VwGH vom 20.10.2009, 2005/13/0083
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Hargassner und die Hofräte Dr. Fuchs, Dr. Nowakowski, Dr. Pelant und Dr. Mairinger als Richter, im Beisein des Schriftführers Dr. Unger, über die Beschwerde der B in W, vertreten durch Dr. Otto Schubert, Rechtsanwalt in 1070 Wien, Lerchenfelderstraße 15, gegen den Bescheid des unabhängigen Finanzsenates, Außenstelle Wien, vom , Zl. RV/2958- W/02, betreffend erhöhte Familienbeihilfe für den Zeitraum ab dem , zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.088,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Die im Juli 1976 geborene Beschwerdeführerin überreichte am beim Finanzamt einen Antrag auf Gewährung von Familienbeihilfe. Sie gab in diesem Antrag an, seit Dezember 1997 erheblich behindert und erwerbsunfähig zu sein und eine Pension zu beziehen. Die beigefügte ärztliche Bescheinigung der Universitätsklinik für Psychiatrie vom selben Tag bescheinigte eine seit Dezember 1997 bestehende schizoaffektive Erkrankung, durch die die Beschwerdeführerin voraussichtlich dauernd außerstande sei, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen. In dem Feld für "Ergänzende Bemerkungen" war eine "zunehmende Residual-Symptomatik" angeführt.
Ein vom Finanzamt am eingeholter Versicherungsdatenauszug ergab, dass die Beschwerdeführerin vom 28. Oktober bis zum , vom 2. Mai bis zum , vom 2. bis zum und vom 2. bis zum in Beschäftigungsverhältnissen gestanden war und seit von der Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter eine Pension wegen geminderter Arbeitsfähigkeit bezog.
Mit Bescheid vom wies das Finanzamt den Antrag der Beschwerdeführerin ab. In der Begründung wurde ausgeführt, der geltend gemachte Anspruch bestehe nur dann, wenn das Kind wegen einer vor Vollendung des 21. Lebensjahres oder während einer späteren Berufsausbildung, jedoch vor Vollendung des 27. Lebensjahres, eingetretenen körperlichen oder geistigen Behinderung voraussichtlich dauernd außerstande sei, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen. Laut der ärztlichen Bescheinigung vom sei die Beschwerdeführerin "seit 12/1997 voraussichtlich dauernd außerstande sich selbst Unterhalt zu verschaffen. Somit besteht kein Anspruch auf Familienbeihilfe und erhöhte Familienbeihilfe." Auf den Versicherungsdatenauszug und die darin angeführten Beschäftigungsverhältnisse wurde nicht Bezug genommen. Der Bescheid wurde am an der Adresse der Beschwerdeführerin hinterlegt.
Am überreichte die Beschwerdeführerin ein mit "" datiertes Schreiben folgenden Inhalts:
"Hiermit lege ich Berufung gegen den ablehnenden Bescheid auf erhöhte Familienbeihilfe vom ein. Ich möchte hierzu folgende Gründe angeben:
1.) Ich war zum Zeitpunkt meiner Erkrankung in Schul-Studiumsausbildung an der Universität Wien inskribiert. Ich studierte als Außerordentliche Hörerin Latein. Da meine Erkrankung schon während meines Studienbeginns schleichend begann, konnte ich keine Prüfungen ablegen. (Siehe Kopie der Inskriptionsbestätigung).
2.) Meine Zeiten für die Anwartschaft einer Berufsunfähigkeitspension erwarb ich fast ausschließlich vor meinem Erkrankungszeitpunkt. (Siehe Versicherungsauszug der österreichischen Sozialversicherung, Pensionsversicherung der Arbeiter).
Ich bitte Sie deshalb meinen Antrag auf erhöhte Familienbeihilfe nochmals zu überprüfen und hoffe auf positive Erledigung. (Mir half meine Sozialarbeiterin beim Erstellen dieses Briefes)"
Dem Antrag lag u.a. die Kopie eines Versicherungsdatenauszuges vom bei, in dem die Dauer des ersten Beschäftigungsverhältnisses handschriftlich abgeändert worden war (28. Oktober bis ).
Das Finanzamt holte eine Meldeauskunft ein und legte die Berufung am mit dem Antrag auf Einholung eines Gutachtens des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen im Sinne des § 8 Abs. 6 FLAG 1967 der Berufungsbehörde zur Entscheidung vor.
Der Akt der belangten Behörde enthält darüber hinaus - als einziges weiteres Aktenstück vor dem angefochtenen Bescheid - einen Datenausdruck vom , wonach die Beschwerdeführerin "2x zur Untersuchung nicht erschienen" sei.
Mit dem angefochtenen Bescheid vom wies die belangte Behörde die Berufung als unbegründet ab. Sie stellte im Sachverhalt ohne nähere Einzelheiten fest, die Beschwerdeführerin sei "zwei Mal vorgeladen" worden und "zu beiden Untersuchungsterminen nicht erschienen, weshalb seitens des Bundessozialamtes keine Untersuchung und Gutachtenserstellung möglich war", traf Feststellungen aus dem im erstinstanzlichen Verfahren eingeholten Versicherungsdatenauszug und gründete ihre Entscheidung - im Anschluss an abstrakte Rechtsausführungen über die Anspruchsvoraussetzungen und deren Nachweis - auf folgende Erwägungen:
"Nach Lehre und Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes tritt bei Begünstigungstatbeständen die Amtswegigkeit der Sachverhaltsermittlung gegenüber der Offenlegungspflicht des Begünstigungswerbers in den Hintergrund; der Begünstigungswerber hat die Umstände darzulegen, auf die die abgabenrechtliche Begünstigung gestützt werden kann (; , 90/14/0100; , 90/13/0160; , 93/13/0237, 0238; , 96/13/0110; , 98/16/0325, 0326, 0327; , 99/16/0100; Ellinger-Iro-Kramer-Sutter-Urtz, BAO, 1. Band, Rz 10ff zu § 115).
Die Pflicht zur amtswegigen Ermittlung des entscheidungswesentlichen Sachverhalts findet dort ihre Grenze, wo nach Lage des Falles nur die Partei Angaben zum Sachverhalt machen kann (; , 94/13/0099).
Trotz zweifacher Aufforderung von Seiten des Bundessozialamtes Wien ist die Bw. nicht zum Untersuchungstermin erschienen. Dem Bundessozialamt war es daher nicht möglich, eine Untersuchung vorzunehmen bzw. ein ärztliches Sachverständigengutachten zu erstellen, aus dem hervorginge, ob Unfähigkeit vorliegt, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, und bejahendenfalls, zu welchem Zeitpunkt diese Unfähigkeit eingetreten ist.
Die Abgabenbehörde hat unter sorgfältiger Berücksichtigung der Ergebnisse des Abgabenverfahrens nach freier Überzeugung zu beurteilen, ob eine Tatsache als erwiesen anzunehmen ist oder nicht (§ 167 Abs 2 BAO).
Nach der ständigen Rechtsprechung des VwGH (vgl. z.B. Erk. vom , 92/16/0142) ist von mehreren Möglichkeiten jene als erwiesen anzunehmen, die gegenüber allen anderen Möglichkeiten eine überragende Wahrscheinlichkeit für sich hat und alle anderen Möglichkeiten ausschließt oder zumindest weniger wahrscheinlich erscheinen lässt.
Aufgrund der mangelnden Mitwirkungspflicht musste der unabhängige Finanzsenat auf Grund der Aktenlage entscheiden; hieraus geht aber keineswegs in ausreichender Klarheit die dauernde Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, noch der entsprechende Zeitpunkt hervor.
Es liegen somit die gesetzlichen Anspruchsvoraussetzungen für den Bezug der (erhöhten) Familienbeihilfe nicht vor, ohne dass noch näher geprüft werden musste, ob der Bw. Unterhalt von ihrem (früheren) Ehegatten zu leisten ist, was nach § 5 Abs. 2 FLAG ebenfalls eine Gewährung von Familienbeihilfe ausschließen würde.
Ergänzend wird festgehalten, dass diese Entscheidung einer neuerlichen Antragstellung für Zeiträume, über die noch nicht abgesprochen wurde, nicht entgegenstünde."
Dieser Bescheid wurde am an der Wohnadresse der Beschwerdeführerin hinterlegt und von ihr dem Beschwerdevertreter übergeben.
Aus der dagegen erhobenen Beschwerde und deren Beilagen geht hervor, dass der Beschwerdevertreter für die Beschwerdeführerin auf Grund eines im September 2002 eingeleiteten Verfahrens mit Beschluss vom u.a. für die Vertretung vor Gerichten, Ämtern und Behörden zum Sachwalter bestellt worden war. Der Gerichtsbeschluss verwies in diesem Zusammenhang auf die bei der Beschwerdeführerin festgestellte chronisch rezidivierende schizoaffektive Psychose, in der es immer wieder zu akuten Phasen kommen könne. In diesen Phasen sei das Handeln und Denken der Beschwerdeführerin u.a. durch Wahnbildungen und Wahnvorstellungen mit begleitenden Halluzinationen beeinträchtigt.
Im April 2004 wurde im Zusammenhang mit der Prüfung einer Erweiterung der Sachwalterschaft ein weiteres psychiatrischneurologisches Gutachten über die Beschwerdeführerin erstellt, aus dem u.a. hervorgeht, dass die Beschwerdeführerin nach einem Mordversuch an ihrer Mutter im Oktober 2003 in der geschlossenen Abteilung eines psychiatrischen Krankenhauses angehalten wurde und ein im Auftrag des Landesgerichtes Korneuburg erstelltes Gutachten die Zurechnungsunfähigkeit im Tatzeitpunkt und das Vorliegen der medizinischen Voraussetzungen für die Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher ergab. Dem Gutachten ist weiters zu entnehmen, dass die Beschwerdeführerin - offenbar im Sommer 2003 - eine Pensionsnachzahlung trotz offener Verbindlichkeiten für einen Auslandsurlaub verwendete, von dem sie auch nicht mit dem gebuchten Flug zurückkehrte.
Vor diesem Hintergrund wird in der Beschwerde geltend gemacht, die belangte Behörde habe ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren geführt. Ausgehend von der zu Beginn des Verfahrens vorgelegten ärztlichen Bescheinigung hätte die belangte Behörde - falls die Beschwerdeführerin, wie behauptet, zweimal nicht zur Untersuchung erschienen sei - von Amts wegen Ermittlungen über ihren Geisteszustand in die Wege leiten müssen. Die belangte Behörde hätte nicht ohne weiteres annehmen dürfen, dass die Beschwerdeführerin in der Lage sei, selbständig einer Vorladung zu einem Untersuchungstermin Folge zu leisten bzw. die Folgen des Nichterscheinens ohne entsprechende Belehrung zu verstehen. Wäre die belangte Behörde den im verfahrenseinleitenden Antrag enthaltenen Hinweisen auf die psychische Erkrankung der Beschwerdeführerin nachgegangen, so würde sie u.a. auch von der Bestellung des Sachwalters Kenntnis erlangt und erkannt haben, dass die Zustellung einer Ladung zur Untersuchung an die Beschwerdeführerin selbst keine "Säumnisfolgen" nach sich ziehen könne.
Die belangte Behörde hält dem in der Gegenschrift u. a. Folgendes entgegen:
"Da die Bf. die Berufung selbst verfasst hat, war und ist für die belangte Behörde nicht erkennbar, dass die Bf. trotz ihrer unzweifelhaft vorliegenden Erkrankung außerstande gewesen sein soll, die Tragweite ihres Handelns einzusehen, und deshalb der zweimaligen Aufforderung des Bundessozialamtes nicht gefolgt ist."
Darüber hinaus führt die belangte Behörde in der Sache aus, aus der Aktenlage sei erkennbar gewesen, dass die Beschwerdeführerin "vor und nach ihrem 21. Lebensjahr (gelegentlich) berufstätig" gewesen sei und "laut ärztlicher Bescheinigung vom ihr Leiden seit Dezember 1997, also erst nach der Vollendung des 21. Lebensjahres besteht". Der "Zeitpunkt Dezember 1997" sei durch eine nach Erlassung des angefochtenen Bescheides auf Grund eines Sachverständigengutachtens erstellte Bescheinigung des Bundessozialamtes "bestätigt" worden.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
Die belangte Behörde behandelt die Familienbeihilfe beantragende Beschwerdeführerin als eine Partei, die eine "abgabenrechtliche Begünstigung" erwirken will, und vertritt die Auffassung, im Verfahren über einen Antrag auf Gewährung der Familienbeihilfe trete die Amtswegigkeit der Sachverhaltsermittlung im Sinne der hg. Judikatur zu Zahlungserleichterungen, Zuzugsbegünstigungen u.dgl. "gegenüber der Offenlegungspflicht des Begünstigungswerbers in den Hintergrund". Ihrer dadurch erhöhten Mitwirkungspflicht soll die Beschwerdeführerin nicht entsprochen haben, indem sie zwei Vorladungen zur Untersuchung nicht nachgekommen sei. Auf Grund dieser "mangelnden Mitwirkungspflicht" habe die belangte Behörde anhand der Aktenlage entscheiden müssen.
Die belangte Behörde hat aber nicht festgestellt, wann und auf welche Weise die Beschwerdeführerin "zwei Mal" bzw. "zweifach" vorgeladen worden sei. Unter den Umständen des vorliegenden Falles - Bestellung eines Sachwalters während des in Betracht kommenden Zeitraumes - kann der angefochtene Bescheid schon deshalb nicht Bestand haben.
Dass der Hinweis auf eine erst nach der Bescheiderlassung erstellte Bescheinigung des Bundessozialamtes für das Beschwerdeverfahren nicht von Bedeutung ist, wird von der belangten Behörde im Zusammenhang mit ihren Ausführungen darüber in der Gegenschrift ausdrücklich eingeräumt.
Der angefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
Von der beantragten Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abgesehen werden.
Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich im Rahmen des gestellten Begehrens auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.
Wien, am