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VwGH vom 11.03.2020, Ra 2017/22/0139

VwGH vom 11.03.2020, Ra 2017/22/0139

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Köhler sowie die Hofräte Dr. Mayr und Mag. Berger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, über die Revision der N T in H, vertreten durch MMag. Salih Sunar, Rechtsanwalt in 6020 Innsbruck, Salurnerstraße 14/1. Stock, gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts Tirol vom , LVwG- 2017/17/0728-2, betreffend Aufenthaltstitel (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bezirkshauptmannschaft Innsbruck), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufgehoben.

Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1.1. Die Revisionswerberin, eine im Jahr 1947 geborene türkische Staatsangehörige, brachte am bei der belangten Behörde einen Erstantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels "Familienangehöriger" gemäß § 47 Abs. 2 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) ein. Sie berief sich dabei auf ihre am geschlossene Ehe mit einem österreichischen Staatsbürger (im Folgenden: Ehemann).

Aus den mit dem Antrag vorgelegten Urkunden geht hervor, dass sich der Ehemann bereits seit Jahren in der Alterspension befindet und mittlerweile auch Pflegegeld der Stufe 2 bezieht. Dem Antrag ist weiters eine Erklärung der Revisionswerberin angeschlossen, wonach diese in Österreich keiner Beschäftigung nachgehen wolle.

Unstrittig ist ferner, dass die Revisionswerberin im August 2016 mit einem Visum D nach Österreich einreiste, über die Gültigkeitsdauer des Visums hinaus im Bundesgebiet blieb und im gemeinsamen Haushalt mit dem Ehemann lebt.

1.2. Einem Amtsvermerk der belangten Behörde vom zufolge klärte diese den Ehemann (im Zuge der persönlichen Antragstellung durch die Revisionswerberin) über den notwendigen Nachweis eines Sprachzertifikats A1 auf und belehrte ihn "über § 21a Abs. 4 NAG".

In einer Eingabe an die belangte Behörde vom teilte die Revisionswerberin mit, dass sie fast 70 Jahre alt sei und sich daher einer amtsärztlichen Untersuchung unterziehen wolle, ob sie noch in der Lage sei, Deutsch zu lernen; dies auch im Hinblick darauf, dass der Ehemann krank sei und ihrer Pflege bedürfe.

1.3. In einer Stellungnahme vom gab der Amtsarzt nach Untersuchung der Revisionswerberin bekannt, dass diese keine Vorerkrankungen oder Operationen aufweise, lediglich ein Medikament gegen Diabetes einnehme, sich in einem altersentsprechenden guten Allgemeinzustand befinde, keine kognitiven Defizite habe und grobklinisch unauffällig sei, und dass daher aus amtsärztlicher Sicht keine medizinischen Gründe vorlägen, die den Besuch eines Deutschkurses unmöglich machten.

1.4. In einem Schreiben an die belangte Behörde vom teilte die fortan anwaltlich vertretene Revisionswerberin mit, dass sie auf Grund ihres Alters und aus familiären Gründen (der Ehemann befinde sich in einem erheblich beeinträchtigten Gesundheitszustand, beziehe Pflegegeld der Stufe 2, benötige Betreuung und Pflege rund um die Uhr und sei dabei auf die Revisionswerberin angewiesen) nicht in der Lage sei, einen Deutschkurs zu besuchen und die Prüfung abzulegen. Die belangte Behörde werde daher ersucht, von der Erfüllung dieser Voraussetzung abzusehen.

2.1. Mit Bescheid vom wies die belangte Behörde den Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß den § 21a und 11 Abs. 3 NAG ab. Die belangte Behörde führte aus, laut dem amtsärztlichen Gutachten lägen keine medizinischen Gründe vor, die den Besuch eines Deutschkurses unmöglich machten. Eine Ausnahme von der Verpflichtung zum Nachweis von Deutschkenntnissen gemäß § 21a Abs. 4 NAG komme daher nicht in Betracht. Die belangte Behörde hielt weiters fest, eine Belehrung nach "§ 21a Abs. 5 letzter Satz" NAG sei am erfolgt. Die diesbezügliche Abwägung im Sinn des Art. 8 EMRK ergebe, dass das öffentliche Interesse an der Einhaltung der aufenthaltsrechtlichen Vorschriften die persönlichen und familiären Interessen der Revisionswerberin am Verbleib in Österreich überwiege.

2.2. Gegen diesen Bescheid erhob die Revisionswerberin Beschwerde, wobei sie im Wesentlichen ihr Vorbringen im Schreiben vom wiederholte und ferner ausführte, die belangte Behörde hätte von der Verpflichtung zum Nachweis von Deutschkenntnissen gemäß § 21a Abs. 5 Z 2 NAG absehen müssen. Die privaten Interessen der Revisionswerberin überwögen das öffentliche Interesse.

3.1. Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis wies das Verwaltungsgericht die Beschwerde als unbegründet ab.

Das Verwaltungsgericht ging dabei von dem oben in den Punkten 1.1. und 1.3. wiedergegebenen Sachverhalt aus. Rechtlich folgerte es, die Revisionswerberin habe nach § 21a Abs. 1 NAG im Zuge der Erstantragstellung Deutschkenntnisse nachzuweisen. Dass ihr dieser Nachweis wegen ihres physischen oder psychischen Gesundheitszustands nicht zugemutet werden könne, sei nicht erwiesen worden, lägen doch nach der amtsärztlichen Stellungnahme keine medizinischen Gründe vor, die es ihr unmöglich bzw. unzumutbar machten, an einem Deutschkurs teilzunehmen und eine Deutschprüfung abzulegen. Dem stehe auch die Betreuung und Pflege des Ehemanns nicht entgegen, zumal bei Pflegestufe 2 eine 24-Stunden-Betreuung nicht notwendig und die Betreuung jedenfalls zeitlich koordinierbar sei. Was die Abwägung im Sinn des Art. 8 EMRK betreffe, so habe die Revisionswerberin auf Grund des befristeten Visums und des unsicheren Aufenthaltsstatus nicht damit rechnen dürfen, dass sie dauerhaft im Bundesgebiet bleiben könne. Sie sei auch erst etwa ein Jahr in Österreich aufhältig, sodass der bisherige Aufenthalt keine maßgebliche Verstärkung der persönlichen Interessen bewirken könne.

3.2. Das Verwaltungsgericht sprach ferner aus, dass die Revision nicht zulässig sei.

4.1. Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die außerordentliche Revision, in der zur Zulässigkeit unter dem Gesichtspunkt eines Abweichens von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs vorgebracht wird, das Verwaltungsgericht hätte zum Ergebnis gelangen müssen, dass nach § 21a Abs. 5 Z 2 NAG vom Nachweis von Deutschkenntnissen abgesehen werden könne. Zwar sei eine darauf gerichtete Antragstellung nur bis zur Erlassung des Bescheids zulässig (gewesen), darüber wäre die Revisionswerberin jedoch zu belehren gewesen, was nicht geschehen sei.

4.2. Eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet.

5. Der Verwaltungsgerichtshof hat - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat - erwogen:

Die Revision ist zulässig, weil das Verwaltungsgericht verkannte, dass eine Belehrung der Revisionswerberin über die Möglichkeit einer Antragstellung im Sinn des § 21a Abs. 5 NAG bis zur Erlassung des Bescheids zu Unrecht unterlassen wurde. Die Revision ist aus dem Grund auch berechtigt.

6.1. Vorweg ist festzuhalten, dass sich die Revisionswerberin nicht auf die Stillhalteklausel des Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG-Türkei über die Entwicklung der Assoziation vom (ARB 1/80) stützen kann.

6.2. § 21a NAG - in der im Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts maßgeblichen Fassung vor BGBl. I Nr. 84/2017 (alle weiteren Nennungen beziehen sich auf diese Fassung) - geht zwar über das zur Erreichung des mit der Stillhalteklausel verfolgten Ziels der Förderung der Integration türkischer Staatsangehöriger Erforderliche hinaus und stellt daher eine unzulässige neue Beschränkung im Sinn des Art. 13 ARB 1/80 dar (vgl. ). Allerdings ergibt sich aus dem Aufbau und der Zielsetzung des ARB 1/80, dass der Beschluss die schrittweise Integration türkischer Arbeitnehmer in den Aufnahmestaat durch die Ausübung einer ordnungsgemäßen und grundsätzlich ununterbrochenen Beschäftigung von einem, drei oder vier Jahren (vgl. dazu näher Art. 6 ARB 1/80) zum Ziel hat. Art. 13 ARB 1/80 ist folglich nicht anzuwenden, wenn türkische Staatsangehörige gar nicht die Absicht haben, sich in den Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats zu integrieren (vgl. ).

6.3. Vorliegend strebt die im Jahr 1947 geborene Revisionswerberin unstrittig keine Beschäftigung in Österreich (mehr) an, sodass mangels einer Absicht, sich in den Arbeitsmarkt zu integrieren, Art. 13 ARB 1/80 nicht anzuwenden ist. Der gegenständliche Antrag ist daher jedenfalls unter Heranziehung des § 21a NAG (in der schon genannten Fassung) zu beurteilen.

7.1. Gemäß § 21a Abs. 1 NAG hat ein Drittstaatsangehöriger mit der Stellung eines Erstantrags auf Erteilung eines Aufenthaltstitels (unter anderem) nach § 8 Abs. 1 Z 8 NAG ("Familienangehöriger") Kenntnisse der deutschen Sprache nachzuweisen.

Nach § 21a Abs. 5 NAG kann die Behörde auf begründeten Antrag eines Drittstaatsangehörigen von einem Nachweis gemäß Abs. 1 absehen, entweder (Z 1) im Fall eines unbegleiteten Minderjährigen (§ 2 Abs. 1 Z 17) zur Wahrung des Kindeswohls, oder (Z 2) zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinn des Art. 8 EMRK (§ 11 Abs. 3). Die Stellung eines solchen Antrags ist nur bis zur Erlassung des Bescheids zulässig. Über diesen Umstand ist der Drittstaatsangehörige zu belehren; § 13 Abs. 3 AVG gilt.

7.2. Wie aus dem klaren Gesetzeswortlaut hervorgeht, kann ein Antrag nach § 21a Abs. 5 NAG nur bis zur Erlassung des Bescheids gestellt werden. Fehlt es an einem Antrag, so ist keine Interessenabwägung im Sinn des § 11 Abs. 3 NAG vorzunehmen (vgl. ). Die Behörde ist verpflichtet, den Drittstaatsangehörigen nicht nur über die Möglichkeit eines Antrags, sondern auch darüber zu belehren, dass die Antragstellung nur bis zur Erlassung des Bescheids zulässig ist (vgl. ). Die Belehrung besteht unabhängig davon, ob einem (allfälligen) Antrag a priori Erfolgschancen einzuräumen sind (vgl. ). Dem Gesetz ist - mangels einer dem § 13a AVG vergleichbaren Einschränkung - auch nicht zu entnehmen, dass die Belehrung unterbleiben dürfe, wenn im Verfahren ein Rechtsanwalt als Vertreter einschreitet (vgl. erneut VwGH 2013/22/0147).

7.3. Der Verwaltungsgerichtshof hat zu § 21a Abs. 5 NAG - unter Verweis auf die vergleichbaren Regelungen der § 19 Abs. 8 und 21 Abs. 3 NAG sowie die dazu ergangene Rechtsprechung (vgl. etwa ; abermals 2013/22/0147) - bereits klargestellt, dass das Unterbleiben der gebotenen Belehrung den Bescheid mit Rechtswidrigkeit belastet. Ein solcher rechtswidriger Bescheid ist im Rechtsmittelverfahren zu beheben, um dem Rechtsmittelwerber die Antragstellung im fortgesetzten behördlichen Verfahren zu ermöglichen. Die unterbliebene Belehrung ist also nicht vom Verwaltungsgericht selbst nachzuholen, indem dem Drittstaatsangehörigen die Antragsmöglichkeit im verwaltungsgerichtlichen Verfahren eingeräumt und anschließend über einen derartigen Antrag sogleich vom Verwaltungsgericht selbst erstmals abgesprochen wird (vgl. neuerlich VwGH Ra 2017/22/0107).

8.1. Vorliegend stellte - wie aus dem eingangs wiedergegebenen Verfahrensverlauf hervorgeht - die Revisionswerberin bis zur Erlassung des Bescheids vom keinen Antrag auf Absehen vom Nachweis von Deutschkenntnissen gemäß § 21a Abs. 5 NAG. Allerdings wurde sie von der belangten Behörde bis zur Erlassung des Bescheids nicht im Sinn der soeben genannten Gesetzesbestimmung belehrt, dass sie einen diesbezüglichen Antrag stellen könne und eine solche Antragstellung nur bis zur Erlassung des Bescheids zulässig sei.

Der gegenteilige Hinweis im Bescheid, wonach eine Belehrung im Sinn des § 21a Abs. 5 letzter Satz NAG am erfolgt sei, ist mit der Aktenlage nicht vereinbar, wurde doch im Amtsvermerk vom festgehalten, dass eine Belehrung im Zuge der Antragstellung (lediglich) "über § 21a Abs. 4 NAG" vorgenommen wurde. Die Belehrung hatte auch tatsächlich zur Folge, dass die Revisionswerberin in den weiteren Eingaben ein Vorbringen im Sinn des § 21a Abs. 4 Z 2 NAG erstattete und eine diesbezügliche amtsärztliche Stellungnahme beibrachte. Eine Belehrung im Sinn des § 21a Abs. 5 NAG durch die belangte Behörde und eine diesbezügliche Antragstellung durch die Revisionswerberin sind jedoch bis zur Erlassung des Bescheids nicht erfolgt.

8.2. Nach dem Vorgesagten wurde somit die Revisionswerberin nicht bis zur Erlassung des Bescheids über die Möglichkeit eines Antrags nach § 21a Abs. 5 NAG und die Zulässigkeit einer solchen Antragstellung nur bis zur Erlassung des Bescheids belehrt. Das Unterbleiben der erforderlichen Belehrung belastete den Bescheid mit Rechtswidrigkeit, die Belehrung und die (allfällige) Antragstellung konnten im weiteren Verfahren nicht nachgeholt werden.

Folglich hätte das Verwaltungsgericht den Bescheid beheben müssen, um der Revisionswerberin im fortgesetzten Verfahren vor der belangten Behörde die Antragstellung nach entsprechender Belehrung im Sinn des § 21a Abs. 5 letzter Satz NAG zu ermöglichen.

9. Das angefochtene Erkenntnis ist deshalb wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

10. Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die § 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am

Zusatzinformationen


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ECLI:
ECLI:AT:VWGH:2020:RA2017220139.L00
Schlagworte:
Anzuwendendes Recht Maßgebende Rechtslage VwRallg2 Besondere Rechtsgebiete Gemeinschaftsrecht Anwendungsvorrang, partielle Nichtanwendung von innerstaatlichem Recht EURallg1 Gemeinschaftsrecht Auslegung des Mitgliedstaatenrechtes EURallg2 Maßgebende Rechtslage maßgebender Sachverhalt

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