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VwGH vom 23.11.2017, Ra 2017/22/0081

VwGH vom 23.11.2017, Ra 2017/22/0081

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Robl, Hofrätin Mag.a Merl sowie die Hofräte Dr. Mayr, Dr. Schwarz und Mag. Berger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Lechner, über die Revision des Bundesministers für Inneres in 1010 Wien, Herrengasse 7, gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichtes Wien vom , VGW- 151/V/074/4442/2017-1, betreffend Aussetzung des Verfahrens in einer Angelegenheit nach dem Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Landeshauptmann von Wien; mitbeteiligte Partei: S P in W, vertreten durch Dr. Josef Wegrostek, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Domgasse 6), zu Recht erkannt:

Spruch

Spruchpunkt I. des angefochtenen Beschlusses wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1 Die mitbeteiligte Partei, eine kambodschanische Staatsangehörige, verfügte über eine Aufenthaltsbewilligung "Sonderfälle unselbständiger Erwerbstätigkeit" gemäß § 62 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) mit einer Gültigkeit bis . Am beantragte sie unter Bezugnahme auf ihre am geschlossene Ehe mit dem österreichischen Staatsbürger E W die Erteilung eines Aufenthaltstitels "Familienangehöriger" gemäß § 47 NAG.

2 Mit Bescheid vom wies der Landeshauptmann von Wien (belangte Behörde) diesen Zweckänderungsantrag ab. Die belangte Behörde hielt fest, dass die mitbeteiligte Partei seit über einem halben Jahr von ihrem Ehemann getrennt lebe und kein Familienleben im Sinn des Art. 8 EMRK führe. Somit könne sie sich gemäß § 30 Abs. 1 NAG nicht auf eine aufrechte Ehe mit einem österreichischen Staatsbürger berufen. Die Voraussetzungen für den beantragten Aufenthaltstitel seien nicht erfüllt.

3 Mit dem angefochtenen Beschluss des Verwaltungsgerichtes Wien vom wurde das Verfahren über die dagegen erhobene Beschwerde der mitbeteiligten Partei gemäß § 17 VwGVG in Verbindung mit § 38 AVG bis zur rechtskräftigen Entscheidung in einem näher zitierten Verfahren vor dem Bezirksgericht Donaustadt (nach den weiteren Angaben im Beschluss sowie im vorliegenden Verfahrensakt dürfte das Verfahren beim Bezirksgericht Leopoldstadt anhängig sein) ausgesetzt (Spruchpunkt I.). Weiters wurden der mitbeteiligten Partei Barauslagen (für Dolmetscherkosten) in der Höhe von EUR 136,- auferlegt (Spruchpunkt II.) und die ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof wurde gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für unzulässig erklärt (Spruchpunkt III.).

4 Das Verwaltungsgericht stellte fest, dass der Ehemann der mitbeteiligten Partei am die Scheidung eingereicht habe. Dieses Verfahren sei zu der im Spruch des angefochtenen Beschlusses zitierten Zahl derzeit noch anhängig. Die mitbeteiligte Partei lebe seit im Frauenhaus und habe seit August 2016 beschlussmäßig Anspruch auf einstweiligen Unterhalt. Sie habe angegeben, mit ihrem Ehemann verheiratet bleiben zu wollen, und halte an ihrer Ehe mit E W fest. Der vernommene Ehmann habe unklare und teils widersprüchliche Aussagen gemacht, nach Auffassung des Verwaltungsgerichtes scheine er "in seinem Ehewillen zu schwanken". Im Mai 2017 solle eine weitere Tagsatzung im anhängigen Scheidungsverfahren stattfinden. Weiters begründete das Verwaltungsgericht die Aussetzung wie folgt:

"Der Ehemann der (mitbeteiligten Partei) hat als Kläger die Möglichkeit, z.B. die Scheidungsklage zurückzuziehen und die Ehe mit der (mitbeteiligten Partei) wieder aufzunehmen, welche nach wie vor einen Ehewillen hat und einstweiligen Unterhalt bezieht. Wie dargelegt hinterließ der Ehemann der (mitbeteiligten Partei) den Eindruck impulsiv und sprunghaft zu entscheiden, weshalb diese Möglichkeit jedenfalls besteht. (...) Der Ausgang des beim BG Donaustadt anhängigen Scheidungsverfahrens hat damit rechtliche und unmittelbare Auswirkungen auf das gegenständliche aufenthaltsrechtliche Verfahren, weshalb dieses auszusetzen und der rechtskräftige Ausgang des Scheidungsverfahrens abzuwarten ist."

5 Gegen die Spruchpunkte I. und III. dieses Beschlusses richtet sich die vorliegende außerordentliche Amtsrevision des Bundesministers für Inneres.

6 Die mitbeteiligte Partei erstattete eine Revisionsbeantwortung, in der sie beantragt, der Revision keine Folge zu geben.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

7 Zur Zulässigkeit der Revision wird ausgeführt, es liege keine Vorfrage im Sinn des § 38 AVG vor. Ein anhängiges Scheidungsverfahren stelle keinen Grund dar, ein Verfahren zur Erteilung eines Aufenthaltstitels auszusetzen. Die Ehe der mitbeteiligten Partei sei zum Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Beschlusses formal aufrecht gewesen. Ob die Voraussetzungen für eine Scheidung vorlägen bzw. die Ehe allenfalls in Zukunft geschieden werde oder nicht, sei für die Beurteilung nach § 47 NAG nicht relevant und somit vom Verwaltungsgericht nicht zu prüfen. Ob die Ehegatten im Betrachtungszeitraum ein Familienleben führten, hätte das Verwaltungsgericht selbst beurteilen müssen.

8 Die Revision ist im Hinblick auf dieses Vorbringen zulässig und auch berechtigt.

9 Der - gemäß § 17 VwGVG auch im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht maßgebliche - § 38 zweiter Satz AVG berechtigt dazu, das Verfahren bis zur rechtskräftigen Entscheidung einer im Ermittlungsverfahren auftauchenden Vorfrage auszusetzen, wenn die Vorfrage schon den Gegenstand eines anhängigen Verfahrens bei der zuständigen Verwaltungsbehörde bzw. beim zuständigen Gericht bildet oder ein solches Verfahren gleichzeitig anhängig gemacht wird. § 38 AVG erfasst nur Vorfragen, die als Hauptfragen von anderen Verwaltungsbehörden oder von den Gerichten zu entscheiden wären.

10 Die Erteilung eines Aufenthaltstitels "Familienangehöriger" setzt die Eigenschaft als Familienangehöriger im Sinn des § 2 Abs. 1 Z 9 NAG (vorliegend somit als Ehegattin) voraus. Die Frage, ob diese Voraussetzung erfüllt ist, kann vorliegend aber schon deshalb keine Aussetzung nach § 38 AVG nach sich ziehen, weil das Verwaltungsgericht selbst festgestellt hat, dass die Ehe der mitbeteiligten Partei zum Entscheidungszeitpunkt aufrecht (und die mitbeteiligte Partei somit Familienangehörige) war. Der Umstand, dass auf Grund der Entscheidung in einem anderen Verfahren (hier dem Scheidungsverfahren) das Vorliegen einer Voraussetzung allenfalls in der Zukunft (ex nunc) wegfallen könnte, ermächtigt nicht dazu, das Verfahren nach § 38 AVG bis zum Abschluss dieses anderen Verfahrens auszusetzen.

11 Nach § 11 Abs. 1 Z 4 NAG darf einem Fremden ein Aufenthaltstitel nicht erteilt werden, wenn (u.a.) eine Aufenthaltsehe (§ 30 Abs. 1 NAG) vorliegt. Nach § 30 Abs. 1 NAG dürfen sich Ehegatten, die ein gemeinsames Familienleben im Sinn des Art. 8 EMRK nicht führen, für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nicht auf die Ehe berufen. Beruft sich ein Fremder nach Auflösung des gemeinsamen Familienlebens auf seine Ehe, wird der Tatbestand des § 30 Abs. 1 NAG erfüllt und es liegt der absolute Versagungsgrund des § 11 Abs. 1 Z 4 NAG vor (vgl. ). Die belangte Behörde hat im vorliegenden Fall den Zweckänderungsantrag der mitbeteiligten Partei (u.a.) gemäß § 30 Abs. 1 NAG abgewiesen, weil sich die mitbeteiligte Partei auf ihre Ehe mit E W berufen habe, obwohl sie kein Familienleben im Sinn des Art. 8 EMRK mit ihrem Ehemann geführt habe.

12 Der Verwaltungsgerichtshof hat im Zusammenhang mit § 30 Abs. 1 NAG bereits festgehalten, dass ein formales Band der Ehe nicht ausreicht, um aufenthaltsrechtliche Wirkungen zugunsten des ausländischen Ehegatten abzuleiten (VwGH Ro 2016/22/0014). Der bloße Umstand, dass eine Ehe noch nicht geschieden wurde, ist nicht geeignet, das Bestehen eines gemeinsamen Familienlebens nachzuweisen (). Dem (vom dortigen Beschwerdeführer in seiner Beschwerde gegen die u.a. auf § 30 Abs. 1 NAG gestützte Abweisung seines Antrags auf Erteilung eines Aufenthaltstitels zum Zweck der Familiengemeinschaft ins Treffen geführten) Umstand, dass die Scheidungsklage der Ehefrau abgewiesen worden sei, hielt der Verwaltungsgerichtshof entgegen, dass die belangte Behörde nicht über den formalen Fortbestand der Ehe zu befinden sondern zu beurteilen habe, ob tatsächlich kein gemeinsames Familienleben im Sinn des Art. 8 EMRK geführt werde, und wies die Beschwerde als unbegründet ab (). Die Frage, ob ein gemeinsames Familienleben im Sinn des Art. 8 EMRK geführt wird, ist daher von der Frage, ob einer Scheidungsklage stattzugeben ist oder nicht, zu unterscheiden. Ob einer Scheidungsklage stattzugeben ist, stellt im Verfahren über die Erteilung eines Aufenthaltstitels keine Vorfrage dar.

13 Dem Vorbringen der mitbeteiligten Partei in ihrer Revisionsbeantwortung, mit der Entscheidung über die Scheidungsklage werde eine Feststellung über das Bestehen einer echten oder einer bloß auf Erlangung eines Aufenthaltstitels gerichteten Ehe getroffen und damit eine Vorfrage über den Bestand eines Familienlebens im Sinn des Art. 8 EMRK gelöst, ist Folgendes entgegenzuhalten:

14 Soweit auf den Abschluss der Ehe nur zur Erlangung eines Aufenthaltstitels abgestellt wird, ist darauf hinzuweisen, dass § 30 Abs. 1 NAG nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht erfordert, dass die Ehe - quasi in Missbrauchsabsicht - zu dem Zweck geschlossen wurde, einen Aufenthaltstitel zu erlangen ().

15 Soweit die Entscheidung über die Scheidungsklage als Abspruch über das Bestehen einer Familiengemeinschaft erachtet wird, ist Folgendes festzuhalten:

16 Keine Vorfrage im Sinn des § 38 AVG liegt vor, wenn die betreffende Rechtsfrage von keiner Behörde als Hauptfrage zu entscheiden ist; dass eine Rechtsfrage von einer anderen Behörde ihrerseits vorfrageweise beurteilt wird, ermächtigt nicht zur Aussetzung nach § 38 AVG (siehe die Nachweise bei Hengstschläger/Leeb, AVG § 38 Rz. 6). Dass es sich bei der Vorfrage um eine Frage handeln muss, über die von der anderen Behörde als Hauptfrage zu entscheiden ist, ergibt sich daraus, dass der besondere prozessökonomische Sinn der Vorschrift des § 38 AVG nur dann erreicht werden kann, wenn die andere Entscheidung, deren Ergehen abgewartet wird, in der Folge die Behörde bindet, wobei eine solche Bindungswirkung jedoch immer nur eine Entscheidung über eine Hauptfrage entfaltet. Die gegenseitige Bindung der Gerichte und der Verwaltungsbehörden erstreckt sich nur so weit, wie die Rechtskraft reicht, d.h. sie erfasst nur den Inhalt des Spruchs, nicht aber die Entscheidungsgründe (siehe ).

17 Mit der Entscheidung im anhängigen Scheidungsverfahren wird über die (Berechtigung der) Scheidungsklage (nach den unbestritten gebliebenen Ausführungen der mitbeteiligten Partei sowie den Unterlagen im vorliegenden Verfahrensakt handelt es sich dabei um eine Scheidungsklage wegen Verschuldens) des E W abgesprochen. Es ist zwar möglich, dass die Begründung eines derartigen Scheidungsurteils Ausführungen enthält, die Rückschlüsse auf das Vorliegen (oder Nichtvorliegen) eines Familienlebens des Drittstaatsangehörigen mit seinem Ehepartner zulassen. Der Verwaltungsgerichtshof hat auch bereits ausgesprochen, dass es im Zusammenhang mit der Frage des Bestehens einer Aufenthaltsehe zulässig ist, Ermittlungen anderer Behörden zu verwerten (siehe , mwN; vgl. auch das Erkenntnis , in dem auf "die Beweiswürdigung der (dort) belangten Behörde hinsichtlich des Scheidungsbeschlusses" Bezug genommen wird). Das ändert aber nichts daran, dass ein die Aufenthaltstitelbehörde bindender Abspruch über das Führen (bzw. Nichtführen) eines Familienlebens in einem hier gegenständlichen Urteil nicht getroffen wird und demnach keine Vorfrage im Sinn des § 38 AVG, die vom Gericht in dem im angefochtenen Beschluss zitierten Verfahren als Hauptfrage zu entscheiden ist, vorliegt.

18 Somit lagen die Voraussetzungen für eine Aussetzung nach § 38 AVG nicht vor. Spruchpunkt I. des angefochtenen Beschlusses war daher wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben. Von der Aufhebung des Spruchpunktes III. war abzusehen, weil dieser fallbezogen (und somit abweichend von der Konstellation, die dem Erkenntnis , zugrunde lag) im Hinblick auf den nicht angefochtenen Spruchpunkt II. weiterhin Bestand haben kann.

Wien, am

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