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VwGH vom 18.02.2020, Ra 2017/22/0123

VwGH vom 18.02.2020, Ra 2017/22/0123

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Köhler sowie die Hofräte Dr. Mayr und Mag. Berger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, über die Revision des Landeshauptmanns von Wien (als belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht), gegen das - am mündlich verkündete und mit schriftlich ausgefertigte - Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien, VGW- 151/047/1226/2017-3, betreffend Aufenthaltstitel (mitbeteiligte Partei: U U in W, vertreten durch MMag. Michael Krenn, Rechtsanwalt in 1070 Wien, Museumstraße 5/19), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufgehoben

Begründung

1. Der Mitbeteiligte, ein türkischer Staatsangehöriger, verfügte seit dem Jahr 2010 über - wiederholt verlängerte - Aufenthaltsbewilligungen für Studierende, zuletzt mit Gültigkeit bis zum . Am stellte er einen Verlängerungsantrag, verbunden mit einem Zweckänderungsantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" gemäß § 41a Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG). Er bezog sich dabei (im Ergebnis) auf Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom über die Entwicklung der Assoziation (ARB 1/80).

2.1. Der Landeshauptmann von Wien (im Folgenden: Revisionswerber) wies den (hier gegenständlichen) Zweckänderungsantrag mit Bescheid vom ab. Die beantragte Zweckänderung von einer Aufenthaltsbewilligung für Studierende auf einen Aufenthaltstitel "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" komme mangels Erfüllung der Voraussetzungen nicht in Betracht. Eine solche sei zur Wahrung der Rechte aus dem ARB 1/80 auch nicht erforderlich.

2.2. Der dagegen erhobenen Beschwerde des Mitbeteiligten gab das Verwaltungsgericht Wien mit dem angefochtenen Erkenntnis Folge und erteilte den beantragten Aufenthaltstitel "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" für die Dauer von zwölf Monaten. Der Mitbeteiligte sei ein dem regulären Arbeitsmarkt angehörender Arbeitnehmer, der durchgehend seit dem beim selben Arbeitgeber ordnungsgemäß beschäftigt sei und daher die Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 erster Spiegelstrich ARB 1/80 erfülle. Mit den im Bereich der Beschäftigung verliehenen Rechten gehe ein entsprechendes Aufenthaltsrecht einher, das ex lege bestehe. Einen gesonderten Aufenthaltstitel für einen türkischen Staatsangehörigen, der Ansprüche aus Art. 6 oder 7 ARB 1/80 ableiten könne, kenne das NAG nicht. Dem Mitbeteiligten sei daher ein entsprechender Aufenthaltstitel zu erteilen, der ihm die Wahrnehmung der aus Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 zustehenden Rechte ermögliche. Das Verwaltungsgericht verkenne nicht, dass der Mitbeteiligte nach Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 noch keinen unbeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt erworben habe. Allerdings komme entsprechend dem beantragten Aufenthaltszweck kein anderer Aufenthaltstitel als die "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" in Betracht.

Das Verwaltungsgericht sprach ferner aus, dass die Revision nicht zulässig sei.

3.1. Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die außerordentliche Revision, in der zur Zulässigkeit im Wesentlichen ausgeführt wird, der Mitbeteiligte habe zwar Rechte aus der unmittelbar anwendbaren Regelung des Art. 6 Abs. 1 erster Spiegelstrich ARB 1/80 erworben, welche notwendigerweise ein entsprechendes Aufenthaltsrecht implizierten, daraus lasse sich jedoch kein Recht auf Erteilung eines bestimmten Aufenthaltstitels nach dem NAG ableiten. Ein Aufenthaltstitel "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" könne auch deshalb nicht erteilt werden, weil dieser das Recht auf unbeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt umfasse, wohingegen Art. 6 Abs. 1 erster Spiegelstrich ARB 1/80 nur ein Recht auf Verlängerung der Arbeitserlaubnis bei demselben Arbeitgeber beinhalte.

3.2. Der Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung mit dem Antrag auf Zurück- bzw. Abweisung der Revision.

4. Der Verwaltungsgerichtshof hat - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat - erwogen:

Die Revision ist zulässig und berechtigt.

5.1. Die gegenständliche Rechtssache gleicht in Ansehung sowohl des relevanten Sachverhalts als auch der maßgeblichen Rechtsfragen jenem Fall, über den der Verwaltungsgerichtshof mit Erkenntnis vom , Ro 2017/22/0015, entschieden hat. Gemäß § 43 Abs. 2 VwGG wird auf die eingehenden Entscheidungsgründe dieses Erkenntnisses verwiesen.

Daraus ergibt sich für den vorliegenden Fall zusammengefasst, dass dem Mitbeteiligten die ihm aus Art. 6 Abs. 1 erster Spiegelstrich ARB 1/80 zukommenden individuellen Rechte unmittelbar und unabhängig davon zustehen, ob die Behörden eine Aufenthaltsbewilligung ausstellen (vgl. ).

5.2. Dem Interesse an einer Bescheinigung der aus dem ARB 1/80 abgeleiteten Berechtigung wird durch die Erteilung einer Beschäftigungsbewilligung (vgl. § 4c Abs. 1 AuslBG), auf deren Ausstellung ein türkischer Arbeitnehmer bei Erfüllen der Voraussetzungen des ersten Spiegelstrichs des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 einen Rechtsanspruch hat, Rechnung getragen (vgl. ).

Hingegen würden die Rechte aus dem beantragten Aufenthaltstitel "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" über die Berechtigung nach Art. 6 Abs. 1 erster Spiegelstrich ARB 1/80 hinausgehen. Der Mitbeteiligte hat daher jedenfalls keinen Anspruch auf Erteilung eines solchen Aufenthaltstitels, mit dem ein unbeschränkter Zugang zum Arbeitsmarkt verbunden ist (vgl. § 17 AuslBG), der aus Art. 6 Abs. 1 erster Spiegelstrich ARB 1/80 nicht abgeleitet werden kann (vgl. ; , Ro 2018/22/0003).

6. Dem vermag der Mitbeteiligte in der Revisionsbeantwortung nichts Stichhältiges entgegenzusetzen.

6.1. Ein Verstoß gegen die Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 wegen behaupteter Verschlechterung der Rechtsposition durch das NAG gegenüber dem Fremdengesetz (FrG) 1997 kann nicht gesehen werden. Wie schon gesagt, stehen die aus Art. 6 ARB 1/80 zukommenden Rechte unmittelbar und unabhängig von der Ausstellung einer nationalen Aufenthaltsbewilligung zu; auch dem Interesse an einer Dokumentation ist durch die nach dem AuslBG zu erteilende Beschäftigungsbewilligung hinreichend Rechnung getragen.

Der Mitbeteiligte zeigt insbesondere mit dem Hinweis auf § 30 Abs. 3 FrG 1997 nicht auf, inwiefern er in seinem Recht auf Aufenthalt im Bundesgebiet schlechter gestellt sei (vgl. ).

Auch aus der Berufung auf das Diskriminierungsverbot des Art. 10 Abs. 1 ARB 1/80 (in Bezug auf die Entgelt- und Arbeitsbedingungen) ist für den Rechtsstandpunkt des Mitbeteiligten nichts zu gewinnen.

Aus der Verordnung (EG) Nr. 1030/2002 zur einheitlichen Gestaltung des Aufenthaltstitels für Drittstaatsangehörige kann gleichfalls ein Anspruch auf Erteilung eines bestimmten innerstaatlichen Aufenthaltstitels nicht abgeleitet werden (vgl. neuerlich VwGH Ro 2018/22/0004).

6.2. Der Mitbeteiligte argumentiert, das Erkenntnis Ro 2017/22/0015 beziehe sich auf eine Konstellation nach dem ersten Spiegelstrich ARB 1/80, nicht jedoch auf eine - im Revisionszeitpunkt bereits absehbare - Konstellation nach dem zweiten Spiegelstrich bzw. eine - im Zeitpunkt der Revisionsbeantwortung bereits gegebene - Konstellation nach dem dritten Spiegelstrich.

Für die Prüfung des angefochtenen Erkenntnisses ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt seiner Erlassung maßgeblich (). Rechtsausführungen unterliegen nur dann nicht dem Neuerungsverbot, wenn sie sich auf den festgestellten Sachverhalt beziehen; sind - wie hier mit Blick auf den zweiten und dritten Spiegelstrich des Art. 6 ARB 1/80 - zusätzliche Sachverhaltsfeststellungen erforderlich, so unterliegen die Rechtsausführungen dem Neuerungsverbot (vgl. ).

Im Übrigen hat der Verwaltungsgerichtshof bereits klargestellt, dass die im Erkenntnis Ro 2017/22/0015 getroffenen Aussagen auf Fälle nach dem zweiten und dritten Spiegelstrich des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 gleichermaßen bzw. sinngemäß anwendbar sind (vgl. , und abermals Ro 2019/22/0001).

6.3. Im Hinblick auf die vorangehenden Ausführungen ist auch für ein - vom Mitbeteiligten angeregtes - Vorabentscheidungsersuche n an den Gerichtshof der Europäischen Union kein Anlass zu sehen und wird eine diesbezügliche Notwendigkeit auch in der Revisionsbeantwortung nicht dargelegt.

7. Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Wien, am

Zusatzinformationen


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ECLI:
ECLI:AT:VWGH:2020:RA2017220123.L00
Schlagworte:
Besondere Rechtsgebiete Gemeinschaftsrecht Verordnung EURallg5 Individuelle Normen und Parteienrechte Rechtsanspruch Antragsrecht Anfechtungsrecht VwRallg9/2

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