VwGH vom 25.04.2019, Ra 2017/22/0067
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Robl, die Hofrätin Mag.a Merl sowie die Hofräte Dr. Mayr, Dr. Schwarz und Mag. Berger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Strasser, über die Revision des Bundesministers für Inneres, gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom , VGW- 151/011/1806/2017-1, betreffend Aufenthaltstitel (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Landeshauptmann von Wien; mitbeteiligte Partei: A M, vertreten durch Mag. Wolfgang Auner, Rechtsanwalt in 8700 Leoben, Parkstraße 1/I), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufgehoben.
Begründung
1. Die Mitbeteiligte, eine kosovarische Staatsangehörige, stellte - nachdem mit rechtskräftigem Bescheid vom ihr Asylantrag vom abgewiesen und eine Rückkehrentscheidung erlassen worden war - am ohne ausgereist zu sein im Inland einen Erstantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" gemäß § 46 Abs. 1 Z 2 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) zum Zweck der Familienzusammenführung mit ihrem in Österreich rechtmäßig aufhältigen Ehemann, den sie am geehelicht hat und mit dem sie zwei - ebenfalls über Aufenthaltstitel verfügende - Kinder (geboren 2009 und 2015) hat. Am stellte die Mitbeteiligte einen Zusatzantrag nach § 21 Abs. 3 NAG auf Zulassung der Inlandsantragstellung.
2.1. Mit Bescheid vom wies die belangte Behörde den Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 46 Abs. 1 Z 2 NAG wegen unzulässiger Inlandsantragstellung nach § 21 Abs. 1 NAG ab. Die Mitbeteiligte sei als kosovarische Staatsangehörige zur sichtvermerksfreien Einreise nicht berechtigt und halte sich seit der rechtskräftigen Abweisung ihres Asylantrags und der Erlassung einer Rückkehrentscheidung unrechtmäßig im Bundesgebiet auf. Sie habe daher den gegenständlichen Antrag unzulässig im Inland gestellt. Dem Zusatzantrag gemäß § 21 Abs. 3 NAG sei nicht stattzugeben (gewesen), weil die (eingehend erörterte) Interessenabwägung nach § 11 Abs. 3 NAG kein Überwiegen des Privat- und Familienlebens, sondern ein Überwiegen der öffentlichen Interessen ergeben habe, die Ausreise zur Antragstellung im Herkunftsland sei möglich bzw. zumutbar.
2.2. Die Mitbeteiligte erhob gegen den Bescheid Beschwerde mit dem wesentlichen Vorbringen, es liege (aus näher erörterten Gründen) ein schützenswertes Privat- und Familienleben vor, das die öffentlichen Interessen überwiege, die Ausreise zur Antragstellung im Herkunftsland sei nicht möglich bzw. nicht zumutbar.
3.1. Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis gab das Verwaltungsgericht der Beschwerde der Mitbeteiligten (ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung) Folge, indem es aussprach, dass der bekämpfte Bescheid gemäß § 28 Abs. 4 VwGVG behoben, jedoch die Inlandsantragstellung gemäß § 21 Abs. 3 NAG bewilligt werde.
Das Verwaltungsgericht führte begründend im Wesentlichen aus, Prüfungsgegenstand sei der Zusatzantrag nach § 21 Abs. 3 NAG. Bei der Beurteilung eines solchen Antrags seien das allfällige Vorliegen eines Erteilungshindernisses und die Zumutbarkeit einer Ausreise zu prüfen sowie eine Abwägung des Privat- und Familienlebens im Sinn des Art. 8 EMRK vorzunehmen.
Vorliegend entfalte die Mitbeteiligte seit ihrer Einreise in das Bundesgebiet ein Familienleben mit ihrem Ehemann und ihren Kindern, wobei das jüngere Kind erst (rund) eineinhalb Jahre alt und daher stark von ihr abhängig sei. Sowohl der Ehemann als auch die Kinder seien zum Aufenthalt berechtigt; die Mitbeteiligte verfüge hingegen über keinen Aufenthaltstitel, weshalb sie nach Abweisung ihres Asylantrags und Erlassung einer Rückkehrentscheidung (der sie bislang nicht nachgekommen sei) den gegenständlichen Antrag gestellt habe.
Mit Blick auf die (näher erörterte) Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs sei im Rahmen der Abwägung nach Art. 8 EMRK fallbezogen vor allem das Bestehen eines Familienlebens im Bundesgebiet seit zwei Jahren zu beachten. Besondere Bedeutung komme auch dem vorrangig zu berücksichtigenden Kindeswohl zu. Aus dem Akteninhalt sei weiters nicht zu erschließen, ob in Anbetracht der familiären Situation die Rückkehrentscheidung gegen die strafrechtlich unbescholtene Mitbeteiligte (jemals) effektuiert werde. Auch der Verdacht, die frühere Ehe des Ehemanns mit einer Österreicherin von 2007 bis 2014 könnte eine Aufenthaltsehe gewesen sein, sei nicht erwiesen worden.
Im Hinblick darauf würden jedoch die öffentlichen Interessen die entgegenstehenden privaten und familiären Interessen der Mitbeteiligten keineswegs überwiegen. Dem Zusatzantrag nach § 21 Abs. 3 NAG sei daher stattzugeben (gewesen). Die belangte Behörde werde im fortgesetzten Verfahren das Vorliegen der Voraussetzungen des § 46 Abs. 1 Z 2 NAG näher zu prüfen haben.
3.2. Das Verwaltungsgericht sprach ferner aus, dass die ordentliche Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
4.1. Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die - Rechtswidrigkeit des Inhalts geltend machende - außerordentliche Revision des Bundesministers für Inneres mit einem Aufhebungsantrag.
Der Revisionswerber macht zur Zulässigkeit der Revision - unter dem Gesichtspunkt eines Abweichens von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs - (unter anderem) geltend, das Verwaltungsgericht habe entgegen der Regelung des § 28 (Abs. 2) VwGVG nicht in der Sache selbst entschieden und auch nicht näher begründet, warum es eine meritorische Entscheidungskompetenz für nicht gegeben erachte. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs sei eine Zurückverweisung nach § 28 Abs. 3 VwGVG nur bei krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken zulässig, die hier nicht gegeben seien. Die Anwendung des § 28 Abs. 4 VwGVG komme auch deshalb nicht in Betracht, weil kein Ermessen zu üben sei. Das Verwaltungsgericht sei ferner zu Unrecht davon ausgegangen, dass Verfahrensgegenstand der Zusatzantrag nach § 21 Abs. 3 NAG, und nicht (auch) der Antrag auf Erteilung des Aufenthaltstitels gemäß § 46 Abs. 1 Z 2 NAG sei.
4.2. Die Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung und beantragte die Zurück- bzw. Abweisung der Revision.
5. Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
Die Revision ist zulässig, weil das Verwaltungsgericht von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs abgewichen ist. Die Revision ist aus dem Grund auch berechtigt.
6.1. Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits festgehalten (vgl. ), dass das Verwaltungsgericht nachvollziehbar zu begründen hat, wenn es eine meritorische Entscheidungszuständigkeit nicht als gegeben annimmt und aus dem Grund eine Aufhebung und Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde ausspricht.
6.2. Vorliegend berief sich das Verwaltungsgericht zur Begründung der Aufhebung und Zurückverweisung auf § 28 Abs. 4 VwGVG, ohne jedoch näher darzulegen, warum von einem zu übenden Ermessen auszugehen wäre. Das Vorliegen einer Ermessensentscheidung ist - bei dem gegenständlichen Antrag gemäß § 46 Abs. 1 Z 2 NAG - für den Verwaltungsgerichtshof auch nicht ersichtlich.
6.3. Letztlich kann aber dahingestellt bleiben, ob es sich gegenständlich um eine Aufhebung und Zurückverweisung nach § 28 Abs. 4 VwGVG oder um eine solche nach § 28 Abs. 3 VwGVG handelt, erweist sich doch das angefochtene Erkenntnis in beiden Fällen als rechtswidrig. In beiden Bestimmungen ist nämlich vorgesehen, dass eine Aufhebung und Zurückverweisung erst dann in Betracht kommt, wenn die Voraussetzungen des § 28 Abs. 2 VwGVG, die eine Pflicht des Verwaltungsgerichts zur Entscheidung in der Sache selbst vorsehen, nicht vorliegen. Der Sachentscheidung kommt also jeweils der Vorrang vor einer Aufhebung und Zurückverweisung zu. Liegen die Voraussetzungen nach § 28 Abs. 2 VwGVG vor, so hat das Verwaltungsgericht eine Sachentscheidung zu treffen, eine Aufhebung und Zurückverweisung nach § 28 Abs. 3 oder Abs. 4 VwGVG ist in einem solchen Fall nicht zulässig (vgl. zum Ganzen ).
7.1. Wie der Verwaltungsgerichtshof zu den Voraussetzungen für kassatorische Entscheidungen nach § 28 Abs. 3 VwGVG in ständiger Rechtsprechung vertritt (vgl. ; , Ra 2018/22/0186) - wobei diese Judikatur nach dem Vorgesagten auch für § 28 Abs. 4 VwGVG beachtlich ist -, sind im Hinblick auf den gesetzlich festgelegten prinzipiellen Vorrang der meritorischen Entscheidungspflicht durch die Verwaltungsgerichte die nach § 28 VwGVG verbleibenden Ausnahmen von der meritorischen Entscheidungspflicht strikt auf den ihnen gesetzlich zugewiesenen Raum zu beschränken. Von der Möglichkeit der Zurückverweisung kann nur bei krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken - etwa wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt hat, bloß ansatzweise ermittelt hat oder (etwa schwierige) Ermittlungen unterlassen hat, damit diese dann vom Verwaltungsgericht vorgenommen werden - Gebrauch gemacht werden. Der Verwaltungsgerichtshof hat weiters hervorgehoben (vgl. ), dass selbst Bescheide, die in der Begründung dürftig sind, keine Aufhebung und Zurückverweisung der Sache rechtfertigen, wenn brauchbare Ermittlungsergebnisse vorliegen, die im Zusammenhalt mit einer allenfalls durchzuführenden mündlichen Verhandlung (§ 24 VwGVG) zu vervollständigen sind.
7.2. Vorliegend hat das Verwaltungsgericht in der angefochtenen Entscheidung in keiner Weise begründet (vgl. zur Begründungspflicht bereits Punkt 6.1.) und ist für den Verwaltungsgerichtshof auch nicht ersichtlich, dass die Voraussetzungen für eine meritorische Entscheidung im Sinn des § 28 Abs. 2 VwGVG nicht erfüllt wären, wird doch insbesondere nicht aufgezeigt und ist (vor allem mit Blick auf die im Rahmen der Abwägung nach Art. 8 EMRK getroffenen Feststellungen) auch nicht ersichtlich, in welcher Weise der relevante Sachverhalt noch nicht feststünde oder eine allenfalls erforderliche Ergänzung nicht vom Verwaltungsgericht selbst (im Rahmen einer mündlichen Verhandlung) rasch und kostensparend vorzunehmen wäre (vgl. ). Im Hinblick darauf ist jedoch das Verwaltungsgericht zu Unrecht davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen für eine Aufhebung und Zurückverweisung nach § 28 VwGVG vorliegen würden.
8. Nicht zuletzt ist darauf hinzuweisen, dass das Verwaltungsgericht die angefochtene Entscheidung auch insofern mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastete, als es über den Zusatzantrag nach § 21 Abs. 3 NAG gesondert ohne gleichzeitige Entscheidung über den Hauptantrag absprach und damit die Rechtssache (materielle Verwaltungssache) nur zum Teil erledigte (vgl. zur Unzulässigkeit einer gesonderten "Vorab-Entscheidung" über einen Zusatzantrag nach § 21 Abs. 3 NAG zur Vermeidung getrennter Rechtsmittelverfahren auch ErläutRV 88 BlgNR 24. GP, 8 f; ;).
9. Insgesamt war daher das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufzuheben.
Wien, am
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ECLI: | ECLI:AT:VWGH:2019:RA2017220067.L00 |
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