VwGH vom 02.09.2019, Ra 2018/02/0123
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Beck sowie die Hofräte Dr. N. Bachler und Mag. Straßegger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Klima, LL.M., über die Revision der D in S, vertreten durch die Dr. Martin Wandl & Dr. Wolfgang Krempl Rechtsanwaltspartnerschaft (OG) in 3100 St. Pölten, Kremser Gasse 19, gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes Wien vom , Zl. VGW- 042/007/9096/2016-7, betreffend Übertretung arbeitnehmerschutzrechtlicher Vorschriften (Partei gemäß § 21 Abs. 1 Z 2 VwGG: Magistrat der Stadt Wien), zu Recht erkannt:
Spruch
1. Das angefochtene Erkenntnis wird, soweit es den Spruchpunkt 2. des Straferkenntnisses des Magistrats der Stadt Wien vom , Zl. MBA 13-S 24421/16, betrifft, wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
2. Hinsichtlich Spruchpunkt 1. dieses Straferkenntnisses wird die Revision als unbegründet abgewiesen.
Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Mit dem Straferkenntnis des Magistrats der Stadt Wien vom wurde die Revisionswerberin schuldig erkannt, sie habe es als verantwortliche Beauftragte gemäß § 9 Abs. 2 VStG der S.AG zu verantworten, dass diese Gesellschaft als Arbeitgeberin am in einer näher genannten Arbeitsstätte nicht dafür gesorgt habe, dass
1. die Fluchtwege nicht verstellt oder unter die erforderliche nutzbare Mindestbreite eingeengt werden, weil
a) der Fluchtweg zur Notausgangstür, welche vis-a-vis des Kassenbereiches situiert ist, durch Zweitplatzierungen (Blumen, Pflanzen,...) von 1,20m auf 0,80m eingeengt gewesen sei
b) der Fluchtweg von der Obst- und Gemüseabteilung zum Foyer durch die Aufstellung von Warenplatzierungen (Krautsalat, Blumen,...) auf ca. 0,80m und 0,40m eingeengt gewesen sei und
c) der Fluchtweg im Bereich beim Zugang zur Notausgangstür Richtung J.gasse, durch Warencolli (beladen mit Getränken) komplett verstellt gewesen sei sowie
d) der Fluchtweg im Non-Food-Bereich, Richtung Hausgang, durch Warencolli (beladen mit Toilettenpapier) ebenfalls komplett verstellt gewesen sei;
2. Notausgänge nicht verstellt oder unter die erforderliche Mindestbreite eingeengt werden, weil
a) die Notausgangstür vis-a-vis der Feinkostabteilung, Richtung J.gasse, durch Warencolli (beladen mit Getränken) komplett verstellt gewesen sei und
b) die Notausgangstür im Non-Food-Bereich, Richtung Hausgang, durch Warencolli (beladen mit Toilettenpapier) ebenfalls komplett verstellt gewesen sei.
Damit seien Verpflichtungen betreffend die Einrichtung und den Betrieb von Arbeitsstätten verletzt worden. Die Revisionswerberin habe dadurch zu
1. § 19 Abs. 1 Z 2 der Verordnung der Bundesministerin für Arbeit, Gesundheit und Soziales, mit der Anforderungen an Arbeitsstätten und an Gebäuden auf Baustellen festgelegt und die Bauarbeiterschutzverordnung geändert wird (Arbeitsstättenverordnung - AStV), BGBl. II Nr. 368/1998 iVm § 130 Abs. 1 Z 15 des Bundesgesetzes über Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeit (Arbeitnehmerlnnenschutzgesetz - ASchG), BGBl. Nr. 450/1994 idF BGBl. Nr. 457/1995 in der geltenden Fassung iVm § 9 VStG (iVm dem Bescheid vom , Zl. MBA 130/2461/05) und zu
2. § 20 Abs. 1 Z 2 AStV iVm § 130 Abs. 1 Z 15 ASchG iVm § 9 VStG (iVm dem Bescheid vom , Zl. MBA 130/2461/05) verletzt.
Wegen dieser Verwaltungsübertretungen wurden über die Revisionswerberin gemäß § 130 Abs. 1 Z 15 ASchG zwei Geldstrafen von je EUR 1.400 (Ersatzfreiheitsstrafen von je drei Tagen und 12 Stunden) verhängt.
2 Der dagegen erhobenen Beschwerde gab das Verwaltungsgericht in der Schuldfrage nicht Folge, doch setzte es die Geldstrafen auf je EUR 333 und die Ersatzfreiheitsstrafen auf je einen Tag herab. Begründend ging es von der Sachverhaltsannahme aus, dass sowohl die im Spruch des Straferkenntnisses näher beschriebenen Fluchtwege als auch die ebenfalls im Spruch näher umschriebenen Notausgangstüren verstellt gewesen seien. Rechtlich führte es im Wesentlichen zur strittigen Frage der kumulativen Strafbarkeit aus, dass die eine Übertretung nicht grundsätzlich auch die andere verwirkliche, zumal etwa eine Notausgangstür auch dann verstellt werden könne, wenn der Fluchtweg in Richtung dieses Notausgangs nicht eingeengt sei, insofern lägen zwei verschiedene Übertretungen vor.
3 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Revision wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften.
4 Der Magistrat der Stadt Wien erstattete eine Revisionsbeantwortung mit dem Antrag, die Revision zurückzuweisen, allenfalls sie abzuweisen.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
5 Die Revision ist zulässig und berechtigt:
6 Der die § 16 bis 22 umfassende zweite Abschnitt der AStV dient nach dessen Überschrift der Sicherung der Flucht. Gemäß § 16 leg. cit sind Arbeitsstätten unter Beachtung des Brandverhaltens (zB Brennbarkeit, Brandwiderstand, Qualmbildung) der Konstruktionsteile des Gebäudes so zu errichten und zu gestalten, dass im Brandfall der Schutz der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen vor direkter oder indirekter Brandeinwirkung sowie vor Rauchgasen in ausreichendem Maß gewährleistet ist.
§ 17 AStV lautet auszugsweise:
"Fluchtwege, gesicherte Fluchtbereiche, Notausgänge
§ 17. (1) Arbeitsstätten sind so zu gestalten, dass von jedem Punkt der Arbeitsstätte aus
1. nach höchstens 10 m ein Verkehrsweg erreicht wird, der in seinem gesamten Verlauf bis zum Endausgang den Anforderungen der § 18 und 19 entspricht (Fluchtweg) und
2. ...
(3) Als Endausgänge im Sinne des Abs. 1 gelten jene Ausgänge, die in einen sicheren, öffentlich zugänglichen Bereich im Freien führen sowie direkte Ausgänge zu einem sicheren Ort des angrenzenden Geländes im Freien.
(4) Folgende Ausgänge sind entsprechend den Anforderungen der § 18 und 20 zu gestalten (Notausgänge):
alle Ausgänge im Verlauf von Fluchtwegen,
der Endausgang am Ende eines Fluchtweges."
§ 18 AStV regelt die Abmessungen von Fluchtwegen und Notausgängen, § 19 AStV die Anforderungen an Fluchtwege und § 20 AStV die Anforderungen an Notausgänge.
Gemäß § 19 Abs. 1 Z 2 erste Alternative AStV dürfen Fluchtwege, gemäß § 20 Abs. 1 Z 2 erste Alternative AStV dürfen Notausgänge nicht verstellt werden.
Nach § 130 Abs. 1 Z 15 ASchG, BGBl. Nr. 450/1994 idF BGBl. I Nr. 118/2012 begeht eine Verwaltungsübertretung, wer als Arbeitgeber entgegen diesem Bundesgesetz oder den dazu erlassenen Verordnungen die Verpflichtungen betreffend die Einrichtung und den Betrieb von Arbeitsstätten oder Baustellen einschließlich der Sozial- und Sanitäreinrichtungen verletzt.
7 Gemäß § 22 Abs. 2 Satz 1 VStG sind Strafen nebeneinander zu verhängen, wenn jemand durch mehrere selbstständige Taten mehrere Verwaltungsübertretungen begangen hat oder eine Tat unter mehrere einander nicht ausschließende Strafdrohungen fällt. 8 Im Falle der Scheinkonkurrenz, also wenn der gesamte Unrechtsgehalt eines Deliktes von jenem eines anderen, ebenfalls verwirklichten in jeder Beziehung mitumfasst ist, ist es unzulässig, dem Täter ein und denselben Unwert mehrmals zuzurechnen (vgl. Raschauer/Wessely, VStG2, § 22 Rz 28), sie führt zu einem Zurücktreten eines Tatbestandes hinter einen anderen, wenn sich aus konkreten Umständen des Tatgeschehens dessen Vorrang ergibt (Lewisch in Lewisch/Fister/Weilguni, VStG2 (2017) § 22 Rz 13).
9 Neben der Spezialität und der Subsidiarität zählt die Konsumtion zu den Fällen der Scheinkonkurrenz (Raschauer/Wessely, aaO, Rz 25ff).
10 Nach der Rechtsprechung liegt Konsumtion vor, wenn die wertabwägende Auslegung der formal (durch eine Handlung oder durch mehrere Handlungen) erfüllten zwei Tatbestände zeigt, dass durch die Unterstellung der Tat(en) unter den einen der deliktische Gesamtunwert des zu beurteilenden Sachverhalts bereits für sich allein abgegolten ist. Voraussetzung ist, dass durch die Bestrafung wegen des einen Delikts tatsächlich der gesamte Unrechtsgehalt des Täterverhaltens erfasst wird (vgl. , mwN).
11 Die in der AStV geregelten Notausgänge sind gemäß § 17 Abs. 4 leg. cit. im Verlauf oder am Ende von Fluchtwegen gelegen und sowohl Notausgänge als auch Fluchtwege dienen der Sicherung der Flucht von Arbeitnehmern im Brandfall. Nach den insofern gleichlautenden Bestimmungen der § 19 Abs. 1 Z 2 und 20 Abs. 1 Z 2 AStV dürfen beide Einrichtungen, nämlich Notausgänge und Fluchtwege nicht verstellt werden.
12 Das Verwaltungsgericht legte seiner Entscheidung sachverhaltsmäßig verstellte Fluchtwege und verstellte Notausgangstüren zu Grunde. Da es diese Situation als unbestritten ansah, kann davon ausgegangen werden, dass es sich den im angefochtenen Erkenntnis wiedergegebenen Beschwerdeausführungen anschloss, wonach das in den Punkten 1c und 2a sowie 1d und 2b des Straferkenntnisses angelastete Verstellen der Fluchtwege und Notausgänge jeweils durch dieselben Warencolli (einmal beladen mit Getränken und einmal beladen mit Toilettenpapier) erfolgte. Demnach verstellten die mit Getränken beladenen Transportwägen sowohl den Fluchtweg im Bereich des Zugangs zur Notausgangstür J.gasse als auch dieselbe Notausgangstür und es liegt ein Lebenssachverhalt vor. Dasselbe gilt für die mit Toilettenpapier beladenen Warencolli im Bereich des Notausgangs zum Hausgang.
13 Damit bringt in der hier vorliegenden Situation das komplette Verstellen des Fluchtweges im Bereich des Notausgangs folglich zwingend auch das Verstellen des Notausgangs mit sich und führt bei einer Übertretung des § 19 Abs. 1 Z 2 erste Alternative AStV zur Konsumtion der Überschreitung § 20 Abs. 1 Z 2 erste Alternative AStV. In einem solchen Fall stehen dieselben Rechtsgüter unter Schutz, die Tatbestände weisen denselben Unrechtsgehalt auf und der Notausgang ist als Teil des Fluchtweges anzusehen. Das Tatbild des Verstellens des Notausgangs tritt hinter das Tatbild des Verstellens des Fluchtweges zurück. 14 Anders zu beurteilen wäre ein Verstellen durch unterschiedliche Gegenstände, wie es etwa dem Erkenntnis , zu Grunde lag: Der Notausgang wurde an der Außenseite durch näher beschriebene Lagerungen verstellt und der Fluchtweg vor dem Notausgang durch ebenfalls näher beschriebene andere Lagerungen. Hier wurde die Anlastung der § 19 Abs. 1 Z 2 und 20 Abs. 1 Z 2 AStV nicht beanstandet, es lagen unterschiedliche Sachverhalte durch andere Lagerungen vor. 15 Auf Grund der im Revisionsfall gegebenen besonderen Konstellation der Identität des Verstellens sowohl des Fluchtweges als auch des Notausganges durch denselben Transportwagen liegt eine Konsumtion der zweiten Tatanlastung durch die vorgeworfene erste Tatanlastung vor.
16 Auf das in der Revision noch angesprochene Vorhandensein anderer, nicht verstellter Fluchtwege und Notausgänge kommt es schon nach dem klaren Wortlaut der § 19 Abs. 1 Z 2 und 20 Abs. 1 Z 2 AStV nicht an, die ohne Einschränkung das Verstellen oder Einengen (jeglicher) Fluchtwege und Notausgänge verbieten. 17 Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen
Rechtswidrigkeit des Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben und, soweit es Spruchpunkt 1. des vorzitierten Straferkenntnisses betrifft, gemäß § 42 Abs. 1 VwGG abzuweisen. 18 Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht auf § 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014. Wien, am
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ECLI: | ECLI:AT:VWGH:2019:RA2018020123.L00 |
Schlagworte: | Auslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Bindung an den Wortlaut des Gesetzes VwRallg3/2/1 Besondere Rechtsgebiete |
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