VwGH vom 29.06.2017, Ra 2017/21/0068
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Halm-Forsthuber, über die Revision der C R in I, vertreten durch Mag. Ronald Frühwirth, Rechtsanwalt in 8020 Graz, Grieskai 48, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom , Zl. G313 2119260-1/12E, betreffend Aufenthaltsverbot (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Mit Bescheid vom erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) gegen die Revisionswerberin, eine rumänische Staatsangehörige, gemäß § 67 Abs. 1 und 2 FPG ein auf die Dauer von zwei Jahren befristetes Aufenthaltsverbot, erteilte ihr gemäß § 70 Abs. 3 FPG keinen Durchsetzungsaufschub und erkannte gemäß § 18 Abs. 3 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) einer Beschwerde die aufschiebende Wirkung ab.
2 Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde ab und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.
3 Das BVwG stellte zusammengefasst fest, dass die Revisionswerberin zu einem unbekannten Zeitpunkt in das österreichische Bundesgebiet eingereist und seit dem an einer näher genannten Adresse obdachlos gemeldet sei. Ihr Bruder und ihre beiden Kinder lebten gemeinsam mit ihr in Österreich in einem Wohnprojekt. Am sei sie wegen des Verdachtes nach §§ 127, 130 StGB angezeigt worden. Das österreichische Strafverfahren sei abgebrochen worden und die rumänische Staatsanwaltschaft habe die Verfolgung übernommen. Der Ausgang des Verfahrens in Rumänien sei nicht bekannt. Die Revisionswerberin habe während ihres Aufenthaltes in Österreich einige Verwaltungsübertretungen begangen. Zu den Verwaltungsübertretungen führte das BVwG wörtlich aus:
"Sie (die Revisionswerberin) hat mit Stand insgesamt 16 Mal gegen das im Landes-Sicherheitsgesetz Vorarlberg, LGBl. Nr. 1/1987 idgF verankerte ,Bettelverbot' (§7) und das ,Bewilligungspflichtige Betteln' (§8) verstoßen, - zwei Mal wegen Benützung einer Seeanlage als Nachtruheplatz gemäß § 3 lit e der Verordnung der Landeshauptstadt Bregenz zum Schutz der Seeanlagen vom , einmal wegen Verletzung des öffentlichen Anstandes gemäß § 18 Abs. 1 lit a iVm § 1 Abs. 1 Sittenpolizeigesetz, einmal wegen Nichtbenützung eines Sicherheitsgurtes in einem Kraftfahrzeug gemäß § 134 Abs. 3 d Z. 1 iVm § 106 Abs. 2 Kraftfahrzeuggesetz (KFG), einmal gemäß Art. III Abs. 1 Z. 2 EGVG, weil sie sich ohne Entgeltentrichtung ,die Beförderung durch eine dem öffentlichen Verkehr dienende Einrichtung verschafft' hat, weiters einmal gegen § 79 Abs. 5a iVm 15 Abs. 3 Abfallwirtschaftsgesetz (AWG 1992), einmal wegen unbefugten Betretens einer Eisenbahnanlage gemäß § 47 Abs. 1 Eisenbahngesetz verstoßen hat, und wegen Verstoßes gegen das Meldegesetz nach §§ 22 Abs. 1 Z. 1, 3 Abs. 1 (Nichtmeldung innerhalb von drei Tagen nach Unterkunftnahme in einer Wohnung) Meldegesetz 1991, und gemäß § 77 Abs. 1 Z. 4 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz BGBl. I Nr. 40/2014 idgF (NAG) iVm § 53 Abs. 1 NAG, wegen nicht rechtzeitiger Beantragung einer Anmeldebescheinigung verstoßen hat.
Hinsichtlich der von der BF (der Revisionswerberin) begangenen Bettelverstöße wird festgestellt, dass die BF verbotenerweise zehnmal gemäß § 7 Abs. 1 lit. c (Vorarlberger) Landes-Sicherheitsgesetz, LGBl. Nr. 1/1987, in der Öffentlichkeit als Beteiligte einer organisierten Gruppe, einmal gemäß § 7 Abs. 1 lit. a Landes-Sicherheitsgesetz, LGBl. Nr. 1/1987 idgF, in der Öffentlichkeit ,in aufdringlicher oder aggressiver Weise, wie durch Anfassen, unaufgefordertes Begleiten, Nachgehen oder Beschimpfen', einmal gemäß § 7 Abs. 1 lit. b in der Öffentlichkeit unter Mitführung einer unmündigen minderjährigen Person gebettelt hat, und viermal gemäß § 7 Abs. 3 Landes-Sicherheitsgesetz LGBl. Nr. 1/1987 idgF, und Verordnung der Stadt Dornbirn vom über ein Bettelverbot während der Märkte in der Innenstadt verstoßen hat."
4 Die Revisionswerberin sei sowohl in Rumänien als auch in Österreich nie einer legalen Erwerbstätigkeit nachgegangen und habe sich im österreichischen Bundesgebiet auch nie als arbeitsuchend gemeldet. Ein Nachweis für eine gesundheitliche Beeinträchtigung der Revisionswerberin liege nicht vor. Sie sei somit arbeitsfähig, jedoch nicht arbeitswillig. Sie habe während ihres Aufenthaltes in Österreich bisher mehrmals versucht, sich durch Betteln ein Einkommen zu verschaffen. Dieses belaufe sich für die Revisionswerberin und ihre beiden Kinder auf EUR 10,-- bis 15,-- pro Tag.
5 Rechtlich führte das BVwG aus, das in Österreich durch Begehung "mehrerer verschiedenartiger Verwaltungsstraftaten" gesetzte Verhalten zeige, dass die Revisionswerberin grundsätzlich nicht bereit sei, sich an österreichische Rechtsvorschriften zu halten. Ihr persönliches Verhalten stelle eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit im Sinne von § 67 Abs. 1 FPG dar, müsse doch aufgrund der wirtschaftlichen Situation der Revisionswerberin jederzeit mit einem neuerlichen Rechtsverstoß gerechnet werden. Das Absehen von der Erteilung eines Durchsetzungsaufschubes sei wegen der von der Revisionswerberin ausgehenden akuten Gefahr für die öffentlichen Ordnung und Sicherheit notwendig. Die vom BFA ausgesprochene Aberkennung der aufschiebenden Wirkung sei daher unbedingt vonnöten gewesen, um ein weiteres derartiges Handeln der Revisionswerberin hintanzuhalten.
6 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens (eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet) erwogen hat:
7 Die Revision erweist sich - wie in ihrer Zulässigkeitsbegründung zutreffend aufgezeigt wird - deshalb als zulässig und berechtigt, weil das BVwG von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen ist, indem es keine Feststellungen zu dem den Verwaltungsübertretungen zu Grunde liegenden Fehlverhalten getroffen, eine Interessenabwägung gemäß § 9 BFA-VG unterlassen und von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen hat.
8 Gegen die Revisionswerberin als Unionsbürgerin wäre die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gemäß dem ersten bis vierten Satz des § 67 Abs. 1 FPG nur dann zulässig, wenn auf Grund ihres persönlichen Verhaltens die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet wäre. Das persönliche Verhalten muss nach dieser Bestimmung eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Strafrechtliche Verurteilungen allein können nicht ohne weiteres diese Maßnahme begründen. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig.
9 Bei der Erstellung der für jedes Aufenthaltsverbot zu treffenden Gefährdungsprognose ist das Gesamtverhalten des Fremden in Betracht zu ziehen und auf Grund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahin vorzunehmen, ob und im Hinblick auf welche Umstände die jeweils anzuwendende Gefährdungsannahme gerechtfertigt ist. Dabei ist nicht auf die bloße Tatsache der Verurteilung bzw. Bestrafung des Fremden, sondern auf die Art und Schwere der zu Grunde liegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen. Bei der nach § 67 Abs. 1 FPG zu erstellenden Gefährdungsprognose geht schon aus dem Gesetzeswortlaut klar hervor, dass auf das "persönliche Verhalten" des Fremden abzustellen ist und strafrechtliche Verurteilungen oder verwaltungsrechtliche Bestrafungen allein nicht ohne weiteres ein Aufenthaltsverbot begründen können (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom , Ra 2014/21/0057, mwN).
10 Das BVwG hat zum persönlichen Verhalten der Revisionswerberin keine Feststellungen getroffen, sondern sich auf die Wiedergabe der übertretenen Verwaltungsvorschriften beschränkt. Das ist nach der dargestellten Rechtsprechung nicht ausreichend, zumal die Verwaltungsübertretungen nicht schon für sich genommen eine solche Schwere aufweisen, dass sie die Gefährdungsprognose nach § 67 Abs. 1 erster bis vierter Satz FPG ohne weiteres indizieren würden, sind sie doch im Katalog des § 53 Abs. 3 FPG nicht enthalten (vgl. zum Verhältnis der Gefährdungsmaßstäbe noch § 67 Abs. 1 FPG und § 53 Abs. 3 FPG das hg. Erkenntnis vom , 2013/22/0233).
11 Das angefochtenen Erkenntnis enthält außerdem nur rudimentäre Feststellungen zum Privat- und Familienleben der Revisionswerberin, und eine darauf aufbauende Interessenabwägung gemäß § 9 BFA-VG fehlt überhaupt. Eine derartige unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung hat aber der Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme voranzugehen (vgl. etwa - zu einer Rückkehrentscheidung - das hg. Erkenntnis vom , Ra 2016/21/0029, mwN).
12 Schließlich hätte das BVwG auch die ausdrücklich beantragte mündliche Verhandlung durchführen müssen. Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt einer mündlichen Verhandlung bei der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks in Bezug auf die Gefährdungsprognose besondere Bedeutung zu. Von einem geklärten Sachverhalt im Sinne des § 21 Abs. 7 BFA-VG - nach dem eine mündliche Verhandlung unterbleiben kann, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht - kann bei der Erlassung aufenthaltsbeendender Maßnahmen im Allgemeinen nur in eindeutigen Fällen ausgegangen werden, in denen bei Berücksichtigung aller zugunsten des Fremden sprechenden Fakten auch dann für ihn kein günstigeres Ergebnis zu erwarten ist, wenn sich das Verwaltungsgericht von ihm einen persönlichen Eindruck verschafft (vgl. das hg. Erkenntnis vom , Ra 2016/21/0289). Ein derart eindeutiger Fall liegt aber hier nicht vor.
13 Angesichts der bisherigen Ausführungen ist auch die nicht weiter begründete Annahme des BVwG, es hätten die Voraussetzungen für die Zuerkennung eines Durchsetzungsaufschubes gemäß § 70 Abs. 3 FPG nicht vorgelegen, nicht nachvollziehbar. Das gilt auch für die Annahme, die Voraussetzungen für die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde gemäß § 18 Abs. 3 BFA-VG seien vorgelegen.
14 Das angefochtene Erkenntnis ist daher insgesamt mit Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften belastet, weshalb es gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben war.
15 Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am
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