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VwGH vom 06.09.2012, 2012/18/0061

VwGH vom 06.09.2012, 2012/18/0061

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Bernegger, den Hofrat Mag. Eder, die Hofrätinnen Mag. Merl und Mag. Dr. Maurer-Kober sowie den Hofrat Mag. Straßegger als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Krawarik, über die Beschwerde des X X in W, geboren am , vertreten durch Dr. Rudolf Mayer, Rechtsanwalt in 1090 Wien, Universitätsstraße 8/2, gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates Wien vom , Zl. UVS-FRG/46/8957/2009, betreffend Erlassung eines befristeten Aufenthaltsverbotes (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.326,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

I.

Mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid erließ die belangte Behörde gegen den Beschwerdeführer, einen türkischen Staatsangehörigen, ein auf § 63 Abs. 1 iVm § 53 Abs. 3 Z. 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) gestütztes, auf die Dauer von acht Jahren befristetes Aufenthaltsverbot.

Begründend führte die belangte Behörde aus, der Beschwerdeführer sei im Juni 2003, im Alter von zehn Jahren, gemeinsam mit seiner Mutter zu seinem bereits im Bundesgebiet wohnhaften Vater nach Österreich gekommen. Dieser besitze seit März 2003 die österreichische Staatsbürgerschaft. Der Beschwerdeführer habe in Österreich ein Jahr lang die Volksschule und danach, bis zur Beendigung seiner Schulpflicht, die Hauptschule besucht. In der Folge sei er von 30. Juni bis in einer Putzerei als Arbeiter beschäftigt gewesen. Danach habe er sich einer Bande krimineller Jugendlicher angeschlossen. Im Dezember 2008 habe er sich bei zwei von S.B. und weiteren Mittätern verübten Raubüberfällen an einem 62-jährigen bzw. einem 49-jährigen weiblichen Opfer beteiligt, im Zuge derer Wertgegenstände und EUR 185,-- Bargeld erbeutet worden seien; dabei habe er als Aufpasser fungiert. An zwei weiteren Raubüberfällen des S.B. habe sich der Beschwerdeführer am insofern beteiligt, als er die beiden Opfer gemeinsam mit seinen Mittätern umkreist und ihnen den Fluchtweg versperrt habe.

Am habe der damals 16-jährige Beschwerdeführer im Zusammenwirken mit zwei anderen Jugendlichen zwei männlichen Opfern ihre Mobiltelefone geraubt. Dabei seien die Opfer vom Beschwerdeführer und einem Mittäter in einen Hauseingang gedrängt und von einem weiteren Mittäter unter Verwendung eines Springmessers mit dem Umbringen bedroht worden. In gleicher Weise habe der Beschwerdeführer mit seinen Komplizen am selben Tag zwei weibliche Opfer überfallen und ein weiteres Mobiltelefon sowie EUR 30,-- Bargeld erbeutet. Ähnliche Überfälle habe der Beschwerdeführer am verübt und sich insofern an einem der Überfälle beteiligt, als er einem der Opfer einen Faustschlag in den Bauch versetzt habe, während diesem von einem Komplizen mit einem Butterflymesser gedroht worden sei. Zu einem späteren Zeitpunkt im Februar 2009 habe der Beschwerdeführer ein weiteres Handy erbeutet, wobei er das Opfer gemeinsam mit einem Mittäter festgehalten habe, während ein weiterer Mittäter das Opfer, wiederum unter Verwendung eines Butterflymessers, zur Herausgabe genötigt habe. Seinen Anteil an der bei den Raubüberfällen gemachten Beute habe er laut eigenen Angaben für Zigaretten und Spielautomaten aufgewendet.

Auf Grund dieses Verhaltens sei der Beschwerdeführer vom Landesgericht für Strafsachen Wien mit Urteil vom wegen der Verbrechen des schweren Raubes gemäß § 142 Abs. 1 und § 143 zweiter Fall sowie wegen des Verbrechens des Raubes gemäß § 142 Abs. 1 StGB zu einer unbedingten Freiheitsstrafe in der Dauer von 22 Monaten verurteilt worden. In der Haft habe sich der Beschwerdeführer unauffällig verhalten.

Am sei der Beschwerdeführer bedingt aus der Haft entlassen und ihm ein Bewährungshelfer zugeteilt worden. Es finde ein regelmäßiger Betreuungskontakt statt und die Termine würden zuverlässig und pünktlich eingehalten. Seit arbeite der Beschwerdeführer wieder als Arbeiter für die Putzerei T. und sei zur Sozialversicherung angemeldet. Zu seinen früheren Freunden und Mittätern pflege der Beschwerdeführer keinen Kontakt. Sprachlich sei er so weit integriert, dass er der Verhandlung ohne Beiziehung eines Dolmetschers habe folgen können.

Der Beschwerdeführer sei ledig, habe aber eine Freundin. Er lebe zuhause bei seinen Eltern und teile sich mit seinem zwölfjährigen Bruder ein Zimmer. Ein weiterer dreijähriger Bruder schlafe im Zimmer seiner Eltern. Sein älterer Bruder sei verheiratet und bereits ausgezogen. Der Beschwerdeführer pflege intensive familiäre Kontakte sowohl zu seinen Eltern als auch zu seinen Geschwistern. Sein Vater und sein älterer Bruder seien österreichische Staatsbürger. In der Türkei lebten keine näheren Angehörigen des Beschwerdeführers.

Vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes habe sich der Beschwerdeführer bereits mehr als fünf Jahre, allerdings noch keine acht Jahre im Bundesgebiet aufgehalten. Bis habe er über einen befristeten Aufenthaltstitel " Familienangehöriger" verfügt. Über den von ihm gestellten Verlängerungsantrag sei wegen des gegenständlich anhängigen Aufenthaltsverbotsverfahrens bis dato noch nicht abgesprochen worden.

In rechtlicher Hinsicht führte die belangte Behörde aus, der Beschwerdeführer sei im Zeitpunkt der erstinstanzlichen Entscheidung noch minderjährig gewesen, sodass das Aufenthaltsverbot nach den für minderjährige Kinder von österreichischen Staatsbürgern geltenden Bestimmungen des § 87 iVm § 86 Abs. 1 FPG vor dem FRÄG 2011 verhängt worden sei. Mittlerweile sei der Beschwerdeführer jedoch volljährig, sodass er - unbeschadet seines die österreichische Staatsbürgerschaft innehabenden Vaters - nicht als Familienangehöriger eines Österreichers iSd FPG angesehen werden könne. Eine privilegierende Rechtsstellung aufgrund der Art. 6 und 7 des Beschlusses 1/80 des Assoziationsrates vom (ARB) komme ihm nicht zu, weil er dem österreichischen Arbeitsmarkt zum Zeitpunkt der Verhängung des Aufenthaltsverbotes noch nicht länger als ein Jahr angehört habe, und sein Vater zum Zeitpunkt der Einreise des Beschwerdeführers nach Österreich kein türkischer Arbeitnehmer, sondern bereits österreichischer Arbeitnehmer gewesen sei. Der Beschwerdeführer halte sich jedoch rechtmäßig im Bundegebiet auf, weil er fristgerecht einen Verlängerungsantrag gestellt habe und zur Inlandsantragstellung berechtigt gewesen sei. Das Aufenthaltsverbot sei daher auf § 63 FPG zu stützen und zu prüfen, ob aufgrund bestimmter Tatsachen die Annahme gerechtfertigt sei, dass der Aufenthalt des Beschwerdeführers die öffentliche Ordnung und Sicherheit gefährde. Der Beschwerdeführer habe seine kriminelle Laufbahn in einer Bande von Jugendlichen zwar mit Aufpasserdiensten begonnen, dann jedoch seine Beteiligung an Raubüberfällen intensiviert und auch insofern körperliche Gewalt gegen die Opfer angewandt, als er diese abgedrängt und festgehalten sowie einmal einem Opfer zur Verstärkung der Drohung eines Mittäters sogar einen Faustschlag in den Bauch versetzt habe. Wegen dieses Verhaltens sei der Beschwerdeführer zu 22 Monaten unbedingter Freiheitsstrafe verurteilt worden. "Die daraus ableitbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit" durch den Aufenthalt des Beschwerdeführers im Bundesgebiet erfordere die Verhängung eines Aufenthaltsverbotes.

Die Verhängung des Aufenthaltsverbotes erweise sich auch im Hinblick auf Art. 8 EMRK und auf § 61 FPG als verhältnismäßig. Zwar verfüge der Beschwerdeführer, der sich seit 2003 im Bundesgebiet aufhalte und hier die Hauptschule absolviert habe, über intensive familiäre Bindungen zu seinen Eltern, seinen drei Brüdern sowie weiteren Verwandten, die alle in Wien lebten. Seine soziale Integration sei jedoch durch sein frühzeitiges Abgleiten in die bandenmäßige Jugendkriminalität massiv beeinträchtigt worden. Außerdem stehe auch bei bandenmäßigen Serienraubüberfällen aufgrund der besonderen Gefährlichkeit dieser Form der Kriminalität selbst eine völlige soziale Integration des Fremden der Verhängung eines Aufenthaltsverbotes nicht entgegen. Der Beschwerdeführer sei mittlerweile volljährig, beherrsche die türkische Sprache und habe keine gesundheitlichen Probleme ins Treffen geführt, sodass ihm der Aufbau einer wirtschaftlichen Existenz in der Türkei auch ohne die Hilfe seiner nächsten Familienangehörigen zuzumuten sei. Vor dem Hintergrund der Art, Vielzahl und Schwere der vom Beschwerdeführer begangenen Straftaten erweise sich das über ihn verhängte Aufenthaltsverbot als dringend erforderlich und sei im Hinblick auf die damit verbundene Beeinträchtigung des Privat- und Familienlebens des Beschwerdeführers und seiner Angehörigen als verhältnismäßig anzusehen. Daran vermöge auch der Umstand nichts zu ändern, dass der Beschwerdeführer die ihm zur Last liegenden Straftaten im jugendlichen Alter begangen und den Kontakt zu seinen damaligen Mittätern inzwischen abgebrochen habe, zumal er im Zuge der mündlichen Verhandlung nicht den Eindruck erweckt habe, mittlerweile charakterlich derart gereift und gefestigt zu sein, dass von ihm keine Gefahr mehr für die öffentliche Sicherheit ausginge. Der Umstand, dass er bei seiner Familie wohne und intensive familiäre Kontakte pflege, habe ihn schon als Jugendlichen - ebenso wenig wie seine Beschäftigung als Arbeiter in einer Putzerei - nicht davon abhalten können, sich einer Bande Krimineller anzuschließen und mit diesen Raubüberfälle zu begehen, um mit dem Erlös aus der Beute Spielautomaten zu bedienen. Auch das nach wie vor aufrechte familiäre Umfeld biete somit keine hinreichende Gewähr gegen eine mögliche Rückfälligkeit.

II.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde nach Vorlage der Verwaltungsakten durch die belangte Behörde erwogen:

Der Beschwerdeführer bringt zunächst vor, die Voraussetzungen nach Art 6 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom (ARB 1/80) zu erfüllen. Bereits dieses Vorbringen verhilft der Beschwerde zum Erfolg.

Die belangte Behörde stützt das Aufenthaltsverbot auf § 63 Abs. 1 iVm § 53 Abs. 3 Z. 1 FPG und führt dazu zunächst zutreffend aus, der Beschwerdeführer sei zum Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides bereits volljährig gewesen, sodass er - unbeschadet des Umstandes, dass sein Vater österreichischer Staatsbürger sei - nicht (mehr) als Familienangehöriger eines Österreichers (der sein Recht auf Freizügigkeit nicht in Anspruch genommen hat) im Sinne des § 2 Abs. 4 Z. 12 FPG angesehen werden könne und aus diesem Grund der Gefährdungsmaßstab des § 67 FPG idF des FrÄG 2011, BGBl. I Nr. 38, nicht zur Anwendung komme. In weiterer Folge geht sie jedoch davon aus, dass dem Beschwerdeführer auch keine privilegierende Rechtsstellung aufgrund der Art. 6 und 7 ARB 1/80 zukomme, weil er zum "Zeitpunkt der Verhängung des Aufenthaltsverbotes" noch nicht länger als ein Jahr dem regulären Arbeitsmarkt angehört habe und sein Vater zum Zeitpunkt der Einreise des Beschwerdeführers ins Bundesgebiet kein türkischer Arbeitnehmer, sondern bereits österreichischer Staatsbürger gewesen sei. Zwar trifft es zu, dass Art. 7 ARB 1/80 im vorliegenden Fall nicht zum Tragen kommt, weil der Vater des Beschwerdeführers zum Zeitpunkt des Zuzuges des Beschwerdeführers nach Österreich bereits die österreichische Staatsbürgerschaft innehatte (vgl. das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2010/21/0453). Den Feststellungen der belangten Behörde zufolge hält sich der Beschwerdeführer jedoch rechtmäßig im Bundesgebiet auf und ist seit als Arbeiter in einer Wäscherei beschäftigt und sozialversichert. Dass dies Beschäftigung unrechtmäßig gewesen wäre, wurde im angefochtenen Bescheid nicht dargelegt. Vor dem Hintergrund, dass die belangte Behörde ihrer Entscheidung die sich im Zeitpunkt der Erlassung ihres Bescheides darbietende Sach- und Rechtslage zu Grunde zu legen hatte (vgl. dazu etwa Hengstschläger/Leeb , AVG § 66 Rz 80 und 83, sowie zur Erlassung eines Aufenthaltsverbotes das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2011/23/0135), ist ihre Beurteilung, der Beschwerdeführer habe "zum Zeitpunkt der Verhängung des Aufenthaltsverbotes" - gemeint ist wohl der Zeitpunkt der erstinstanzlichen Entscheidung - noch nicht ein Jahr lang dem regulären Arbeitsmarkt angehört, unzutreffend. Vielmehr war der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der - hier maßgeblichen - Erlassung des angefochtenen Bescheides bereits eineinhalb Jahre beim gleichen Arbeitgeber beschäftigt, weshalb ihm die privilegierende Rechtsstellung des Art. 6 ARB 1/80 zukommt.

Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits in seiner ständigen Rechtsprechung zu § 86 Abs. 1 FPG - der im Wesentlichen inhaltlich gleichlautenden Vorgängerbestimmung des § 67 FPG idF des FrÄG 2011 - festgehalten, dass im Hinblick auf unionsrechtliche Vorgaben die im § 86 Abs. 1 FPG genannten Kriterien auch im Fall der Aufenthaltsbeendigung gegen einen türkischen Staatsangehörigen, dem eine Rechtsstellung nach Art. 6 oder Art. 7 ARB 1/80 zukommt, als die relevanten anzusehen sind. Diese Rechtsprechung ist auch für die nunmehrige Rechtslage nach dem FrÄG 2011, die sich insofern inhaltlich als unverändert darstellt, beachtlich (vgl. das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2011/22/0264).

Vor diesem Hintergrund hätte die belangte Behörde den gegenüber § 63 Abs. 1 FPG erhöhten Gefährdungsmaßstab des § 67 Abs. 1 erster und zweiter Satz FPG anzuwenden gehabt und sich mit der Prognose, ob der Beschwerdeführer (künftig) eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, auseinandersetzen müssen. Der Beschwerdeführer hat seine Taten als Jugendlicher verübt, pflegt nun keinen Kontakt mehr zu seinen früheren Mittätern, hält die Termine mit seinem Bewährungshelfer zuverlässig und pünktlich ein, ist seit eineinhalb Jahren beim selben Arbeitgeber beschäftigt und hat eine Freundin. Angesichts dieser Umstände ist nicht ohne weiteres von einer negativen Zukunftsprognose für den Beschwerdeführer im Sinn des § 67 Abs. 1 erster bis vierter Satz FPG auszugehen.

Der angefochtene Bescheid war bereits aus diesem Grund - ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen war - gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008. Wien, am

Fundstelle(n):
CAAAE-76332