VwGH vom 30.08.2017, Ra 2017/18/0070
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer und den Hofrat Mag. Nedwed, die Hofrätin Mag. Dr. Maurer-Kober, den Hofrat Dr. Sutter und die Hofrätin Dr. Koprivnikar als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Wech, über die Revision der
1. P P, 2. F P, und 3. E P, alle in V und vertreten durch Dr. Benno Wageneder, Rechtsanwalt in 4910 Ried/Innkreis, Promenade 3, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom , Zlen. G311 2014629-3/12E (zu 1.), G311 2014630-3/13E (zu 2.) und G311 2014636-2/17E (zu 3.), betreffend Asylangelegenheiten (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird insoweit, als damit die Beschwerde der Revisionswerberinnen gegen die Erlassung von Rückkehrentscheidungen und die Feststellung der Zulässigkeit ihrer Abschiebung in den Kosovo sowie gegen die Nichterteilung von Aufenthaltstiteln nach § 55 Asylgesetz 2005 abgewiesen und eine Frist zur freiwilligen Ausreise festgelegt worden ist, wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Im Übrigen wird die Revision als unbegründet abgewiesen.
Der Bund hat den Revisionswerberinnen Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Die Erstrevisionswerberin ist die Mutter der minderjährigen Zweitrevisionswerberinnen; sie alle sind Staatsangehörige des Kosovo, gehören zur albanischen Volksgruppe und bekennen sich zum römisch-katholischen Glauben.
2 Unstrittig ist, dass die Revisionswerberinnen den Kosovo im Jahr 2006 verlassen und anschließend sieben Jahre in Kroatien gelebt haben. Von dort gelangten sie im April 2013 nach Österreich und beantragten internationalen Schutz.
3 Diese Anträge wies das Bundesasylamt mit Bescheiden vom ab und wies die Revisionswerberinnen in den Kosovo aus. Die dagegen erhobenen Beschwerden wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) in Bezug auf die Entscheidung über die Anträge auf internationalen Schutz als unbegründet ab. Gemäß § 75 Abs. 20 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) wurde das Verfahren jedoch zur Prüfung der Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) zurückverwiesen.
4 Mit Bescheiden vom erteilte das BFA den Revisionswerberinnen keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §§ 57 und 55 AsylG 2005 und erließ gegen sie Rückkehrentscheidungen. Es wurde festgestellt, dass die Abschiebung der Revisionswerberinnen in den Kosovo zulässig sei. Die gegen diese Bescheide erhobenen Beschwerden wies das BVwG mit Erkenntnissen jeweils vom als unbegründet ab.
5 Am beantragten die Zweit- und Drittrevisionswerberinnen "Aufenthaltsberechtigungen besonderer Schutz" gemäß § 57 AsylG 2005. Auch diese Anträge blieben sowohl im Verfahren vor dem BFA als auch im Beschwerdeverfahren vor dem BVwG erfolglos.
6 Mit den gegenständlichen Anträgen vom beantragten die Revisionswerberinnen ein weiteres Mal internationalen Schutz. Diese Anträge wies das BFA mit Bescheiden jeweils vom ab, erteilte keine Aufenthaltstitel nach den §§ 55 und 57 AsylG 2005, erließ gegen die Revisionswerberinnen Rückkehrentscheidungen und stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass ihre Abschiebung in den Kosovo zulässig sei. Einer Beschwerde gegen diese Entscheidungen wurde gemäß § 18 Abs. 1 Z 1 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt.
7 Dagegen erhoben die Revisionswerberinnen mit Schreiben vom (beim BFA eingelangt am ) ohne anwaltliche Vertretung eine gemeinsame Beschwerde, die dem BVwG am vorgelegt wurde.
8 Mit Beschlüssen vom erkannte das BVwG dieser Beschwerde gemäß § 18 Abs. 5 BFA-VG die aufschiebende Wirkung zu.
9 Am führte das BVwG eine mündliche Verhandlung mit den Revisionswerberinnen durch, die dabei anwaltlich nicht vertreten waren.
10 Zuvor hatte der Rechtsvertreter der Revisionswerberinnen mit Schriftsatz vom eine (weitere) Beschwerde gegen die Bescheide des BFA vom erhoben, die er am beim BFA eingebracht hatte. In dieser Beschwerde wurde u.a. eine mündliche Verhandlung vor dem BVwG beantragt. Diese (ergänzende) Beschwerde langte beim BVwG nach Weiterleitung durch das BFA am ein.
11 Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom wies das BVwG die Beschwerde der Revisionswerberinnen als unbegründet ab und legte gemäß § 55 Abs. 1 und 2 FPG eine Frist von 14 Tagen für die freiwillige Ausreise fest.
12 Begründend stellte das BVwG zu den geltend gemachten Fluchtgründen fest, die Erstrevisionswerberin gebe an, während des Kosovokrieges im Mai 1998 von einem Mann vergewaltigt worden zu sein und seither psychische Probleme zu haben. Das sei auch der Grund für die seinerzeitige Ausreise nach Kroatien gewesen, zumal sie der Meinung sei, dieser Mann suche im Kosovo noch immer nach ihr, weshalb sie dorthin nicht zurückkehren könne. An die örtlichen Sicherheitsbehörden habe sie sich aber nie gewandt. Andere Gründe für den gestellten Antrag auf internationalen Schutz habe sie nicht. Auch die Zweit- und Drittrevisionswerberinnen hätten keine ergänzenden Fluchtgründe geltend gemacht. Ausgehend davon gelangte das BVwG zu dem Ergebnis, dass den Revisionswerberinnen kein Asyl oder subsidiärer Schutz zu gewähren sei. Die staatlichen Sicherheitsbehörden im Kosovo seien jedenfalls schutzfähig und -willig. Ein konkreter Anlass für das fluchtartige Verlassen des Kosovo durch die Familie habe nicht festgestellt werden können. Es könne auch nicht festgestellt werden, dass die Familienmitglieder bei Rückkehr in den Kosovo mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgungsgefahr ausgesetzt wären oder sonstige Gründe vorlägen, die einer Rückkehr in den Herkunftsstaat entgegenstehen würden.
13 Zur persönlichen Situation der Revisionswerberinnen und ihrer Integration in Österreich führte das BVwG aus, die Revisionswerberinnen hielten sich seit Ende April 2013 ohne Unterbrechung im Bundesgebiet auf. In ihrer Begleitung sei auch der Ehemann der Erstrevisionswerberin (Vater der Zweit- und Drittrevisionswerberinnen) und ein (volljähriger) Sohn der Erstrevisionswerberin (Bruder der Zweit- und Drittrevisionswerberinnen). Im Kosovo lebten noch immer Verwandte der Erstrevisionswerberin und ihres Ehemannes; in Österreich hielten sich zwei (weitere) Schwestern der Erstrevisionswerberin auf, zu denen aber kein Abhängigkeitsverhältnis bestehe. Alle Revisionswerberinnen seien strafrechtlich unbescholten. Ihre Muttersprache sei Albanisch, sie sprächen aber allesamt auch Kroatisch.
Die Erstrevisionswerberin sei als Köchin ausgebildet und habe diesen Beruf auch ausgeübt. In Österreich sei sie ohne regelmäßige Beschäftigung und lebe von der Grundversorgung, allerdings liege für sie eine Einstellungszusage vor. Sie leide an rezidivierenden mittelschweren bis schweren depressiven Episoden und einer posttraumatischen Belastungsstörung. In Österreich habe sie (zumindest) zwei Suizidversuche unternommen und sei mehrfach stationär in psychiatrischen Abteilungen behandelt worden. Zum Entscheidungszeitpunkt sei sie auf die Einnahme entsprechender Medikamente angewiesen und besuche regelmäßig einen Facharzt für Psychiatrie sowie Psychotherapie. Die Erstrevisionswerberin habe noch immer Kontakt zu einer ihrer im Kosovo lebenden Schwestern. Sie habe mehrere Deutschkurse besucht und das Sprachniveau B1/Teil 1 erreicht.
Die Zweitrevisionswerberin sei gesund und arbeitsfähig. Sie habe im Kosovo noch ein Jahr Grundschule besucht und anschließend den Kosovo gemeinsam mit den Eltern und Geschwistern in Richtung Kroatien verlassen. Die restliche Schulzeit habe sie in Kroatien absolviert. Sie spreche Kroatisch, aber auch sehr gut Deutsch. In Österreich habe sie den Polytechnischen Lehrgang besucht, und es sei ihr mit Bescheid des Arbeitsmarktservice vom eine Beschäftigungsbewilligung für eine Lehre zur Gastronomiefachfrau erteilt worden. Die Zweitrevisionswerberin engagiere sich in kulturellen und religiösen Vereinen in ihrer Wohnortgemeinde T. und habe nach eigenen Angaben viele österreichische Freunde.
Die Drittrevisionswerberin sei gesund und schulfähig. Sie habe den Kosovo mit ihren Eltern und Geschwistern bereits im Alter von einem Jahr verlassen und bis zum achten Lebensjahr in Kroatien gelebt. Wie ihre Mutter und ihre Schwester spreche sie Kroatisch, aber auch sehr gut Deutsch. Die Drittrevisionswerberin habe in Österreich erfolgreich die Volksschule besucht. Wie ihre Schwester engagiere sie sich in kulturellen und religiösen Vereinen in ihrer Wohnortgemeinde T. und habe nach eigenen Angaben viele österreichische Freunde.
In Bezug auf die gesamte Familie seien zahlreiche "Unterstützungs- und Integrationsschreiben" zur Vorlage gebracht worden. Eine Verpflichtungserklärung sei aber nicht abgegeben worden.
14 Rechtlich folgerte das BVwG zur Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung, die Dauer des Aufenthalts der Revisionswerberinnen im Bundesgebiet sei als kurz zu bezeichnen. Auch wenn sich die Revisionswerberinnen in dieser Zeit sehr um ihre Integration in die österreichische Gesellschaft bemüht hätten, sei die Schutzwürdigkeit ihres Privat- und Familienlebens in Österreich aufgrund des Umstandes, dass sie ihren Aufenthalt auf im Ergebnis unberechtigte Asylanträge gestützt hätten, nur in geringem Maße gegeben. Der vorliegende zweite Asylantrag sei darüber hinaus fast ausschließlich aus dem Grund gestellt worden, einer bereits drohenden Abschiebung zu entgehen. Die angeführten Integrationsbemühungen seien in einem Zeitraum gesetzt worden, in dem für die Revisionswerberinnen kein ausreichender Grund für die Annahme bestanden habe, in Österreich bleiben zu dürfen. Die Revisionswerberinnen hätten auch keine eigenen Existenzmittel in Österreich nachgewiesen. Ihre guten bis ausgezeichneten Deutschkenntnisse seien allein noch nicht ausreichend, um die fortgeschrittene oder gar vollständige Integration in Österreich annehmen zu können. Die Erstrevisionswerberin spreche Albanisch und sei demnach auch sprachlich im Kosovo integriert. Die Zweitrevisionswerberin habe bis zu ihrem sechsten Lebensjahr im Kosovo gelebt; sie habe somit fast die Hälfte ihres Lebens im Kosovo verbracht. Sie habe es auch geschafft, sich sowohl in Kroatien als auch in Österreich binnen kürzester Zeit Sprachkenntnisse anzueignen und sich einen Freundeskreis aufzubauen. Auch wenn sie angebe, in Bezug auf die Muttersprache Albanisch mittlerweile Sprachdefizite aufzuweisen, sei eine Rückkehr in den Herkunftsstaat zumutbar. Dies gelte auch für die Drittrevisionswerberin, die den Kosovo zwar im Alter von nur einem Jahr verlassen und ihre sozial prägenden Jahre in Kroatien verbracht habe. Auch ihre Muttersprache sei Albanisch, sie sei noch in einem anpassungsfähigen Alter und sie könne daher in zumutbarer Weise in den Kosovo zurückgebracht werden.
15 Die Unzulässigkeit der Revision begründete das BVwG damit, dass sich das Verwaltungsgericht bei allen erheblichen Rechtsfragen an der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, des Verfassungsgerichtshofes und des EGMR orientiert habe.
16 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision. Darin führen die Revisionswerberinnen aus, durch die Entscheidung in ihren einfach gesetzlichen Rechten verletzt zu werden, nicht in Österreich verbleiben zu können, sondern in die Republik Kosovo ausreisen zu müssen.
17 Zur Zulässigkeit und in der Sache macht die Revision geltend, es sei in der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht hinreichend geklärt worden, wie mit Fremden in Bezug auf die Rückkehrentscheidung umzugehen sei, deren Sozialisierung - wie bei der Zweit- und Drittrevisionswerberin - nicht im Herkunftsland stattgefunden habe, sondern zunächst in einem Staat des Zwischenaufenthalts (hier: Kroatien) und dann in Österreich. Es sei beispielsweise zu berücksichtigen, dass die Zweitrevisionswerberin nur etwa sechs Jahre im Kosovo verbracht habe, dann aber sieben Jahre in Kroatien und bislang vier Jahre in Österreich. Damit habe sie - entgegen den Ausführungen des BVwG - jedenfalls nicht die Hälfte ihres Lebens im Herkunftsstaat verbracht. Eine Rückkehr in den Kosovo sei in dieser Situation unverhältnismäßig.
18 Verfahrensrechtlich sei dem BVwG anzulasten, dass es die mündliche Verhandlung ohne Beiziehung des bevollmächtigten Rechtsvertreters der Revisionswerberinnen durchgeführt habe. Wäre dieser bei der Verhandlung anwesend gewesen, so hätte er - näher umschriebenes - präzisierendes Vorbringen zur Sozialisierung insbesondere der Zweit- und Drittrevisionswerberinnen erstatten können. Es hätte die Entwurzelung im Kosovo dargestellt werden können und es wäre möglich gewesen, die Integrationsschritte der Revisionswerberinnen in Österreich näher zu erörtern. Bei einer richtigen Abwägung der öffentlichen und privaten Interessen hätte das BVwG dann zu einem anderen Ergebnis kommen müssen.
19 Das BFA hat keine Revisionsbeantwortung erstattet.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
20 Die Revision ist im Sinne der Zulassungsbegründung
zulässig; sie ist auch begründet.
21 Im Ergebnis zu Recht macht die Revision geltend, dass das
BVwG sein Verfahren mit einem Verfahrensmangel belastet hat:
Wie sich aus der Wiedergabe des Verfahrensverlaufes ergibt,
haben die Revisionswerberinnen ihre gemeinsame Beschwerde gegen die Bescheide des BFA vom zunächst ohne anwaltliche Unterstützung erhoben und auch auf keine Bevollmächtigung eines Rechtsanwaltes für das Beschwerdeverfahren hingewiesen. Diese Beschwerde wurde dem BVwG am vorgelegt. Bis zur mündlichen Verhandlung am , die ohne Beiziehung des Rechtsvertreters der Revisionswerberinnen stattfand, hatte das BVwG keine Kenntnis von der Bevollmächtigung eines Rechtsvertreters erlangt. Am langte beim BVwG allerdings die - als Beschwerdeergänzung anzusehende - anwaltlich verfasste "Bescheidbeschwerde" vom ein, die dieser am beim BFA eingebracht hatte und in der u.a. auch die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragt worden war. Eine neuerliche Verhandlung unter Beiziehung des Rechtsvertreters der Revisionswerberinnen führte das BVwG im Folgenden jedoch nicht durch.
22 Rechtlich ist dazu festzuhalten, dass das BVwG bei Durchführung der Verhandlung am noch von keiner Bevollmächtigung des Rechtsvertreters der Revisionswerberinnen für das Beschwerdeverfahren in Kenntnis war und dem Verwaltungsgericht daher auch nicht angelastet werden kann, den Rechtsvertreter zu dieser Verhandlung nicht beigezogen zu haben. Dass die Beschwerdeergänzung vom , die eine Bevollmächtigung des Rechtsvertreters offengelegt hatte, schon vor der mündlichen Verhandlung beim BFA eingelangt war, ändert daran nichts. Gemäß § 20 letzter Satz VwGVG sind Schriftsätze nach Vorlage der Beschwerde nicht mehr beim BFA, sondern beim Verwaltungsgericht einzubringen. Die Beschwerdeergänzung vom wäre daher nicht beim BFA, sondern beim BVwG einzubringen gewesen. Das entband das BFA zwar nicht davon, den fehlerhaft bei ihm eingebrachten Schriftsatz gemäß § 6 Abs. 1 AVG ohne unnötigen Aufschub an das zuständige BVwG weiterzuleiten; dabei aufgetretene Verzögerungen gehen aber zu Lasten der Partei, die den Schriftsatz bei der falschen Einbringungsstelle eingebracht hat, somit im vorliegenden Fall zu Lasten der Revisionswerberinnen.
23 Ungeachtet dessen durfte das BVwG nach Erhalt der rechtsfreundlich verfassten Beschwerdeergänzung nicht ohne Weiteres davon ausgehen, dem darin enthaltenen Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung ohnedies schon entsprochen zu haben. Dieser Antrag konnte nämlich nur so verstanden werden, dass die Verhandlung in Anwesenheit des Rechtsvertreters durchgeführt werden möge, um dem effektiven Rechtsschutz Genüge zu tun. In dieser Situation hätte das BVwG entweder eine neuerliche Verhandlung unter Beiziehung des Rechtsvertreters der Revisionswerberinnen durchführen oder im angefochtenen Erkenntnis darlegen müssen, aus welchen Gründen eine neuerliche Verhandlung mit dem Rechtsvertreter der Revisionswerberinnen nicht geeignet gewesen wäre, ein anderes Verfahrensergebnis zu erzielen. Weder das eine noch das andere hat das BVwG getan, weshalb das Beschwerdeverfahren mangelhaft blieb.
24 Dieser Verfahrensmangel wäre nur dann nicht wesentlich, wenn ihm für das Ergebnis des Verfahrens keine Relevanz zukommen kann. Davon kann aber unter Bedachtnahme auf das Vorbringen der Revision aus folgenden Gründen nicht von vornherein ausgegangen werden:
25 Soweit das BVwG den Revisionswerberinnen weder den Status von Asylberechtigten noch von subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt hat, erweist sich der aufgezeigte Verfahrensmangel als irrelevant. Im Verfahren wurden keine Gründe geltend gemacht, die nach den einschlägigen Normen (§§ 3 Abs. 1 und 8 Abs. 1 AsylG 2005) die Gewährung internationalen Schutzes an die Revisionswerberinnen rechtfertigen würden. Derartiges wird von den Revisionswerberinnen in der Revision auch nicht mehr geltend gemacht und sie erachten sich durch die angefochtene Entscheidung in ihren Rechten auf Zuerkennung von internationalem Schutz gar nicht als verletzt. Auch in Bezug auf die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels nach § 57 AsylG 2005 zeigt die Revision keine Fehlbeurteilung durch das BVwG auf. Soweit die Revision - formal - auch diese Spruchpunkte des Erkenntnisses des BVwG bekämpft, ist ihr somit kein Erfolg beschieden.
26 Hinsichtlich der gegen die Revisionswerberinnen erlassenen Rückkehrentscheidungen und der daran anknüpfenden Spruchpunkte kann jedoch nicht davon ausgegangen werden, dass der in Rede stehende Verfahrensmangel keinen möglichen Einfluss auf das Verfahrensergebnis haben konnte, legt die Revision doch ausreichend dar, dass der rechtsfreundliche Vertreter der Revisionswerberinnen in der mündlichen Verhandlung einigen Annahmen des BVwG im Zuge der Abwägungsentscheidung nach Art. 8 EMRK insbesondere hinsichtlich der Möglichkeit zur Wiedereingliederung im Heimatland entgegentreten hätte können.
27 Im Übrigen erweisen sich die Überlegungen des BVwG zu der Frage, ob durch eine erzwungene Rückkehr der Revisionswerberinnen in den Herkunftsstaat diese in ihren durch Art. 8 EMRK geschützten Rechten auf Privatleben verletzt würden, als teilweise mangelhaft begründet. So trifft es nachweislich nicht zu, dass die Zweitrevisionswerberin mehr als die Hälfte ihres bisherigen Lebens im Kosovo verbracht hat. Auch findet sich in der Begründung der Entscheidung keine ausreichende Auseinandersetzung mit allen bei der Abwägungsentscheidung maßgeblichen Kriterien.
28 Die Revision problematisiert in diesem Zusammenhang vor allem das Kriterium der Bindungen der Zweit- und Drittrevisionswerberinnen zum Heimatstaat - ein Kriterium, dem bei Beurteilung des Privatlebens im Sinne des Art. 8 EMRK auch gemäß § 9 Abs. 2 Z 5 BFA-VG Beachtung zu schenken ist. Dazu hat der Verwaltungsgerichtshof in seiner Rechtsprechung unter Bezugnahme auf Judikatur des EGMR bereits Folgendes ausgesprochen: Soweit, wie im vorliegenden Fall, Kinder bzw. Minderjährige von einer Rückkehrentscheidung betroffen sind, sind die besten Interessen und das Wohlergehen dieser Kinder, insbesondere das Maß an Schwierigkeiten, denen sie im Heimatstaat begegnen, sowie die sozialen, kulturellen und familiären Bindungen sowohl zum Aufenthaltsstaat als auch zum Heimatstaat zu berücksichtigen (vgl. dazu etwa die Urteile des EGMR vom , Üner gegen die Niederlande, Beschwerde Nr. 46410/99, Randnr. 58, und vom , Neulinger und Shuruk gegen die Schweiz, Beschwerde Nr. 41615/07, Randnr. 146). Maßgebliche Bedeutung hat der EGMR dabei in seiner Rechtsprechung den Fragen beigemessen, wo die Kinder geboren wurden, in welchem Land und in welchem kulturellen und sprachlichen Umfeld sie gelebt haben, wo sie ihre Schulbildung absolviert haben, ob sie die Sprache des Heimatstaats sprechen, und insbesondere, ob sie sich in einem anpassungsfähigen Alter ("adaptable age"; vgl. dazu die Urteile des EGMR vom , Darren Omoregie und andere gegen Norwegen, Beschwerde Nr. 265/07, Randnr. 66, vom , Onur gegen das Vereinigte Königreich, Beschwerde Nr. 27319/07, Randnr. 60, und vom , Omojudi gegen das Vereinigte Königreich, Beschwerde Nr. 1820/08, Randnr. 46) befinden (vgl. zum Ganzen etwa ).
29 Führt die Überprüfung des Kriteriums nach § 9 Abs. 2 Z 5 BFA-VG zu dem Ergebnis, dass eine Minderjährige zum Heimatland keine oder nur mehr äußerst geringe Bindungen aufweist, wird das - vorausgesetzt, sie ist unbescholten und hat in Österreich einen ausreichenden Grad an Integration erreicht - in der Regel dafür sprechen, ihr den weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet zu ermöglichen, und zwar jedenfalls dann, wenn nicht - in zumutbarer Weise - erwartet werden kann, dass sie sich im Falle einer Rückführung an die Verhältnisse im Heimatland, etwa das Erlernen der dortigen Sprache, den Aufbau neuer Kontakte, die Fortsetzung einer begonnenen Ausbildung, usw., wieder anpassen.
30 In einem solchen Fall kommt auch bei einer verhältnismäßig kurzen Aufenthaltsdauer in Österreich den fehlenden Bindungen der Minderjährigen zum Heimatstaat im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtabwägung großes Gewicht zu. Der Verwaltungsgerichtshof hat schon wiederholt darauf hingewiesen, dass die Aufenthaltsdauer nach § 9 Abs. 2 Z 1 BFA-VG nur eines von mehreren im Zuge der Interessenabwägung zu berücksichtigenden Kriterien darstellt, weshalb auch nicht gesagt werden kann, dass bei Unterschreiten einer bestimmten Mindestdauer des Aufenthalts in Österreich jedenfalls von einem deutlichen Überwiegen der öffentlichen Interessen an der Beendigung des Aufenthalts im Bundesgebiet gegenüber den gegenteiligen privaten Interessen auszugehen ist (vgl. etwa bis 0058). Allerdings hat er auch betont, dass einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung für die durchzuführende Interessenabwägung zukommt (siehe das soeben zitierte Erkenntnis; weiters etwa , vom , Ra 2015/22/0158, und vom , Ra 2016/19/0031).
31 Wenn die Revision die Frage aufwirft, welche Bedeutung bei der vorzunehmenden Interessenabwägung nach Art. 8 Abs. 2 EMRK einem mehrjährigen Aufenthalt von Minderjährigen in einem Drittstaat zukommt, ist sie auf das bisher Gesagte zu verweisen. Die Tatsache, dass sich Minderjährige nach dem Verlassen ihres Heimatlandes längere Zeit in einem Drittstaat aufgehalten haben, ehe sie in das Bundesgebiet gelangt sind, spielt nur insoweit eine Rolle, als durch diesen Zwischenaufenthalt in einem Drittstaat die Bindungen zum Heimatland abgebrochen sein können. Es ändert aber nichts daran, dass es - neben den weiteren Kriterien des § 9 Abs. 2 BFA-VG - maßgeblich auf die Bindungen zum Heimatland ankommt (§ 9 Abs. 2 Z 5 BFA-VG), die Art und Dauer des Aufenthaltes in Österreich (§ 9 Abs. 2 Z 1 BFA-VG) und den Grad der Integration in Österreich (§ 9 Abs. 2 Z 4 BFA-VG).
32 Um von einem - für die Abwägungsentscheidung relevanten - Grad an Integration (§ 9 Abs. 2 Z 4 BFA-VG) ausgehen zu können, muss sich die betroffene Minderjährige während ihrer Aufenthaltsdauer im Bundesgebiet bereits soweit integriert haben, dass aus dem Blickwinkel des Kindeswohles mehr für den Verbleib im Bundesgebiet als für die Rückkehr in den Herkunftsstaat spricht, und dieses private Interesse mit dem öffentlichen Interesse eines friedlichen Zusammenlebens von Menschen unterschiedlicher Herkunft und damit des Zusammenhalts der Gesellschaft in Österreich korreliert. Aus der Sicht der Minderjährigen bedeutet dies vor allem, dass sie sich gute Kenntnisse der deutschen Sprache aneignen, ihre Aus- und/oder Weiterbildung entsprechend dem vorhandenen Bildungsangebot wahrnehmen und sich mit dem sozialen und kulturellen Leben in Österreich vertraut machen, um - je nach Alter fortschreitend - am gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben in Österreich teilnehmen zu können.
33 In der Rechtsprechung der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts wurde auch schon erkannt, dass integrationsbegründende Umstände gemindert werden, wenn sie zu einem Zeitpunkt entstanden sind, zu dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste und somit nicht damit rechnen durfte, dauerhaft in Österreich bleiben zu können (vgl. etwa bis 0058; Derartiges sieht der Kriterienkatalog des § 9 Abs. 2 BFA-VG in seiner Z 8 auch ausdrücklich vor). Der Verfassungsgerichtshof hat jedoch auch darauf hingewiesen, dass einem Minderjährigen, der seine Eltern nach Österreich begleitete, dies nicht in jenem Maße zugerechnet werden kann wie seinen Obsorgeberechtigten (vgl. etwa u.a., mwN). Bei der Gesamtabwägung kommt diesem Umstand daher bei solchen Minderjährigen im Vergleich zu anderen Kriterien weniger Gewicht zu.
34 Im fortgesetzten Verfahren wird das BVwG daher nach Behebung des Verfahrensmangels im Wege einer - neuerlichen - mündlichen Verhandlung unter Beiziehung des Rechtsvertreters der Revisionswerberinnen eine Abwägungsentscheidung über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidungen zu treffen haben, die sich an den aufgezeigten rechtlichen Leitlinien orientiert und entsprechend begründet ist.
35 Das angefochtene Erkenntnis war daher im spruchgemäßen Umfang gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben, im Übrigen jedoch gemäß § 42 Abs. 1 VwGG als unbegründet abzuweisen.
36 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am