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VwGH vom 17.10.2012, 2010/08/0110

VwGH vom 17.10.2012, 2010/08/0110

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Müller und die Hofräte Dr. Strohmayer, Dr. Lehofer und MMag. Maislinger als Richter sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterin, im Beisein der Schriftführerin Mag. Dobner, über die Beschwerde der K R in Wien, vertreten durch Dr. Thomas Majoros, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Walfischgasse 12/3, gegen den Bescheid des Landeshauptmannes von Wien vom , Zl. MA 40 - SR 13137/09, betreffend Wiederaufnahme eines Verfahrens zur Feststellung der Versicherungszeiten gemäß § 247 Abs. 1 ASVG (mitbeteiligte Partei:

Pensionsversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft in 1021 Wien, Friedrich Hillegeist-Straße 1), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufgehoben.

Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Die Beschwerdeführerin beantragte am mittels Internet-Kontaktformulars, schriftlich ergänzt am , bei der mitbeteiligten Pensionsversicherungsanstalt gemäß § 247 ASVG die Feststellung der Versicherungszeiten.

Mit Bescheid vom stellte die Pensionsversicherungsanstalt in Erledigung dieses Antrages fest, dass die Beschwerdeführerin bis zum Feststellungszeitpunkt nach den österreichischen Rechtsvorschriften 473 "Beitragsmonat(e) der Pflichtversicherung - Erwerbstätigkeit", sohin insgesamt 473 Versicherungsmonate, erworben habe. Eine Aufstellung der erworbenen Versicherungszeiten (in Form des "verdichteten" Versicherungsverlaufs) liege dem Bescheid bei. Außerdem wurde der Beschwerdeführerin ein Schreiben übermittelt, in dem darauf hingewiesen wurde, dass die Voraussetzungen für die Alterspension zum Stichtag und die Voraussetzungen für die vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer unter der Voraussetzung des Erwerbs weiterer sieben Beitragsmonate zum Stichtag erfüllt seien.

Der Bescheid vom erwuchs in Rechtskraft.

Am beantragte die Beschwerdeführerin die Gewährung einer vorzeitigen Alterspension bei langer Versicherungsdauer zum Stichtag .

Die mitbeteiligte Pensionsversicherungsanstalt nahm daraufhin - nach einer (neuerlichen) Abfrage der vom Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger gespeicherten Versicherungsdaten - mit Bescheid vom das mit dem Bescheid vom abgeschlossene Verfahren gemäß § 69 Abs. 1 Z 2 AVG wieder auf und stellte fest, dass die Beschwerdeführerin zum Feststellungszeitpunkt 361 Beitragsmonate und 80 Ersatzmonate erworben habe. Begründend erklärte sie nach Wiedergabe des § 69 Abs. 1 Z 2 und Abs. 3 AVG, der Pensionsversicherungsanstalt sei nach Bescheiderlassung bekannt geworden, dass von der Wiener Gebietskrankenkasse "das Ende der Pflichtversicherung von der Firma (K.) auf berichtigt" worden sei.

Gegen die mit diesem Bescheid erfolgte Verfügung der Wiederaufnahme erhob die beschwerdeführende Partei Einspruch an die belangte Behörde. Diese wies den Einspruch mit dem angefochtenen Bescheid als unbegründet ab.

Begründend führte sie aus, der Feststellung vom sei ein vom Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger am gespeicherter Versicherungsverlauf zugrunde gelegen, wonach die Beschwerdeführerin 473 Beitragsmonate der Pflichtversicherung aufzuweisen habe. Nach diesem Versicherungsverlauf sei sie in der Zeit von September 1969 bis August 1972 als Lehrling und in der Zeit von September 1972 bis Jänner 2009 als Angestellte durchgehend nach dem ASVG pflichtversichert gewesen. Nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens betreffend Feststellung der Versicherungszeiten habe die Beschwerdeführerin am einen Antrag auf Gewährung einer vorzeitigen Alterspension bei langer Versicherungsdauer gestellt. Auf Grund dieses Antrages habe die mitbeteiligte Pensionsversicherungsanstalt am eine neuerliche Abfrage des beim Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger gespeicherten Versicherungsverlaufs getätigt, wobei die zentrale Datenspeicherung nunmehr lediglich 361 Beitragsmonate der Pflichtversicherung sowie 80 Ersatzmonate und somit insgesamt 441 Versicherungsmonate ausweise. Nach diesem Versicherungsverlauf scheine in der Zeit von September 1972 bis Jänner 2009 kein durchgehender Beschäftigungsverlauf mehr auf. Außerdem seien insgesamt 48 Monate Arbeitslosengeldbezug ausgewiesen.

Nach der Aktenlage sei der am beim Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger gespeicherte Versicherungsverlauf offensichtlich unrichtig gewesen, wobei dies für die Pensionsversicherungsanstalt nicht erkennbar gewesen sei. Ein Verschulden der Pensionsversicherungsanstalt liege daher nicht vor. Die Pensionsversicherungsanstalt könne auch kein Verschulden daran treffen, dass die zentrale Datenspeicherung des Hauptverbandes zwischen den beiden Abfragen vom und berichtigt worden sei. Außerdem habe der Beschwerdeführerin bekannt sein müssen, dass sie seit September 1972 nicht durchgehend als Angestellte beschäftigt gewesen sei.

Somit lägen auf Grund der zentralen Datenspeicherung des Hauptverbandes vom neue Tatsachen gemäß § 69 Abs. 1 Z 2 AVG vor, welche der Pensionsversicherungsanstalt erst nach Erlassung des Bescheides vom bekannt geworden seien und allein oder in Verbindung mit dem sonstigen Ergebnis des Verfahrens voraussichtlich einen im Hauptinhalt des Spruches anders lautenden Bescheid herbeigeführt hätten. Die Voraussetzungen für die amtswegige Wiederaufnahme des Verfahrens gemäß § 69 Abs. 1 Z 2 AVG seien daher gegeben gewesen.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde. Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt und ebenso wie die mitbeteiligte Partei eine Gegenschrift erstattet, in der sie kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde beantragt.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

1. Gemäß § 357 Abs. 1 ASVG gelten für das Verfahren vor den Versicherungsträgern in Leistungssachen und in Verwaltungssachen insbesondere die Bestimmungen der §§ 69 und 70 AVG über die Wiederaufnahme des Verfahrens entsprechend. Bei der Entscheidung über einen Wiederaufnahmeantrag durch einen Sozialversicherungsträger handelt es sich um eine Verwaltungssache im Sinne des § 335 ASVG. Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist der Bescheid eines Sozialversicherungsträgers, mit dem in einer Leistungssache die Wiederaufnahme von Amts wegen verfügt wird, trotz § 70 Abs. 3 zweiter Satz AVG im Verwaltungsweg durch Einspruch an den Landeshauptmann zu bekämpfen (vgl. das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2009/08/0076, mwN).

Eine amtswegige Wiederaufnahme eines durch rechtskräftigen Bescheid eines Sozialversicherungsträgers abgeschlossenen Leistungsverfahrens durch den Sozialversicherungsträger nach § 69 Abs. 3 in Verbindung mit Abs. 1 Z 2 AVG setzt voraus, dass nach rechtskräftigem Abschluss des Leistungsverfahrens neue Tatsachen oder Beweismittel hervorkommen, die im Leistungsverfahren ohne Verschulden des Sozialversicherungsträgers nicht geltend gemacht werden konnten und die allein oder in Verbbindung mit dem sonstigen Ergebnis des Verfahrens voraussichtlich einen im Hauptinhalt des Spruchs anders lautenden Bescheid herbeigeführt hätten.

Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes handelt es sich bei dem auch bei der amtswegigen Wiederaufnahme beachtlichen Verschulden im Sinne des § 69 Abs. 1 Z 2 AVG um ein Verschulden im Sinne des § 1294 ABGB. Es vermag daher auch ein Mangel der gehörigen Aufmerksamkeit ein Verschulden nach der erstgenannten Gesetzesstelle zu begründen. Ein solches Verschulden kann auch in einem Verfahrensmangel gelegen sein, der zur Folge hatte, dass die erst nachträglich hervorgekommene Tatsache nicht schon im abgeschlossenen Verfahren verwertet werden konnte. Im Ermittlungsverfahren unterlaufene Fehler schließen die Annahme einer unverschuldeten Unkenntnis einer Tatsache auf Seiten der Behörde und damit die Zulässigkeit einer Wiederaufnahme des Verfahrens von Amts wegen unter Berufung auf § 69 Abs. 1 Z 2 AVG aus. Der Umstand, dass im § 357 Abs. 1 ASVG die Bestimmungen des AVG über das Ermittlungsverfahren (mit Ausnahme der §§ 38, 39a und 53b) nicht für anwendbar erklärt wurden, enthebt die Sozialversicherungsträger - auch unter Berücksichtigung der Intention des Sozialversicherungsgesetzgebers auf rationelle Gestaltung der Massenverfahren nach diesen Gesetzen - nicht der Verpflichtung, den maßgebenden Sachverhalt in ausreichendem Maße festzustellen (vgl. zum Ganzen das hg. Erkenntnis vom , Zl. 94/08/0290, mwN).

2. Die Beschwerdeführerin macht geltend, dass die mitbeteiligte Pensionsversicherungsanstalt an der Nichtberücksichtigung des korrekten Versicherungsverlaufs ein Verschulden getroffen habe. Mit Schreiben vom sei seitens der Pensionsversicherungsanstalt eine Anfrage an das Arbeitsmarktservice ergangen; im am eingelangten Antwortschreiben des Arbeitsmarktservice sei unter der Rubrik "Bezugszeiten ab " eindeutig das Feld "ja siehe Hauptverband" angekreuzt worden. Auch in der Rubrik "AMS-Meldezeiten" sei das gleichlautende Feld angekreuzt worden. Damit sei für die belangte Behörde ab dem erkennbar gewesen, dass die Beschwerdeführerin nicht durchgehend Beitragszeiten vorweisen könne, sondern auch ein "AMS-Bezug" vorgelegen sei.

Die mitbeteiligte Pensionsversicherungsanstalt hält dem in ihrer Gegenschrift entgegen, dass die genannte Mitteilung des Arbeitsmarktservice (Rubrik "Ja, siehe Hauptverband") nicht zwangsläufig in Widerspruch zu der sodann eingeholten und nachträglich als falsch erwiesenen "Mitteilung" des Hauptverbandes stehen müsse. Kurze Bezugszeiten von Arbeitslosengeld innerhalb eines Kalendermonats müssten sich nämlich gemäß § 231 und § 232 ASVG nicht in der Qualifikation des Versicherungsmonats niederschlagen. Hingegen sei seitens der Beschwerdeführerin das sichere Wissen vorgelegen, dass der dem Bescheid zugrunde liegende Versicherungsverlauf nicht ihr Arbeitsleben wiedergebe.

3. Im Ergebnis kommt der Beschwerde Berechtigung zu.

Zwar kommt ein neuerlicher Computerausdruck des Hauptverbandes der österreichischen Sozialversicherungsträger, in dem entscheidungswesentliche Daten berichtigt wurden, als Grund für die Wiederaufnahme des Verfahrens gemäß § 69 Abs. 1 Z 2 AVG in Betracht (vgl. das hg. Erkenntnis vom , Zl. 83/08/0066). Im vorliegenden Beschwerdefall kann aber nicht gesagt werden, die mitbeteiligte Pensionsversicherungsanstalt habe kein Verschulden daran getroffen, dass der tatsächliche Versicherungsverlauf nicht schon im Verfahren zur Erlassung des Bescheides vom berücksichtigt worden ist.

Anders als etwa eine unverbindliche Mitteilung von beim Hauptverband gespeicherten Daten soll ein Feststellungbescheid gemäß § 247 ASVG dem Versicherten Rechtssicherheit verschaffen. Eine solche rechtsverbindliche Feststellung erfordert auch in einer Verfahrensart, die als Massenverfahren zu charakterisieren ist, ein der Sache angemessenes Ausmaß der Sorgfalt. Daher darf sich der Pensionsversicherungsträger jedenfalls dann nicht mit den vom Hauptverband übermittelten Daten begnügen, wenn diese - für sich genommen oder auf Grund von offenkundigen Widersprüchen zu den zweckmäßigerweise einzuholenden Angaben des Versicherten selbst - auch ohne weitwendige Überlegungen Anlass zu Zweifeln an ihrer Richtigkeit geben mussten.

Dies traf im Beschwerdefall zu: Zum einen konnten schon wegen der aktenkundigen Geburten zweier Kinder keine durchgehenden Beitragszeiten der Beschwerdeführerin vorliegen, zum anderen hätte auch die in der Beschwerde hervorgehobene Mitteilung des Arbeitsmarktservice betreffend Bezugs- und Meldezeiten nach dem AlVG zumindest Zweifel hervorrufen und weitere Ermittlungen nach sich ziehen müssen, mag sich der Widerspruch zum beim Hauptverband gespeicherten Versicherungsverlauf auch nicht "zwangsläufig" ergeben. Angesichts der dargestellten Unstimmigkeiten hätte die mitbeteiligte Pensionsversicherungsanstalt weitere Ermittlungsschritte, insbesondere eine ergänzende Befragung der Beschwerdeführerin zu ihrem Versicherungsverlauf, setzen müssen.

Im Beschwerdefall ist somit ein Verschulden der mitbeteiligten Pensionsversicherungsanstalt zu bejahen, das die amtswegige Heranziehung des Wiederaufnahmegrundes gemäß § 69 Abs. 1 Z 2 AVG ausschließt. Darauf, ob die Beschwerdeführerin die Unrichtigkeit des dem Feststellungsbescheid zugrunde gelegten - ihr erst mit diesem Bescheid zur Kenntnis gebrachten - (verdichteten) Versicherungsverlaufs hätte erkennen müssen, kommt es dabei nicht an.

4. Der angefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufzuheben.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm. der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

Wien, am