehen, weil dort ein polizeiliches Einschreiten wichtiger sei als hier im Lokal, und er habe die Beamten weiters als "Rotzlöffel" beschimpft. Daraufhin sei der Revisionswerber von den Beamten zur Ausweisleistung aufgefordert und darüber informiert worden, dass er eine Verwaltungsübertretung nach § 1 und § 11 des Tiroler Landes-Polizeigesetzes (TLPG) begangen habe und daher seine Identität festgestellt werden müsse. Der Revisionswerber habe jedoch keinen Ausweis bei sich gehabt und es sei auch keine der im Lokal anwesenden Personen als Identitätszeuge herangezogen worden. Die Heranziehung eines solchen Identitätszeugen habe der Revisionswerber auch nicht vorgeschlagen. Die Polizeibeamten hätten ihn daraufhin aufgefordert, mit auf die Polizeiinspektion zu kommen. Eine Festnahme sei nicht explizit ausgesprochen worden, jedoch sei dem Revisionswerber mitgeteilt worden, dass es zu einer Festnahme kommen würde, sollte er nicht freiwillig mitkommen. Der Revisionswerber habe darauf erwidert, wenn er müsse, dann würde er mitkommen. Der Revisionswerber sei daraufhin in den Streifenwagen der Polizeibeamten gestiegen und auf die Polizeiinspektion verbracht worden, wo die Identität des Revisionswerbers mittels Abfrage des Führerscheinregisters hätte geklärt werden können. Nach wenigen Minuten habe der Revisionswerber die Polizeiinspektion wieder verlassen dürfen.

5 Rechtlich führte das Verwaltungsgericht aus, dass die an den Revisionswerber gerichtete Aufforderung der einschreitenden Beamten, mitzukommen, als Festnahme iSd § 35 VStG zu werten sei, weil der Revisionswerber Gefahr gelaufen sei, unverzüglich physischer Zwangsgewalt unterworfen zu werden, hätte er der Aufforderung nicht Folge geleistet. Die Organe seien im konkreten Fall berechtigt gewesen, den Revisionswerber festzunehmen, weil er auf frischer Tat betreten worden sei, er den Organen unbekannt gewesen sei und sich nicht hätte ausweisen können. Den Beamten sei es in Anbetracht der Umstände nicht zumutbar gewesen, sämtliche im Lokal anwesenden Personen, welche zumindest teilweise alkoholisiert gewesen seien, nach der Identität des Revisionswerbers zu befragen. Der Revisionswerber hätte dahingehend mitwirken müssen, als er den Beamten eine konkrete Person hätte anbieten müssen, welche im Stande gewesen wäre, seine Identität zu bezeugen. Derartiges sei seitens des Revisionswerbers im Zuge der Amtshandlung nicht thematisiert worden, weshalb seine Identität "auch sonst nicht sofort feststellbar" iSd § 35 VStG gewesen sei. Die Verbringung des Revisionswerbers auf die Polizeiinspektion sei daher mangels Verfügbarkeit gelinderer Mittel zu Recht erfolgt und zudem verhältnismäßig gewesen.

6 B. Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, mit der insbesondere begehrt wird, dieses wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts, in eventu infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften kostenpflichtig aufheben.

7 In der Zulässigkeitsbegründung bringt der Revisionswerber im Wesentlichen vor, das LVwG habe sich mit der im angefochtenen Erkenntnis vertretenen Rechtsansicht, es sei den Beamten nicht zumutbar gewesen, sämtliche im Lokal anwesenden Personen nach der Identität des Revisionswerbers zu befragen und dass der Revisionswerber dahingehend mitwirken hätte müssen, als er den Beamten eine konkrete Person zur Identitätsfeststellung hätte anbieten müssen, von der geltenden gesetzlichen Lage entfernt. Die Sicherheitsbehörden und die Organe des Sicherheitsdienstes hätten von sich aus von mehreren zielführenden Befugnissen jene auszuwählen, die voraussichtlich die Betroffenen am wenigstens beeinträchtigen würde. Es könne daher nicht an der betretenen Person liegen, von sich aus gelindere Mittel vorzuschlagen. Eine ziellose Befragung sämtlicher Gäste im Lokal sei den einschreitenden Beamten nicht zumutbar gewesen, jedoch hätten diese zumindest den Revisionswerber befragen müssen, ob anwesende Personen seine Identität bezeugen könnten.

8 Die belangte Behörde hat im vom Verwaltungsgerichtshof eingeleiteten Vorverfahren keine Revisionsbeantwortung erstattet.

9 II. Rechtslage

10 A. Die hier maßgeblichen Bestimmungen des Bundesverfassungsgesetzes über den Schutz der persönlichen Freiheit, BGBl. Nr. 684/1988 idF BGBl. I Nr. 2/2008 (PersFrG), lauten (auszugsweise) wie folgt:

"Artikel 1

(1) Jedermann hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit (persönliche Freiheit).

(2) Niemand darf aus anderen als den in diesem Bundesverfassungsgesetz genannten Gründen oder auf eine andere als die gesetzlich vorgeschriebene Weise festgenommen oder angehalten werden.

(3) Der Entzug der persönlichen Freiheit darf nur gesetzlich vorgesehen werden, wenn dies nach dem Zweck der Maßnahme notwendig ist; die persönliche Freiheit darf jeweils nur entzogen werden, wenn und soweit dies nicht zum Zweck der Maßnahme außer Verhältnis steht.

(4) Wer festgenommen oder angehalten wird, ist unter Achtung der Menschenwürde und mit möglichster Schonung der Person zu behandeln und darf nur solchen Beschränkungen unterworfen werden, die dem Zweck der Anhaltung angemessen oder zur Wahrung von Sicherheit und Ordnung am Ort seiner Anhaltung notwendig sind."

"Artikel 2

(1) Die persönliche Freiheit darf einem Menschen in folgenden Fällen auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden:

...

3. zum Zweck seiner Vorführung vor die zuständige Behörde

wegen des Verdachtes einer Verwaltungsübertretung, bei der er auf frischer Tat betreten wird, sofern die Festnahme zur Sicherung der Strafverfolgung oder zur Verhinderung weiteren gleichartigen strafbaren Handelns erforderlich ist;

..."

11 B. Die relevanten Bestimmungen des VStG

(§ 35 idF BGBl. Nr. 52/1991; § 37a idF BGBl. I Nr. 33/2013) lauten

wie folgt:

"Festnahme

§ 35. Die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes

dürfen außer in den gesetzlich besonders geregelten Fällen

Personen, die auf frischer Tat betreten werden, zum Zweck ihrer

Vorführung vor die Behörde festnehmen, wenn

1. der Betretene dem anhaltenden Organ unbekannt ist, sich

nicht ausweist und seine Identität auch sonst nicht sofort

feststellbar ist oder

2. begründeter Verdacht besteht, daß er sich der

Strafverfolgung zu entziehen suchen werde, oder

3. der Betretene trotz Abmahnung in der Fortsetzung der

strafbaren Handlung verharrt oder sie zu wiederholen sucht.

...

Sicherheitsleistung

...

§ 37a. (1) Die Behörde kann besonders geschulte Organe

des öffentlichen Sicherheitsdienstes ermächtigen, von Personen,

die auf frischer Tat betreten werden, eine vorläufige Sicherheit

einzuheben,

1. wenn die Voraussetzungen des § 35 Z 1 und 2 für eine

Festnahme vorliegen oder

2. wenn andernfalls

a) die Strafverfolgung oder die Strafvollstreckung

erheblich erschwert sein könnte oder

b) die Strafverfolgung oder die Strafvollstreckung einen

Aufwand verursachen könnte, der gemessen an der Bedeutung des strafrechtlich geschützten Rechtsgutes und der Intensität seiner Beeinträchtigung durch die Tat unverhältnismäßig wäre.

Besondere Ermächtigungen in den Verwaltungsvorschriften bleiben unberührt. § 50 Abs. 1 letzter Satz, Abs. 3, Abs. 5, Abs. 6 erster Satz sowie Abs. 8 sind sinngemäß anzuwenden.

(2) Die vorläufige Sicherheit darf das Höchstmaß der angedrohten Geldstrafe nicht übersteigen.

(3) Leistet der Betretene im Fall des Abs. 1 Z 2 die vorläufige Sicherheit nicht, so kann das Organ verwertbare Sachen, die dem Anschein nach dem Betretenen gehören und deren Wert das Höchstmaß der angedrohten Geldstrafe nicht übersteigt, als vorläufige Sicherheit beschlagnahmen. Hiebei ist mit möglichster Schonung der Person vorzugehen.

(4) Über die vorläufige Sicherheit oder die Beschlagnahme ist sofort eine Bescheinigung auszustellen. Die vorläufige Sicherheit ist der Behörde mit der Anzeige unverzüglich vorzulegen.

(5) Die vorläufige Sicherheit wird frei, wenn das Verfahren eingestellt wird oder die gegen den Beschuldigten verhängte Strafe vollzogen ist oder wenn nicht binnen zwölf Monaten gemäß § 37 Abs. 5 der Verfall ausgesprochen wird. § 37 Abs. 4 letzter Satz gilt sinngemäß."

12 C. Einschlägige Bestimmungen des Tiroler Landes-Polizeigesetzes, LGBl. Nr. 60/1976 idF LGBl. Nr. 56/2017 (TLPG; § 1 idF LGBL. Nr. 1/2014), lauten auszugsweise wie folgt:

"§ 1

Verbot

(1) Es ist verboten, ungebührlicherweise störenden Lärm zu erregen."

"§ 11

Verbot

(1) Es ist verboten, den öffentlichen Anstand zu verletzen.

(2) Als Verletzung des öffentlichen Anstandes gilt jedes Verhalten, das einen groben Verstoß gegen die in der Öffentlichkeit zu beachtenden allgemein anerkannten Grundsätze der Schicklichkeit darstellt."

"§ 13

Strafbestimmung

Wer den öffentlichen Anstand verletzt, begeht eine Verwaltungsübertretung und ist mit einer Geldstrafe bis zu 360,- Euro zu bestrafen."

13 III. Erwägungen

14 A. Zur Zulässigkeit

15 A. Entgegen der im Wesentlichen lediglich den Text des Art. 133 Abs. 4 B-VG paraphrasierenden Entscheidungsbegründung des LVwG ist die Revision zulässig, zumal das Verwaltungsgericht den sich aus der im Folgenden herangezogenen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ergebenden Leitlinien nicht die erforderliche Beachtung schenkte. Dies betrifft insbesondere die Bestimmung des § 35 Z 1 VStG im Hinblick auf die hier maßgebliche Frage, wann die Heranziehung von Zeugen zur Feststellung der Identität eines Betretenen geboten ist.

16 Die Revision ist auch berechtigt.

17 B. Zur Sache

18 B.a. Nach Art. 130 Abs. 1 Z 2 B-VG erkennen die Verwaltungsgerichte über Beschwerden gegen die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt. Die im Revisionsfall an den Revisionswerber ergangene Aufforderung der Polizeibeamten, auf die Polizeiinspektion mitzukommen, unter Inaussichtstellung der Festnahme bei Nichtbefolgung, stellt ungeachtet des Umstandes, dass eine Festnahme formal nicht ausgesprochen wurde, keine bloße Einladung dar, der der Revisionswerber nach eigenem Gutdünken nicht hätte folgen müssen; vielmehr wäre er bei Nichtbefolgung Gefahr gelaufen, unverzüglich physischem (Polizei-)Zwang unterworfen zu werden. Das LVwG ist auf dem Boden der Rechtsprechung (vgl. ) somit zutreffend von einer Festnahme gemäß § 35 Z 1 VStG ausgegangen.

19 B.b.§ 35 Z 1 VStG normiert den Festnahmegrund der "mangelnden Identifizierbarkeit". Er setzt ungeachtet einer allenfalls verweigerten Ausweisleistung einen dem amtshandelnden Organ unbekannten Betretenen voraus, dessen Identität auch sonst (also anders als durch Ausweisleistung) nicht sofort feststellbar ist. Welche alternativen Methoden der Identitätsfeststellung in Betracht kommen, normiert das Gesetz nicht ausdrücklich. Nach dem Zweck der Vorschrift (Sicherung der Strafverfolgung; vgl. Art. 2 Abs. 1 Z 3 PersFrG) ist es freilich erforderlich, dass die Maßnahmen zur "sonstigen Identitätsfeststellung" ausreichende Verlässlichkeit bieten müssen, und zwar in einem solchen Maß, wie es üblicherweise durch Vorzeigen eines Ausweises erreicht wird. Allerdings dürfen - auch vor dem Hintergrund des allgemein für behördliches Handeln bestimmenden Verhältnismäßigkeitsgebotes (vgl. Art. 1 Abs. 3 PersFrG) - nicht zu strenge Anforderungen gestellt werden, weil andernfalls die Möglichkeit einer Identitätsfeststellung ohne Ausweis weitgehend leer liefe. In Betracht kommt daher etwa eine "Identitätsbezeugung" durch eine unbedenkliche dritte Person (vgl. näher , VwSlg. 15.936 A, mwH; vgl. dazu weiters Stöger, in Raschauer/Wessely, VStG2, 2016, § 35 VStG, Rz 9).

20 Intention der Regelung des § 35 VStG ist es unter diesem Gesichtspunkt, eine Festnahme zur Feststellung der Identität so lange zu vermeiden, bis alle möglichen Alternativen zur Identitätsfeststellung ausgeschöpft sind. Die Festnahme als Eingriff in das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht der persönlichen Freiheit darf nach Auffassung des Verfassungsgesetzgebers nur als ultima ratio nach Ausschluss anderer gelinderer Möglichkeiten - hier: zur Identitätsfeststellung - erfolgen; die persönliche Freiheit soll im Einzelfall nur in dem Maß entzogen werden dürfen, wenn und soweit dies zum Zweck der Maßnahme nicht außer Verhältnis steht (vgl. ErläutRV 134 BlgNR XVII. GP, 5). In diesem Sinn normiert Art. 1 Abs. 3 PersFrG, dass der Freiheitsentzug zu seinem Zweck nicht "außer Verhältnis" stehen darf und legt damit ein Verbot der Unverhältnismäßigkeit fest. Unter anderem muss der Freiheitsentzug insofern erforderlich sein, als kein weniger eingreifendes Mittel zur Verfügung steht. Ein Freiheitsentzug ist derart unzulässig, wenn sein Ziel durch nicht oder weniger belastende Maßnahmen erreicht werden könnte (vgl. Kopetzki in Machacek/Pahr/Stadler (Hrsg.), Grund- und Menschenrechte in Österreich, 3. Band, 1997, Das Recht auf persönliche Freiheit (PersFrG, Art. 5 EMRK), 344 ff; Kopetzki, Art. 1 PersFrG, in: Korinek/Holoubek u.a. (Hrsg.) Bundesverfassungsrecht, Rz 64 ff (2002), und ferner ders., Art. 2 PersFrG, a.a.O., Rz 39 ff (2001)). Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit macht daher auch hier bei Vorhandensein mehrerer geeigneter potenzieller Maßnahmen die Wahl der am wenigsten belastenden Maßnahme erforderlich (). Eine Maßnahme kann nur dann als erforderlich zur Erreichung des damit verfolgten Zieles gesehen werden, wenn gelindere (weniger eingriffsintensive) Mittel sich als nicht zielführend erweisen.

21 Vor diesem Hintergrund tritt zu § 35 Z 1 VStG (wie erwähnt) die Identitätsfeststellung durch Identitätszeugen als gegenüber einer Freiheitsentziehung durch eine Festnahme weniger belastende Maßnahme in den Blick (VwSlg. 15.936 A/2002). Ob diese Alternative der Identitätsfeststellung im Einzelfall möglich ist und geeignete Personen (mit bekannter bzw. umgehend eruierbarer Identität) als Identitätszeugen vorhanden sind, ist freilich von den einschreitenden Organwaltern ebenso situationsbedingt zu beurteilen wie überhaupt die Frage, ob alle Voraussetzungen für eine Festnahme nach § 35 Z 1 VStG gegeben sind. Es ist Aufgabe der einschreitenden Organwalter, sicherzustellen, dass eine von ihnen vorgenommene Festnahme rechtmäßig und damit auch verhältnismäßig ist. Derart hat ein Organwalter das Vorliegen der erforderlichen (sachverhaltsmäßigen) Voraussetzungen grundsätzlich selbst zu ermitteln und zu beurteilen. Schon von daher kann es entgegen dem LVwG nicht Voraussetzung für die Vornahme einer alternativen Identitätsfeststellung durch Zeugen sein, dass eine von der Amtshandlung iSd § 35 Z 1 VStG betroffene Person initiativ von sich aus solche Identitätszeugen benennt. Diese trifft allerdings im Hinblick auf die für die einschreitenden Organwalter in einer solchen Situation von vornherein typischerweise beschränkten Ermittlungsmöglichkeiten eine Mitwirkungspflicht bei der Ermittlung ihrer Identität und damit - auf entsprechende Aufforderung - auch die Obliegenheit zur Benennung situativ geeigneter Identitätszeugen.

22 B.c. Angesichts des diesbezüglich im Wesentlichen unstrittig festgestellten Sachverhaltes wurde der Revisionswerber von den einschreitenden Organwaltern, die mit gutem Grund die Verübung einer Verwaltungsübertretung annehmen konnten, auf frischer Tat iSd § 35 VStG betreten.

23 Ferner waren nach den ebenso insofern unstrittigen Feststellungen des LVwG bei der in Rede stehenden Amtshandlung mehrere Personen (so insbesondere der Freund des Revisionswerbers, die Kellnerin und der Wirt) im Lokal anwesend. Ausgehend von der dargestellten Rechtslage wäre es den einschreitenden Organwaltern unter Berücksichtigung der sich aus der angefochtenen Entscheidung ergebenden Gesamtsituation im vorliegenden Fall jedenfalls zumutbar gewesen, den Revisionswerber nach geeigneten Identitätszeugen zu befragen bzw. von sich aus etwa den Freund des Revisionswerbers, den Wirt oder die Kellnerin als mögliche Identitätszeugen heranzuziehen. Es liegt nicht außerhalb jeglicher Lebenserfahrung, dass die im Lokal anwesende Kellnerin oder der Wirt den Revisionswerber hätten kennen und über seine Identität Auskunft hätten geben können. Die vom LVwG artikulierte Vermutung alleine, die im Lokal anwesenden Personen wären alle zu alkoholisiert gewesen, um mit ausreichender Verlässlichkeit Identitätszeugen zu nennen bzw. die Identität des Revisionswerbers zu bezeugen, reicht im gegebenen Kontext nicht aus, um eine gänzliche Unterlassung der Eruierung der Identität des Revisionswerbers im Wege von Zeugen zu rechtfertigen. Auf dem Boden des unstrittigen Sachverhaltes ist (wie angesprochen) nicht erkennbar, dass den einschreitenden Beamten eine Befragung dieser Personen nicht zumutbar gewesen wäre. Bezeichnenderweise gab die Kellnerin bei der vom Verwaltungsgericht durchgeführten mündlichen Verhandlung an, dass sie den Revisionswerber namentlich kenne und ferner den Organwaltern Auskunft über seine Identität hätte geben können.

24 Die einschreitenden Organwalter hätten daher entgegen dem LVwG nicht ohne weiteres davon ausgehen dürfen, dass die Identität des Revisionswerbers "auch sonst nicht sofort feststellbar" gewesen sei (VwSlg. 15.936 A/2002). Weshalb von ihnen eine Befragung im dargestellten Sinn unterlassen wurde, ist nicht ersichtlich. Die Beamten hätten ausgehend von den Ergebnissen der Befragung die Glaubwürdigkeit bzw. Unbedenklichkeit der Identitätszeugen beurteilen können.

25 Ob der Revisionswerber selbst bei der Amtshandlung initiativ geeignete Maßnahmen zur Feststellung seiner Identität als Alternative zu seiner Festnahme anregte, ist nach dem Gesagten nicht entscheidend.

26 B.d. Zudem hat es das LVwG offensichtlich unterlassen, die Verhältnismäßigkeit der Festnahme unter dem Blickwinkel eines gelinderen Mittels nach § 37a Abs. 1 und 2 Z 1 VStG einer Prüfung zu unterziehen.

27 Demnach kann besonders geschulten Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes die Ermächtigung erteilt werden, von der Festnahme (insbesondere nach § 35 Z 1 VStG) abzusehen, wenn der Betretene einen festgesetzten Geldbetrag als vorläufige Sicherheit freiwillig erlegt.

28 Ob die Voraussetzungen für diese Vorgangsweise im gegenständlichen Fall vorlagen (womit eine dennoch ausgesprochene Festnahme unzulässig gewesen wäre), lässt sich weder den vorgelegten Akten noch der Begründung des bekämpften Erkenntnisses entnehmen ().

29 IV. Ergebnis

30 A. Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

B. Eine Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte im Grunde des § 39 Abs. 2 Z 4 VwGG sowie ferner auch nach § 39 Abs. 2 Z 6 VwGG unterbleiben, zumal das Verwaltungsgericht - ein Tribunal iSd EMRK bzw. ein Gericht iSd Art. 47 GRC - eine mündliche Verhandlung durchgeführt hat (vgl. ).

C. Der Spruch über den Aufwandersatz gründet auf §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am

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ECLI:
ECLI:AT:VWGH:2018:RA2018030008.L00
Schlagworte:
Auslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Verhältnis der wörtlichen Auslegung zur teleologischen und historischen Auslegung Bedeutung der Gesetzesmaterialien VwRallg3/2/2 Sachverhalt Sachverhaltsfeststellung Mitwirkungspflicht

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